Ansprache von Rabbi André Zaoui Direktor des Internationalen Instituts für hebräische Studien Paris Für eine Weltgemeinschaft der Religionen Im heutigen allgemeinen Wetteifer auf den Gebieten
der Technik, der Wissenschaften und des Militärwesens scheinen die Menschen so
weit gelangt zu sein, daß sie an den sittlichen und geistigen Werten zweifeln
und unfähig sind, nur das Gute, die Eintracht und die allgemeine Bruderliebe in
der Welt zu fördern. Wiederum treten Interessen zutage, welche die Nationen entzweien
und sie insgeheim und unmerklich zu Grunde richten. Natürlich hat man oft gehört, unsere Menschheit
müsse jene Kinderkrankheiten - so nennt man blutige Revolutionen und Kriege -
durchstehen. Dennoch kann unsere Generation nur schwerlich vergessen, was der
zweite Weltkrieg mit sich brachte, sei es auf den Schlachtfeldern oder in den
zerstörten Städten, wie auch in Bezug auf die Vernichtungslager und Gaskammern.
Zweifellos läßt sich der Wahnsinn, gepaart mit den sogenannten
Kinderkrankheiten, bei primitiv eingestellten Menschen denken, welche die hohe
Stufe der Technik und Wissenschaft unserer Zeit nicht erreicht haben. Andererseits wird heute erkannt, daß in Asien
Millionen und Abermillionen Menschen eine Hungersnot bevorsteht, und daß diese
bedrückenden Umstände zufolge der zu erwartenden Zunahme der Weltbevölkerung
rasch um sich zu greifen drohen. Es ist gesagt, die Zeit der Kolonialisierung sei
vorbei. Dennoch wird festgestellt, daß die Unabhängigkeit der Völker nur in der
gegenseitigen Abhängigkeit möglich sei. Man sieht, die Menschen müssen sich
entweder einigen, oder sie kommen um. Aber die Menschheit will weiterleben und
in ihrer Entwicklung fortschreiten. Also gibt es keine andere Wahl als die
Einigung aller Menschenkinder. Das Zustandekommen einer solchen Einigung hält
noch schwer, weil de Wahl des Weges schwierige Fragen aufwirft, selbst wenn das
vorgesteckte Ziel von allen als eine Notwendigkeit erkannt wird. Seit zwanzig Jahren, das heißt seit Kriegsende, sind
zahlreiche Organisationen internationalen Charakters gegründet worden, und als
erste die Organisation der Vereinten Nationenen und deren edle Abzweigungen wie
Unesco, F.A.C., O.M.S. usw. Die U.N. hat glücklicherweise immer mehr an
Bedeutung gewonnen, da die Zahl ihrer Mitglieder auf das Doppelte angewachsen
ist und ihre Ausschüsse überdies eine beträchtliche Anzahl von Konflikten
beigelegt oder eingeschränkt haben. Desgleichen sind die Leistungen der Unesco,
F.A.C., O.M.S. wohlbekannt und man darf sich über die bemerkenswerten Fortschritte
der Nationen bezüglich ihrer inneren Aufgliederung und ihrer sozialen und
internationalen Einigung freuen. Dessen ungeachtet verfügen die Völker in ihrer
Gesamtheit über ein noch unerforschtes Kapital, ihre inneren Reichtümer,
nämlich über all ihre sittlichen und religiösen Werte, die ihr geistliches
Leben ausmachen. Wenn dieses geistliche Leben im Dienste des Weltfriedens und
der allgemeinen Bruderliebe stünde, dann würden sich den
Verwaltungsorganisationen der Vereinten Nationen neue Wege erschließen, da
letzteren schließlich ein im Wesentlichen politischer Charakter eigen ist. Und
diese Wege würden somit zweifellos die Völker der Erde zum Vertrauen, zu einem
Gemeinschaftlichkeitsgefühl und zum Frieden führen helfen. Der Westen hat sich immer mehr für den Osten,
besonders den fernen Osten, interessiert; ich meine damit, für die östlichen
Religionen, deren heilige Schriften einer spirituellen Richtung folgend, die in
vielen Punkten der der biblischen Offenbarung ähnlich ist. Außerdem weisen die
asiatischen Religionen eine sehr hohe Spiritualität auf, gleichwie die
geoffenbarten Religionen der Bibel und des Korans. Sie wissen von vielen
ehrwürdigen Geistlichen, Mönchen, Lamas und Heiligen gleicher Duldsamkeit und
Großmütigkeit, wie man sie auch bei den Juden, Christen und Moslems vielfach
findet. Es wäre daher zu wünschen, daß sich in nächster
Zukunft die geistlichen Häupter aller Religionen des Ostens und des Westens an
einem Tisch zusammenfinden möchten. Es ist von großer Wichtigkeit, daß die Idee
einer ständig beratenden Gemeinschaft der Religionen, gleich der Organisation
der Vereinten Nationen, Form annimmt, mit eigenen Verwaltungsräten und
Ausschüssen, und mit den hohen internationalen Instanzen zusammenwirkt. Eine solche Organisation der Religionen muß noch
gegründet werden. Sie würde weltliche und geistliche Vertreter aller Religionen
in sich schließen und ihren Sitz an einem für die Geistigkeit bekannten,
zentralen Ort haben. Sie würde zur Annäherung der Völker auf sittlichem und
geistigem Gebiet durch weitgehendes Beachten des allen Nationen gemeinsamen
Grundprinzips beitragen: Den Nächsten anzuerkennen und ihn zu lieben, und indem
aus ihren Lehren und Satzungen jeder Keim von Haß, Mißachtung, Unduldsamkeit
ausgeschlossen wird. Die Religionen würden einander kennen lernen, um ihren
eigenen Gäubigen die Prinzipien der Nächstenliebe und der allgemeinen
Bruderliebe zu lehren. Kurz gesagt, die Weltgemeinschaft der Religionen könnte
über die Wahl der Mittel beraten, Frieden unter den Menschen zu erlangen. Die
Vereinten Nationen als wirtschaftliche und soziale Macht geben trotz gewisser
Schwächen ein schönes Beispiel von Einigkeit und Gleichheit, da in den
Sitzungen große und kleine Nationen mit gleichen Rechten ihre Beschlüsse
fassen. Es bleiben also noch die Religionen, seien sie
geofffenbart oder nicht, und ungeachtet der Zahl ihrer Gläubigen, daß sie
einander dulden nd als gleichberechtigte Partner einigen. Eine große,
weltumfassende Familie bildend, sollten sie unermüdlich bestrebt sein, eine auf
Gerechtigkeit und internationalem Frieden geordnete, auf sittlicher und
geistlicher Erziehung durch Erkenntnis und Liebe beruhende Gesellschaft
aufzubauen. Durch ihre Arbeitstagungen wird diese Weltgemeinschaft der
Religionen allen Völkern zum gemeinsamen Ideal einer ausgesöhnten und in Gottes
Licht geeinigten Menschheit vorwärts helfen. Die Wohltaten einer solchen Gemeinschaft werden von
großem Ausmaß sein, denn der gute Wille, das brüderliche Beisammensein und die
dadurch veranlaßte und begünstigte Aussprache wird alle Menschen zur Ausübung
einer unbefangenen Gerechtigkeit, einer wohltätigen Bruderliebe allen gegenüber
führen. Die Menschheit wird endgültig ihre Kinderkrankheiten, als da sind
Furcht, Kirchenbann, gerichtliche Willkürverfahren, Diskrimination,
Verfolgungen, Religionskriege und Weltkriege überwinden. Somit wird sich dank
der Weltgemeinschaft der Religionen im Zusammenwirken mit der Organisation der
Vereinten Nationen und ihrer internationalen Zweige die nun erwachsene
Menschheit hoffnungsvoll und im Lichte ihrem Schaffensdrang hingeben dürfen. Es genügt nämlich nicht, Hunger, Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Analphabetentum etc. abzuschaffen, sondern es muß vor allem dem
Menschenherzen möglich werden, sich dem Lichte der Erkenntnis und der Liebe zum
Ewigen zu erschließen, das heißt, der Liebe zu den ewigen Werten, welche Leben,
Frieden und Freude hervorbringen. „Der Mensch lebet nicht vom Brot allein, sondern von
allem, das aus dem Mund Gottes gehet.“ (Deut. VIII - 3.) |