Ansprache von Prof. Dr. Anton Antweiler Religion und Naturwissenschaft 1. Der Ausgangspunkt. Beginnen wir gleich damit,
kühn zu sein, nämlich zu versuchen, die Gegenwart und Zukunft je in einem Satz
zu kennzeichnen: Die Gegenwart ist bestimmt durch die Technik, und das bedeutet
durch die Naturwissenschaft, und die Zukunft wird bestimmt sein durch die
Religion. Daß die Gegenwart durch die Wissenschaft und die
sich aus ihr ergebende Technik bestimmt ist, ist offensichtlich: Ernährung und
Kleidung, Wohnung und Werkstatt, Heilung und Erholung, Handel und Wirtschaft,
Verkehr und Gemeinschaft, Frieden und Krieg, Angst und Zuversicht, sie alle
sind in der Weise, wie wir sie erleben, durch die Technik bestimmt, und wir
alle sind nicht geneigt, auf das, was die Technik uns bietet, zu verzichten.
Aber wir alle sind ebenso überzeugt, daß alles, was uns an Wohlstand und
Wohlleben verfügbar ist, nicht hinreicht, um unser Leben lebenswert, und schon
gar nicht, um es liebenswert zu machen. Wir rechnen damit, daß das industrielle
Zeitalter jetzt eigentlich erst anfängt, aber wir alle bangen vor dem, was es
bringen wird, obwohl wir nicht willens sind, bei dem zu verbleiben, was wir
heute haben. Damit aber fragen wir: was nun? Worauf können,
worauf sollen wir uns einrichten? Das aber ist die Frage jeder Religion, wenn
wir den Plural Religionen zulassen wollen, oder, wenn wir nur von verschiedenen
Formen der einen Religion sprechen wollen, die Frage der Religion. Wenn wir
also danach fragen, wie wir morgen und übermorgen leben werden oder leben
wollen, fragen wir danach, wie wir morgen oder übermorgen religiös sein wollen.
Das heißt, wir fragen danach, was Religion für uns, und das heißt, was Religion
überhaupt ist. Auf das uns zu besinnen, wollen wir nun versuchen. 2. Die Religion. So sehr das
Wort Religion, wenigstens im Abendland, uns veranlaßt, an Gott zu denken, so
wenig dürfen wir übersehen, daß der Bereich der Religion der Bereich des
Menschen ist, und, wenn nicht ist, sein soll. Zu diesem Bereich gehört, was dem
Menschen von dem zugänglich ist, was er um sich vorfindet, und, was er in sich
selbst vorfindet. Aus beiden formt er, was wir Religion nennen. Anders ist sie
bei denen, die in den Tropen, anders bei denen, die am Polarkreis, anders bei
denen, die in mittleren Breiten leben, abhängig sowohl von Landschaft und Klima
als auch von Gestalt und Gehalt der Menschen; anders ist die Religion des
Bauern als die des Weltstädters. In den Bereich ds Menschen gehört, was er erlebt,
und was er von dem Erlebten oder wie er das Erlebte ausdrückt. Der Mensch erlebt das Übermenschliche, das, worüber
er keine Macht hat, haben kann oder haben will: in der Natur als Meer und Berg,
als Sturm oder Stille, als zerstörend oder nährend, als plötzliches oder
schleichendes Unheil; in seinen Mitmennschen, in deren Liebe oder Haß, Zorn
oder Fügsamkeit, Hinterlist oder Verläßlichkeit; in sich selbst als Gesundheit
oder Krankheit, als Mühe oder Spiel, als Verruchtheit oder Heiligkeit. Er
erlebt das Schreckliche oder Grausame, das er nicht mehr in der Natur oder in
den Menschen unterbringen kann, das er vielmehr Teufeln oder Göttern, Dämonen
oder Engeln zuschreibt, deren Willkür er nicht durchschaut, aber doch
anerkennt, indem er sich ihnen fügt. Er erlebt das Erhebende in der Schönheit
und Stille eines Morgens oder Abends oder einer Nacht, den Aufschwung zum Guten
und Heiligen in seinen vielen möglichen Formen, das Liebenswerte und
Nachahmungswürdige, das Unversehrte, das Schöne, ja das Unversehrbare und
Heilige. Er erlebt das Liebenswerte, das ihn staunen macht und gefangenhält bei
Pflanzen und Tieren und vor allem bei Menschen, bei den Kleinen und Großen, bei
den Verwandten und Fremden, bei den Geistern und Göttern. Er erlebt das
Erkennbare, indem er einsieht, wie Dinge und Vorgänge miteinander zusammenhängen,
wie er, obwohl er hier ist, weiß, was dort ist und geschieht; er erkennt, daß
es Erkennbares gibt, das man vorweisen kann, und Erkennbares, das man nicht
vorweisen kann, und erkennt vor allem, daß Erkenntnisse nie vorweisbar sind; er
erkennt, was auf der Erde ist, und auch, was am Himmel vorgeht, vor allem, daß
die Vorgänge des Himmels regelmäßiger sind als die auf der Erde; am meisten
bedrückt ihn bei der Erkenntnis, daß er irren kann und immer davon belastet
ist, sich gegen den Irrtum zu schützen, eine Aufgabe, die vorzugsweise der
Religion übertragen oder überlasen wird. Er erlebt das Beherrschbare, an seinem
Körper, an seinen Werkzeugen, an seinen Mitmenschen, das Beherschbare an Tieren
und Pflanzen, und er steigt, obwohl er immer über den gleichen Erdboden geht,
auf zur Herrschaft, die ihn vielen und vielem überlegen macht. Das alles erlebt der Mensch, kann es aber nicht in
sich behalten, sondern ist befähigt und gehalten, es auszudrücken. Das
geschieht durch die Sprache, die immer das untrüglichste Zeichen seiner selbst
ist, trotz aller Lüge und Mehrdeutigkeit der Wörter. Er drückt sich aus in
seinem Verhalten, vielleicht am ehesten und liebsten durch die Macht, die er in
sich verspürt und die er an anderem und anderen ausläßt. Wir sind noch nicht
fein genug organisiert und technisiert, um eine leicht erkennbare Skala der
Macht aufzustellen, die unter Menschen das ablesbar macht, was unter Hühnern
die Hackordung ist. Wie sehr der Machtrausch unbewußt sein kann, ist an kleinen
Kindern leicht abzusehen. Weiterhin drückt der Mensch sich aus durch die
Liebe. Er kennzeichnet sich durch das, was er liebt: das, was Asketen,
Prediger, Propheten um ihres Gottes willen tun; was der Mann für die Frau und
die Frau für den Mann; was die Eltern für die Kinder und die Kinder für die
Eltern; was der König für sein Volk und die Getreuen für den König tun, was ein
Künstler, ein Forscher, ein Dichter für ihre Sache tun, ist gewiß nicht immer,
aber doch vielfach und dann geradezu rührend aus Liebe getan. Zu dem, wie sich der Mensch aus Macht oder aus Liebe
verhält, muß man hinzunehmen, was er aus Demut tut. Sie ist eine Tugend, die
man vorzüglich als religiös empfindet und bezeichnet, die sich aber keineswegs
auf den Bereich beschränkt, den man im engeren Sinne als religiös bezeichnet.
Demütig ist jeder Dienst, wo immer und für wen immer er getan wird: in der
Familie, im Beruf, im Staat, an der Menschheit. Demütig der Dienst des
Forschers, der sich den Dingen und den besseren Erkenntnissen des anderen
Forschers beugt. Demütig der Dienst des Menschen vor sich selbst und an sich
selbst, indem er sich annimmt und nicht dagegen aufbegehrt, daß er Mann oder
Frau, Franzose oder Malai, schön oder häßlich, begabt oder unbegabt ist.
Demütig ist der Mensch, der geschehen lassen und zusehen kann. Zur Sprache und zum Verhalten in Macht, Liebe nd
Demut kommt das Gestalten. Der Mensch gestaltet sich in Gang und Haltung und
Gebärde, in Kleidung und Schmuck, in Wohnung und Beruf. Er gestaltet sich noch
augenfälliger in der Gesellschaft oder als Gesellschafter, aus dem Bedürfnis
heraus, zu lenken oder gelenkt zu werden, zu unterhalten oder unterhalten zu
werden, zu unterstützen oder unterstützt zu werden, zu bändigen oder gebändigt
zu werden, zu schmeicheln oder geschmeihelt zu werden. Bedeutungsvoll mag oft
ein Stifter für die Gemeinschaft sein, der besonders herausragt und dessen
Namen verbindlich für die Gemeinschaft bleibt. Aber notwendig ist das nicht:
immer ist einer wenigstens so weit überlegen, daß die anderen ihn anerkennen
und sie auch nach seinem Tod beisammenbleiben, verbunden durch Blut, Gewohnheit
und Lebensraum. Wie stark Religion und Gemeinschaft ineinander wirken, ist an
allen Theokratien - direkter oder indirekter Art - ablesbar, und daran, daß,
wenn eine bestimmte Religionsform zerfällt, dann auch die Gemeinschaft oder
Gesellschaft unsicher wird, so wie wir es in Afrika, in Indien, ja in Europa
feststellen. Zum Gestalten gehört auch die Kultur. Sie erwächst
daraus, daß der Mensch sich aus dem Jetzt und Hier löst, weil er beides als zu
eng, zu mühsam, zu gefährdet empfindet, und er sich zutraut, das, wenn nicht zu
beseitigen, so doch zu mildern. Gerade in der Kultur gestaltet sich die
Religion augenfällig, weil sie das Ursprüngliche, das Eigentliche erleben macht
und eben darin besteht, weil sie das Dauernde, Umfassende, das Wesentliche
sucht und gibt. So sind immer wieder die Priester die ersten gewesen, die
führten, in der Arbeit jeglicher Art, vom Pflügen bis zum Bauen, im Wissen, vom
Schreiben und Lesen bis zum Rechnen, in der Erkenntnis der menschlichen und
himmlischen Dinge und Vorgänge, im Lehren und Heilgen, Vor-leben und
Vor-sterben. Insbesondere sind sie diejenigen, die aus dem Jetzt und Hier
hinausführen und hinwiesen auf das Dort und Dann, aus dem Engen in das Weite,
vermöge höheren Wissens, ob es nun aus Offenbarung oder eigener Anstrengung
stammt. So fügt sich zum Gestalten das Erfassen in
Erkenntnis und Wissenschaft. Der Erkennende schrickt nicht davor zurück, daß er
die Welt in Subjekt und Objekt spaltet und daß er als Erkennnender unaufhebbar
einsam ist. Er wagt es. Er fügt Erkenntnis zu Erkenntnis und baut die
Wissenschaft als den Versuch, einen Bereich nicht sinnenhaft in den
Gegenständen, wohl aber geistig durch die Erkenntnis zu besitzen und damit zu
beherrschen. Will man wissen, wodurch sich die Formen der
Religion voneinander unterscheiden, so erkennt man unschwer, daß das durch ein
Dreifaches geschieht: durch den Umfang des erlebten Wirklichen, durch die Tiefe
des Erlebens und durch die Dringlichkeit der Verbindlichkeit. Wer die Erde als Mitte der Welt und den Himmel als
eine oder mehrere Schalen oberhalb der Erde betrachtet, erlebt sich anders, als
wird die Sonne in die Mitte rückt, und der wieder anders, für den die Sonne ein
mittlerer Stern im Milchstraßensystem ist, das nur eines von ungezählt vielen
anderen ist. Entsprechendes gilt davon, wieviele Pflanzen, Tiere, Menschen,
Sprachen und Kulturen man kennt. Noch bedrängender wird die Wirklichkeit, wenn
man weiß, daß es eine Antimaterie gibt, welche die unsrige auszulöschen vermag,
wir also über einem Abgrund des möglichen Nichts schweben, wobei wir nicht
wissen, wodurch wir darüber schwebend erhalten werden. Gerade hier setzt der
Glaube an Schöpfung und Allmacht ein. Auch die Tiefe des Erlebens und Erlebten
unterscheidet die Formen der Religion. Manche begnügen sich mit äußerer
Anerkennung und rechtlicher Betätigung, andere fordern, daß der Mensch sich
forme, und die höchsten verlangen, daß der Mensch innerlich mit Gott lebe und
daß er daraufhin beurteilt werde, inwieweit ihm das ernst und wirksam geworden
ist. Besinnliche, vergeistigte, abgelöste Gesichter machen deutlich, bis zu
welchem Grade das möglich und wirksam ist. Je mehr das Erlebte innerlich erfahren wird, um so
mehr wird man es als verbindlich erkennen und bestätigen. Wer nur dem Wort
folgen will, ohne dessen Geist und Sinn erfahren zu haben, tut sich leichter,
als wer darin einzudringen versucht, was er soll, wonach er sich zu richten und
worauf er sich anzustrengen hat. Der eine mag an freundliche Götter glauben,
die alles nachsehen, auch deswegen, weil sie selber die gleichen Gebrechen
haben wie die Menschen, von denen sie angerufen werden. Der andere erfährt, wie
unerbittlich Gott ist, ein verzehrendes Feuer, vor dem man nur bestehen kann,
wenn man sich von dieser Flamme zur Glut entfachen läßt. Was man gern als
puritanische Härte verurteilt, wurzelt weigehend darin, daß man die Größe
Gottes und die Würde des Geistes als unerbittlich verbindlich erlebt. 3. Religion und Wissenschaft. Wenn die Religion
alles Menschliche umfaßt, gehört auch das Erkennen dazu und beeinflußt die
Religion, wenn nicht die Erkenntnis, so doch den Erkennenden, und zwar auf
mancherlei Weise. Die Religion, als Erlebnisbereich des Wirklichen,
bietet dem Menschen denkwürdige Gegenstände, solche, um die es sich lohnt, sich
erkenntnismäßig zu bemühen. Was heißt das: wirklich sein? Wodurch unterscheidet
sich das Sein vom Nichts? Wodurch ist das Seiende seiend, wodurch wirksam,
weswegen und in welcher Weise geschichtet? Ist Gott so wie die Welt? Wenn nein,
wodurch ist er anders? Was und wie groß und wie dauernd ist die Welt? Was ist
der Mensch, was der Geist? Weshalb und wodurch gibt es Leben? Und Tod? Wie kann
der Mensch das alles bewältigen? Damit erkennt man, daß die Religion zugleich mit den
Gesetzen auch die vorausliegenden Ziele gibt. Der Mensch erlebt sich immer als
unfertig, als unvollkommen, als verpflichtet zum Aufstieg. Welchen Weg aber
soll er wählen? Welche Höhe soll er anstreben? Welches Ziel kann für ihn das
letzte sein? Er wird aufgerufen, Mensch zu sein, mit allem, was er daran als
würdig erkennt. Er fühlt sich gerufen, heilig zu werden, unversehrt und
unversehrbar, weniger im Leib als im Geist und in der Gesinnung. Er empfindet,
wie sehr er auf Gemeinschaft angelegt und angewiesen ist, und die
Tischgemeinschaft mit Gott ist immer wieder das Bild, unter dem man sich
sinnvolle Gemeinschaft vorstellt, wenn man nicht das Bild von der Ehe vorzieht,
um die Innigkeit der Verbindung auszudrücken. Das Ziel zu erkennen, liegt allem
Glauben zugrunde und ist eines das die stärksten Kräfte auszulösen,
zusammenzufassen und wirksam zu machen vermag. Die denkwürdigen Gegenstände und die vorausliegenden
Ziele können deswegen aufeinander abgestimmt werden, weil sie einem
einheitlichen Raum angehören. Selbst da, wo man Erde und Menschsein als
möglichst bald zu überwinden sich für verpflichtet hält, selbst da bilden Welt,
Menschen und Endzustand eine Einheit, wenigstens insofern, als die Welt es dem
Menschen ermöglicht, sich aus ihr zu lösen, um sie endgültig zu überwinden.
Weit mehr bietet Religion da einen einheitlichen Raum dar, wo die Erde das Feld
ist, das der Mesch innerhalb der Welt zu bestellen hat, um in der Ewigkeit die
Früchte zu ernten - wenn man dieses Bild für das tiefste Anliegen des Menschen
gebrauchen darf. Aus dieser Einheit wird deutlich, wie hoch die Würde
des Wissens geschätzt wird. Nicht diese, daß der Mensch lebt, ist das
Wichtigste, sondern dieses, daß er um dieses Wissen weiß: daß er um des Wissens
willen vieles andere zurücksetzt, ja, daß er im vollkommenen Wissen das Wesen
Gottes zu sehen geneigt ist. Wissen wird mindestens der Weg in das Leben
hinein, und die Inbrunst, mit der das Wissen gesucht wird, ist gerade auch in
atheistischen Ländern ein Beleg für den unausrottbaren Glauben an den Geist -
woher immer er komme und worin immer er bestehe. Damit erkennt man, was die Religion als Letztes der
Wissenschaft zu geben vermag: sie weist hin auf den Adel des Unbegreiflichen.
Sie läßt nicht davor erschrecken, daß es Unbegreifliches gibt, sondern sie
ermutigt den Menschen, den Blick zu diesem hin zu erstreben. Sie läßt das
Geheimnis als den Urquell alles dessen erkennen und anerkennen und lieben, was
der Mensch als erstrebenswert und lebenswert erfährt und erstrebt. Religion
weiß, daß der Mensch die Utopie braucht, daß ihm nichts langweiliger wird als
das, was er hat, was er kann, was er kennt. Götter, mit denen man als
gleichrangig verkehren kann, sind keine Götter mehr. Umgekehrt ist es gerade
diese Würde, die die Religion dem Menschen zuspricht, daß er sich als Gott
zugehörig betrachten darf, nicht, indem er Gott herabzieht, sondern indem Gott
ihn erheben will, und das gerade macht die Kraft und den Zauber und das Wunder
des Glaubens an die Menschwerdung im Christentum aus. Wo es kein Geheimnis mehr
gibt, kann es auch keine Menschen mehr geben. Daß es jenseits des Todes ein
ewiges Leben gebe ohne Geheimnisse der Art, wie wir sie erleben, das aber ist
es, woran der Christ glaubt, und nicht nur er, sondern auf seine Weise auch der
Hindu und Buddhist. 4. Religion und Naturwissenschaft. Was bisher gesagt
wurde, kann als Vorbereitung aufgefaßt werden zu dem, was nunmehr über Religion
und Naturwissenschaft zu sagen ist. Aber es ist nicht nur Vorbereitung gewesen,
sondern enthält schon das Wesentliche. Jetzt obliegt es nur noch, das zu
verdeutlichen, was gesagt wurde und gemeint war. Als Naturwissenschaft verstehen wir diejenigen
Erkenntnisse, die uns etwas über die Welt aussagen, innerhalb deren wir uns vorfinden,
und sofern sie meßbar ist. Es leuchtet ein, daß die mögliche Naturwissenschaft
mit dem Gottesbegriff und Welterlebnis vorgegeben ist. Wer die Welt als ein
beiläufiges Spiel eines willkürlichen Gottes betrachtet, kann sie nicht als
ernsthaften Gegenstand seines Denkens ansehen. Wer die Welt als etwas erlebt,
das man möglichst bald überwinden soll, wird sich nicht sehr um sie mühen, auch
nicht in der Erkenntnis. Wer die Welt als ein Rad betrachtet, das sich immer in
gleicher Weise dreht, wird sich nicht sonderlich anstrengen, sie in einmaligem
Anlauf zu bewältigen, weil, was er jetzt nicht tut, er ja später tun kann. Wer
Materie als böse und Geist als gut ansieht, wird keinen Geist an die Materie
verschwenden. Wenn dagegen Gott und Welt eines sind, oder wenn die Welt die
Offenbarung Gottes und der Weg zu Ihm hin ist, und wer überzeugt ist, daß er
jede Stunde nur einmal durchlebt, der wird es sich als Versäumnis und Schuld
anrechnen, etwas zu unterlassen, was ihn über seinen Platz in der Welt und seinen
Weg zu Gott hin belehren kann. Das ist im Christentum der Fall. Für dieses gibt es
einen Gott und eine Welt. Der eine Gott schließt aus, daß andere Götter Ihn und
sein Werk stören können, und die eine Welt schließt aus, daß es Wirkliches
gebe, das miteinander unverträglcih ist. Selbst Antimaterie ist mit Materie
ähnlich verträglich, wie es mit positiver und negativer Elektrizität ist. Wo
einem Gott eine Welt zugehört, ist die Grundbedingung erfüllt, daß die Welt
sinnvoll erforscht werden kann. Das wird nach christlicher Auffassung dadurch
erleichtert, daß Gott der Schöpfer der Welt ist. Sie ist also nicht ein Teil
von Ihm, sie ist auch nicht das Werk eines Widergottes, sie ist auch nicht
Hirngespinst oder Gedankending, sondern das Ergebnis dessen, was Er getan hat
und noch tut. Das schließt ein oder setzt voraus, daß der Welt ein Plan
zugrunde liegt und daß sie in bestimmter Weise gemacht ist. Also muß es, wenn
der Mensch geistig und tätig ist, möglich sein, die Gedanken Gottes
nachzudenken und Seine Arbeitsweise nachzuahmen. Das heißt, die Welt ist denk-bar und mach-bar. Das
ist der Grundglaube aller Naturwissenschaft und der mit ihr zusammenhängenden
Technik. Es muß möglich sein, das, was Gott gedacht hat, auch zu denken, und
das, was Er getan hat, auch zu tun - beides im Rahmen des Menschenmöglichen.
Das haben die Naturforscher immer getan und tun es auch heute noch, wenn sie
auch nicht immer sich gegenwärtig halten, daß dem so ist. Es genügt und
entspricht dem, daß sie willens sind, zu entdecken, wie die Vorgänge ablaufen,
um sie nachvollziehen zu können. Und dem widerspricht nicht, daß Leistungen
möglich sind, die es in der Natur nicht gibt, etwa Flugzeuge. Denn die Natur
ist ja nicht ein Fertiges - die Entwicklungslehre zeigt und lehrt das Gegenteil
- sondern ein Vorrat an Energie, die vielerlei Formen und Wirkungen zuläßt, und
wenn der Mensch solche zutage bringt, die es bisher nicht gegeben hat, so hat
er damit nichts Neues geschaffen, sondern, was als möglich vorhanden war,
wirklich und damit sichtbar gemacht. Auf diesem Grunde ruht die ganze abendländische
Naturwissenschaft. Damit sie freilich sich entfalten konnte, bedurfte sie
besonderer Methoden, die bemerkenswerterweise höchstens einzeln anderswo auch
benutzt wurden, aber nicht so zusammengefaßt wie in Europa. Es ist erregend,
danach zu fragen, woran das gelegen hat und liegt. Aber das geschehe jetzt
nicht, sondern nur werde beschrieben, worin sie bestehen. Die erste ist das beharrliche Fragen. Man begnügt
sich nicht, da und dort einmal zu fragen: Was ist das? Wie geht das zu? Wie
kann man das machen? Sondern man fragt etwas und so lange, bis man die Antwort
hat, vielleicht nur auf Zeit, aber doch jeweils genügend. Wie groß ist die
Erde, der Mond, die Sonne, die Milchstraße, das Weltall? Gibt es
Elementarteilchen, und wenn ja, wie viele? Sind es mehrere oder gibt es
letztlich nur eines? Wann entsteht und vergeht Leben? Seit wann gibt es
Menschen? Wieviele Einzelpflanzen, Arten, Gattungen, Klassen gibt es? Wieviele
bei den Tieren? Wohin gehört der Mensch? Was ist Krankheit, was Gesundheit? Wie
kann man Krankheit beseitigen und Gesundheit stärken? Wie sieht die Rückseite
des Mondes aus? Was geht im Innern der Sonne vor? Wie funktioniert die
Himmelsmechanik? Diesen Fragen folgt das umfassende Erleben. Man
spekuliert nicht oder nur behelfsweise. Man fragt: Wo kann ich das Erfragte
sehen und prüfen? Man schärfte die Sinne mit Instrumenten. Aber damit begnügt
man sich nicht. Wo die Erfahrung nicht „rein“ genug ist, sorgt man dafür, daß
sie „rein“ wird; durch das Experiment. Man zwingt der Natur eine Frage auf und
trotzt ihr eine Antwort ab. Ist Licht Welle oder Korpuskel? Wieviel Kalorien
braucht der Mensch zum Leben? Was außerdem? In welcher Menge und
Zusammensetzung? Das Experiment beweist eindringlich und immer neu, daß die
Welt nicht theoretisch ableitbar ist, sondern nur durch Erfahrung kennengelernt
werden kann, und dazu gehört auch der Mensch. Was durch Fragen und Erleben erkannt wurde, wäre nur
ein unübersehbarer Wirrwarr, wenn es nicht gelänge, das Erkannte vereinfachend
zu beschreiben. Das wird um so notwendiger, als Worte oft zu umständlich oder
zu ungenau oder zu veränderlich oder alles das zusammen sind, als daß sie
imstande wären, einfach zu beschreiben. Außerdem sind Worte an eine bestimmte
Sprache gebunden, und nicht jeder versteht jedes anderen Sprache, zumal der
Naturforscher ohnehin schon belastet genug ist, als daß man ihm zumuten könnte,
auch noch alle möglichen Sprachen zu lernen. Man hat eine Sprache gefunden, die
in sich selbst bemerkenswert ist und studiert wird, aber außerdem auch
geeignet, andere Bereiche zu beschreiben: die Mathematik. Ohne sie wäre weder
der Aufschwung der Naturwissenschaft und noch viel weniger der der Technik
möglich gewesen. Was mit Hilfe der Zahlen für jeden Kundigen verständlich und
eindeutig und für alle Zeiten unveränderlich gesagt werden kann, ist mit Worten
nicht ausdrückbar. Freilich ist das eines der Wunder unserer Welt, daß dem so
ist. Aber nachdem das erkannt war, hat man es ausgiebig benutzt, und ein
Lehrbuch der modernen Physik sieht weit eher wie ein mathematisches denn wie
ein physikalisches Buch aus. Die Zahlen ermöglichen auch, allerdings nicht nur,
Gesetze zu formulieren, derart, daß man durch sie sparend zusammenfassen kann.
Ein Vorgang gilt erst dann als erkannt und beherrschbar, wenn er solcherart als
Gesetz gefaßt werden kann. Selbst wenn der Vorgang nicht immer gleich abläuft,
ist man eher bereit, einen Spielraum der Wahrscheinlichkeit zu ertragen als auf
ein Gesetz zu verzichten, und es erweist sich, daß immer mehr Bereiche
solcherart erfaßt werden, von denen man es früher nicht geahnt hatte, etwa das
Verhalten der Menschen, besonders bei Krankheiten, aber auch allgemein in der
Gesellschaft. Das sparende Zusammenfassen wird noch dadurch erleichtert,
daß man erklärendes Deuten einbezieht. Man bedient sich dazu der Axiome und
Konstanten. Zu den wirksamsten Axiomen gehört die Hypothese von der Existenz
der Außenwelt sowie das andere von der Allgemeingültigkeit der Kausalität. Das
erste ermöglicht es, auf die Sachlichkeit der Erkenntnisse zu vertrauen, das
zweite darauf, daß wir über die Erde hinaus zu erkennen vermögen. Dazu kommen
speziellere Axiome, etwas das von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Der
Konstanten gibt es viele: das spezifische Gewicht der Elemente, ihre Affinität,
die Gravitationskonstante, das mechanische Wärmeäquivalent und die vielen
Meßeinheiten, die man zwar willkürlich, aber doch sachgemäß festgesetzt hat. Diese Methoden, jeweils angemessen kombiniert, haben
sich in Westeuropa als so wirksam herausgebildet, daß sie heute überall
unangefochten gelten, wo man Naturforschung betreibt und Technik handhabt.
Inwieweit in diesem Erfolg die Eigenart und der Eigensinn der beteilligten
Völker wirksam geworden sind; inwieweit deren Denkungsart übertragbar ist; ob
mit dieser Anstrengung der Forschung die biologische Substanz angegriffen oder
vermindert oder vielleicht vermehrt worden ist, das sind sorgenvolle Fragen,
die uns mit dazu veranlassen, danach zu fragen, wie denn Religion und
Naturwissenschaft miteinander zusammenhängen. Sieht man in Europa schon nur auf
die Antike, in Asien auf die Gebiete des Buddhismus, so wird offensichtlich,
daß man manches gewußt und gekonnt, aber nicht verwertet hat, also auch, daß
man sich für manches den Blick versperrt hat. Um so mehr liegt uns daran, einen
Ausblick zu wagen, was denn in Zukunft erwartet und, vor allem, was von uns
getan werden kann, besonders auch im Hinblick auf und im Dienst der Religion,
das will sagen, für die Menschen. 5. Ausblick. Vor allem gilt es,
sich deutlich zu machen, daß die Naturwissenschaft nicht die Wissenschaft
einfachhin ist. Es gibt Gebiete, die ihre unerreichbar sind. Dazu gehört vor
allem die Mathematik. Es ist durchaus eine Welt denkbar, in der es keine Naturwissenschaft,
weil keine Materie gibt, wohl aber eine Mathematik, und daß beide in dieser
unserer Welt aufeinander bezogen werden können, ist eines der Wunder, über die
wir zu selten staunen. Entsprechendes gilt von dem Recht; auch bei ihm ist ein
Wissen um Recht nicht notwendig an ein Wissen um die Materie gebunden, und das Gleiche gilt für die Wissenschaft
vom Schönen. Wir sind freilich gewohnt, Recht und Schönheit als auch an die
Macht gebunden gelten zu lassen, und wir möchten keineswegs auf die Schönheit
verzichten, die uns innerhalb der sichtbaren Welt entgegentritt und uns
gefangen nimmt, zuweilen sogar betört. Doch können wir dem nicht zustimmen, daß
das Rechte und Schöne mathematisierbar seien. Das führt uns einen Schritt weiter: Wissenschaft und
Leben sind nicht das Gleiche. Die Wissenschaft kann nur einen Teil dessen
umfassen, was wir erleben, und oft genug sind wir versucht, diesen erfaßten
Teil als den weniger gewichtigen anzusehen. Jedenfalls aber kennen wir die
Macht des Irrationalen in Herz und Gemüt, entzückend und bezaubernd,
berauschend und verführend, entrückend und zerstörend, gehaßt und geliebt und
immer vom Zauber und Wunder des Geheimen, des Unzugänglichen, des
Unvergänglichen und Ewigen umweht und durchzittert. So sehr die Wissenschaft
das Irrationale zu bändigen versucht und dabei oft erfolgreich ist, insgeheim
glauben wir nicht daran, daß sie dabei endgültig siegen wird. Das Leben ist
mächtiger, schon weil es unberechenbar ist. Dieses Leben gibt es nur in einzelnen, die lebendig
sind. Und das wissen wir nur zu klar und sicher: die Menschen sind gestaffelt,
nach Erlebnisfähigkeit, nach Erkenntnisfähigkeit, nach Tragfähigkeit. Denen, die sich an der Mathematik berauschen können,
stehen diejenigen gegenüber, die sie als trocken verschrien. Denen, für die
Gott als Person unbezweifelbar ist, widersprechen diejenigen, die Ihn
mindestens als unerkannt, wenn nicht als erfunden bezeichnen. Denjenigen,
welche alle Menschen als Brüder umfassen wollen, stellen sich diejenigen
entgegen, denen der Mensch das ärgste Raubtier und der verschlagenste Feind
ist. Denjenigen, die über dem Sternenhimmel oder einem Gedicht sich selbst
vergessen können, mißtrauen diejenigen, denen Wein und Schinken wichtiger sind.
Wer über den Tod eines Menschen trauert, über Tage oder Monate hin, wird von
dem verlacht, der nach dem Begräbnis sich gütlich tut. Wer darüber sinnt, was
Gott und Welt und Mensch sind, und wer durch die Trauer des Menschseins
gekennzeichnet ist, gilt als nicht annehmbar für den, dem jeder Tag voller
Genuß und Begierde ist. Gestaffelt sind die Menschen auch nach der
Erkenntnisfähigkeit. Obwohl der Mensch ein Augentier ist, gibt es doch solche,
die mehr hören und tasten als sehen, und Entsprechendes gilt für den geistigen
Bereich, besonders dann, wenn es sich nicht nur darum handelt, Einzelnes
festzustellen, sondern es in seinem Zusammenhang einzordnen. Dem einen fällt es
leicht, Wurzeln aufzuspüren und Verzweigungen wahrzunehemen, der andere hat
Mühe, überhaupt festzustellen, daß da etwas ist. Wert und Geltung oder Macht
und Menschlichkeit oder Geld und Gerechtigkeit oder Gewinn für den einzelnen
und Gedeihen für das Ganze sind Gegesnstände oder Begriffe oder
Verhaltensweisen, an denen man leicht erkennt, wie sehr sich Einzelne, Gruppen,
Stände, Völker unterscheiden, je nachdem, was davon sie jeweils erkennen und
anerkennen. Weitblick und Einsicht sind treffende Ausdrücke für diese
Tatsachen, die oft nur schwer feststellbar und noch schwerer ausdrückbar sind. Zu der Erlebnisfähigkeit und Erkenntnisfähigkeit
kommt, wahrscheinlich als deren Grundlage und Kraft, die Tragfähigkeit. Wie
jeder nur eine bestimmte Menge an Gewicht tragen kann und deren Grenze nicht
beliebig nach oben verschieben kann, so vermag jeder nur ein bestimmtes Gewicht
an Lebendigkeit, an Erlebnis und Erkenntnis zu tragen. Wie mancher bricht
darunter zusammen, daß er von dieser und nicht von jener Herkunft ist, oder
darunter, daß er den Anforderung des Berufes oder der Familie nicht gewachsen
ist; oder darunter, daß er seinen Körper als krank oder schwach erkennen muß;
oder darunter, in einer Zeit zu leben, die nicht seinem Stil oder Würdegefühhl
entspricht; oder auf eine Weise seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, die
ihm zuwider ist; oder einen Lebensstil wahren zu müssen, der ihm ungelegen ist
und manchmal bis an die Grenze der Heuchelei führt; oder Formen der Religion um
sich zu sehen und womöglich vollziehen zu müssen, die er als überlebt und
unzulänglich ansieht. Der eine vermag eine Familie zu umfassen und ist damit
ausgefüllt, der andere braucht ein ganzes Volk, um seine Kräfte sich auswirken
zu lassen; der eine freut sich des Tages und der andere greift über Jahre und
Jahrzehnte nach vorwärts. Das alles gilt es zu bedenken, wenn man danach
fragt, wie wir uns heute und morgen und übermorgen zu Religion und
Naturwissenschaft verhalten sollen, nicht nur wir, die hier versammelten,
sondern die Menschen, für die alle wir zu denken versuchen. Es geht um Religion und Naturwissenschaft, also
nicht um Kirche oder Theologie und Naturwissenschaft. Wäre dem so, könnten wir
nicht so weiträumig denken. Denn bei der Kirche muß man stets mit dem Eigennutz
der Organisation und bei der Theologie stets mit dem Eigensinn der
Unbelehrbaren rechnen, wobei sich der Eigennutz gegen die Nichtkirchlichen und
der Eigensinn gegen andere mögliche und wirkliche Erkenntnisse oder
Glaubenssätze abhebt. Bei der Religion dagegen umfaß man den ganzen möglichen
Bereich des Menschlichen, und deswegen war es möglich, sowohl die Religion in
diesem ganzen Bereich sich gründen und auswirken zu lassen, als auch möglich,
der Naturwissenschaft innerhalb dieses Ganzen einen Sinn, eine Aufgabe und eine
Grenze zu geben, also Religion und Naturwissenschaft so aufeinander zu
beziehen, daß sie als zugehörig und zugeordnet betrachtet werden können und
müssen und nicht als fremd oder feindlich. Fragen wir nun, was wir als Aufgabe erkennen, so
können diese Hinweise als angemessen und sinnvoll angesehen werden: wir müssen
offen sein für alles Wirkliche, bereit zur Begegnung mit jedem, mutig auch vor
dem und für das Unwahrscheinliche, verantwortungsbereit für alles, was wir tun
und erleiden, und stets willens, immer erneut zu fragen, nach uns und nach den
Grundlagen unseres Daseins. Wenn wir für alles Wirkliche offen sein sollen, so
ist gemeint, daß nicht wir darüber bestimmen, ob etwas ist, wie es ist und wozu
es ist, sondern daß wir nichts anderes tun können, als mit offenen Augen und
tastenden Händen durch die Wirklichkeit zu wandern, um uns stets neu darüber zu
verwundern, was alles es gibt. Wenn es elektromagnetische Wellen gibt, auch
ohne daß wir Organe dafür haben, sie unmittelbar festzustellen, so gibt es sie
eben, und wir haben uns danach zu richten. Wenn die Erde nicht Mitte der Welt
ist und die Sonne nicht Mitte der Milchstraße und die Milchstraße - vielleicht
- nicht Mitte des Weltalls, dann mögen wir es beklagen, können es aber nicht
ändern, und je entschlossener wir alles anerkennen, was wir vorfinden, um so
wirksamer werden wir selbst. Was alles, etwa in der Antimaterie und jenseits
ihrer, auf uns an Erkenntnissen zukommt, wissen wir nicht, wohl aber, daß wir
uns dagegen nicht sperren dürfen und daß wir es nicht ändern können. Keine
Kirche und keine Theologie kann dem Wirklichen verbieten, zu sein und so zu
sein. Es ist ausschließlich eine Frage der Erfahrung und nicht der Spekulation,
den Bereich des Wirklichen auszukundschaften. Eine besondere Weise dieser Offenheit allem
gegenüber ist es, bereit zu sein, jedem zu begegnen. Wir wissen, wie sehr wir
darunter leiden, daß Konfessionen und Kirchen und Glaubensbekenntnisse sich
gegeneinander stellen, sich zu mindern und auszulöschen versuchen. Wir wissen
inzwischen auch, wie sehr wir uns alle damit gegenseitig schädigen und wie sehr
wir damit gegen den Reichtum des Menschlichen, gegen die Größe des Wirklichen
und gegen den möglichen Spielraum der Deutung sündigen. Wir leiden unter dem
Gegensatz zwischen Osten und Westen oder Reich und Arm, wie wir es kurz
ausdrücken. Wir ahnen aber auch, daß das nicht unabänderlich ist und gestehen
zu, daß, wie der eine das Recht hat, so zu sein, der andere das Recht hat,
anders zu sein, und daß wir uns zu bemühen haben, nicht nur nebeneinander,
sondern miteinander zu leben. Wie das möglich ist, dazu hat ebenso die Religion
wie die Naturwissenschaft beizutragen, die eine gesinnungsmäßig, die andere
verfahrensmäßig. Mehr noch, als es schon der Fall ist, müßten wir uns klar und
verbindlch machen, daß wir nirgendwo verkürzen oder verengen oder vermindern
dürfen, wo es uns möglich ist, zu verlängern, auszuweiten oder zu vermehren.
Offenheit des Geistes und des Herzens, Offenheit des Menschen dem Menschen
gegenüber ist das Gebot der Stunde. Wer offen und bereit ist, kann und muß auch mutig
sein. Diesen Mut brauchen wir nicht nur allem gegenüber, was wir jetzt
vorfinden und erleben, sondern weit mehr noch allem gegenüber, was als
unwahrscheinlich gilt. Wie vieles Unwahrscheinliche haben wir schon erkannt und
immer noch nicht verarbeitet: die Abstammung des Menschen, die Relativität der
Maßstäbe, die Quanitifizierung von Materie und Energie, die Identität von
Materie und Energie, Die Doppelnatur des Lichtes als Welle und Korpuskel, die
Virulenz des Atheismus, die Manipulierbarkeit des Menschen. Was noch
bevorsteht, ahnen viele nur mit Furcht. Aber diese Furcht darf nur eine
Ehrfurcht vor dem Wirklichen, nicht eine Flucht vor ihm sein. Wer nicht den Mut
hat, vor allem Wirklichen zu bestehen, hat auch keine Kraft, in die Zukunft
hineinzugehen. Hier haben wir nach dem Vorrat an Vitalfundus zu fragen, welcher
der Menschheit, den führenden Männern, den überlegenen Völkern verfügbar ist,
und diese Frage ist noch kaum gestellt, geschweige denn, daß man ein Kriterium
habe, wonach man den Vitalfundus beurteilen kann. Vielleicht ist es nur eine andere Form oder nur ein
Ausfluß des Mutes, wenn auch Verantwortung oder Verantwortlichkeit gefordert
wird. Wir müssen willens sein, für alles die Folgen auf uns zu nehem, was wir
getan haben und was wir tun, und vor allem für das, was wir tun werden. Wir
beklagen es, wie sehr viele darauf aus sind, Schuldige zu suchen, zu denen sie
nie selbst gehören. Der Staat, die Kirche, die Regierung, die Partei, die
Schule, die öffentliche Meinung, die Presse, die Werbung sind nur einige von
denen, die wir dafür verantwortlich machen, daß es uns schlecht geht, ohne
darüber nachzudenken, inwiefern wir selbst die Schuldigen sind, die Schwachen,
Faulen und Feigen. Sozialismus und Kommunismus wären bei weitem nichts so
wirksam, wenn sie sich nicht dieses Bestrebens bedienen und seine Nutznießer
sein könnten. Damit wird das echte und gesunde Anliegen beider Auffassungen
verfälscht, mißbraucht und unwirksam gemacht. Freilich ist zu fragen, inwieweit
der einzlne imstande ist, den Anforderungen unserer Gegenwart und Zukunft
gewachen zu sein, und hier wieder stoßen wir auf die Frage nach dem
Vitalfundus, der physischen und geistigen Spannkraft. Mindestens ergibt sich
aus der Frage die Forderung, diese Spannkraft nicht mutwillig zu zerstören, wie
es heute weitgehend geschieht, etwa durch Genußmittel und Vergnügen. Religion und Naturwissenschaft können nur lebendig,
und das heißt, fruchtbar sein, wenn wir stets bereit sind, immer erneut zu
fragen nach Gott: ob Er ist, wie Er ist und wie wir Ihm begegnen; nach der
Welt: was sie ist, wie groß sie ist, wo wir in ihr stehen; nach dem Menschen:
was er ist, was er soll, wie er seiner Aufgabe in der Welt vor Gott genüge. Zu
fragen nach der Gnade: nach dem Geschenk des Daseins, des Lebens, des Geistes,
in allen Höhen und Weiten und Abgründen; nach der Offenbarung: wie sie
geschieht, was sie sagt und was sie bedeutet. Zu fragen nach dem Glauben: was
er ist, woraus er lebt, was er leistet; nach dem Wissen: was es ist, wie es
sich zum Glauben verhält, was es umfassen kann und wozu es uns verpflichtet. Zu
fragen nach dem Handeln, das aus Glauben und Wissen erfließt: was es leistet,
wonach es sich richtet, wie es sich verbindet, wo es seine Grenzen hat. Zu
fragen nach der Kirche: was sie ist, woraus sie lebt, was wir ihr schulden, wie
sie uns Gott und Welt erlebbar, verständlich, erträglich und liebenswert macht;
nach dem Priestertum: worauf es gegründet ist, worin es sich zu bewähren hat,
was es zu leisten hat und wie es sich in den Dienst einordnet, den sich alle
Menschen gegenseitig schulden. Blicken wir zurück: es ging nicht darum,
Streitpunkte zwischen Kirche oder Theologie und Naturwissenschaft abzuhandeln;
sie alle beruhen auf einer Grenzüberschreitung und sind vermeidbar. Es ging
darum, die gemeinsamen Wurzeln, das gemeinsame Anliegen und die verschiedenen
Bereiche zu kennzeichnen, die mit Religion und Naturwissenschaft gegeben sind
und nur vom Menschen her einander zuzuordnen sind. Blicken wir vorwärts: es geht darum, uns Vertrauen
darin zu geben, daß wir als Menschen einer Aufgabe in einer Welt zu genügen
haben, die wir - als Welt und als Aufgabe - nicht genug bewundern und nicht
dankbar genug würdigen und nicht gewissenhaft genug versuchen, auf uns zu
nehmen - en haut et en avant, wie Teilhard de Chardin von sich selbst forderte
und allen als Aufgabe vor Augen stellte. |