Rom

Eigentlich war der Bericht hier zu Ende. Der Meister flog von Paris aus nach England und von dort aus in die Vereinigten Staaten, wo Er sich knapp drei Monate lang aufhielt. Am 11. Dezember verließ Er die USA und flog weiter nach Mittel- und Südamerika. Nach dem ursprünglichen Programm sollte Er dort bis zum 31. Dezember acht Städte besuchen. Anschließend waren drei Wochen für Afrika vorgesehen und dann noch zwei Wochen innerhalb Asiens - für Bangkok und Malaysia - bis Er dann schließlich Anfang Februar nach Delhi zurückgekehrt wäre. Aber es kam anders ...

Am 16. Dezember traf bei Frau Fitting die Nachricht ein, daß das Reiseprogramm des Meisters in Südamerika abgebrochen würde und der Meister am 28.12. von Caracas/Venzuela aus nach Rom abfliege. Nach einem dreitägigen Aufenthalt in Rom werde Er nach Delhi zurückkehren. So bestehe für die Satsangis in Europa die Möglichkeit, Ihn in Rom noch einmal wiederzusehen.

Also auf nach Rom!

Die Nachricht wurde schnellstens überall in den Gruppen verbreitet, damit jeder noch genügend Zeit hatte, die notwendigen Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Wie wir später in Rom sahen, war es den meisten möglich geworden, zum Meister zu kommen.

Ich flog zusammen mit einigen Satsangis aus Köln, Bonn und Düsseldorf mit einer Maschine, die um 12:35 Uhr am „Leonardo da Vinci“-Flughafen in Rom ankommen sollte, eine Viertelstunde später als die Maschine des Meisters.

Oft kam mir während des Fluges der Gedanke: Wenn wir jetzt nach vier Monaten dem Meister wieder gegenüberstehen, hatten wir uns da inzwischen sehr verändert? Konnten wir mit dem guten Gewissen zu Ihm kommen, nun wirklich aufgewacht zu sein und mit der Arbeit an uns selbst begonnen zu haben? Hatten wir uns nach besten Kräften bemüht, nach Seinen Geboten zu leben? Dann mußte ich daran denken, welche Strapazen der Meister unseretwegen auf sich genommen hatte. Er hatte das ja nur für unseren spirituellen Nutzen getan. Hatten wir Sein Geschenk angenommen und Gewinn daraus gezogen? Würden wir Ihn diesmal besser verstehen und mehr aufnehmen können? Welcher Gedanke, daß der Meister jetzt käme und sich darüber freuen könnte, daß wir ihm seit damals alle näher gekommen wären!...

Wir landeten planmäßig in Mailand, wo wir die Maschine für 40 Minuten verlassen mußten. Von hier aus dauerte der Flug noch etwa eine Stunde. Als wir in Rom gelandet waren, hielten wir sofort Ausschau nach der Maschine, mit der der Meister gekommen sein könnte. Und kaum waren wir in einen der Flughafenbusse eingestiegen, als auf einmal jemand neben uns flüsterte: „Dort vorn in den Bus ist Er gerade eingestiegen!“ Am Flughafengebäude sahen wir dann auch schon von weitem die Begleiter des Meisters. So mußte diese Maschine gerade so viel Verspätung gehabt haben, daß sie genau vor der unseren (die fünf Minuten zu früh angekommen war) landete. Schnell und ohne ein Wort zu sprechen, gingen wir vom Bus aus in das Flughafengebäude, wo wir auch schon mitten in der geräumigen Halle einen Kreis dicht gedrängter Menschen erblickten. Als wir nahe herangekommen waren, sahen wir den Meister, wie Er in der Mitte stand und schweigend Seinen Darshan gab.

In Seinem unendlich liebevollen Gesicht konnte man nicht die geringste Spur von den gewaltigen Anstrengungen erkennen, die Er gerade hinter sich hatte. Es ging nur Frieden und Heiterkeit von Ihm aus.

Als Frau Fitting sich zu uns stellte, kam Harcharan gleich zu ihr und zog sie mit nach vorn zum Meister, der, wie er sagte, schon auf sie wartete. Der Meister begrüßte sie auf eine so herzliche und liebevolle Weise, daß man es einfach nicht beschreiben kann. Er schien sich sehr zu freuen, sie wiederzusehen.

Er blieb noch einige Minuten stehen, bis Er schließlich zusammen mit Seinen Begleitern der Formalitäten wegen zum Zollschalter gehen mußte. Hier stellte sich heraus, daß erst noch Visa für den Meister und Seine Party ausgestellt werden mußten. Hier verloren wir ihn aus den Augen. So gingen wir zum Ausgang des Gebäudes, wo die meisten Satsangis auf den Meister warteten- sicher über 150! Es war ein malerisches Bild: Überall standen Gepäckstücke herum, junge Leute hatten sich auf den Boden gesetzt, eine Mutter neben mir fütterte gerade ihr weinendes Baby. Es war ganz eigenartig - mit wem man auch ein paar Worte sprach, alle hatten einen bestimmten Glanz in den Augen.

Frau Fitting erzählte nachher, daß, während sie bei der Zollabfertigung stand, einer der italienischen Zollbeamten eine ganze Weile neben ihr stand und von Zeit zu Zeit immer wieder zu ihr hinschaute. Er hatte wohl bemerkt, daß sie immer zum Meister hinübersah. Auf einmal kam er heran und fragte sie: „Ist das dort der Heilige?“ - Als sie bejahte, schwieg er einige Zeit. Nach einer Weile kam er nochmals und fragte: „Ist das Ihr Gott?“

Nach ungefähr einer halben Stunde kam der Meister heraus, um alle zu begrüßen. Anschließend fuhr Er zum Hotel Reale. Dieses Hotel hatte der Gruppenbeauftragte von Mailand ausgesucht; dieser war nun sehr erstaunt, als er hörte, daß der Meister bei Seiner letzten Weltreise 1963 in dem gleichen Hotel gewohnt hatte und in genau denselben Zimmern!

Kaum war der Meister eingetroffen, als der Flur vor Seinem Appartement auch schon von Satsangis belagert war, die Ihn alle gern sehen wollten. Sie ließen sich auch dann nicht abweisen, als sie hörten, daß der Meister sich zurückgezogen hatte, und einige gingen sogar bis in das Bad des Appartements!

Wie Gyani Ji später erzählte, hatten sie, die Begleiter des Meisters, während des 15-stündigen Fluges von Südamerika nach Rom viele Stunden geschlafen. Nur der Meister war die ganze Zeit über da gewesen. Auch hier in Rom kam Er bis in die Nacht hinein kaum zur Ruhe. Das waren also insgesamt über 24 Stunden!

Die Satsangs fanden im Konferenzsaal des Hotels statt. Sicher waren noch nie so viele Menschen auf einmal in diesem Raum gewesen, wie in diesen drei Tagen! - Als einige von uns gegen 19:30 Uhr herunterkamen, eine halbe Stunde vor Beginn des Satsangs, wurden wir vor der geschlossenen Tür von einem Hotelangestellten zurückgehalten, der uns sagte, der Saal müsse geschlossen werden, da die polizeilich zugelassene Personenzahl bereits überschritten sei. Schließlich zeigte er uns aber doch noch einen zweiten Eingang, durch den wir noch hineinkommen konnten. Drinnen war wirklich fast der letzte Quadratmeter Boden ausgenützt. Nur ca. 60 Leute konnten auf Stühlen sitzen, alle anderen saßen auf der Erde - und immer noch kamen durch den Nebeneingang pausenlos Nachzügler herein.

Als der Meister kam, war gerade noch ein schmaler Gang frei, damit Er nach vorn gehen konnte.

Da hier in Rom hauptsächlich drei Nationalitäten vertreten waren, nämlich Italiener, Deutsche und Franzosen, wurden die Reden des Meisters auch zusammengefaßt in diese drei Sprachen übersetzt.

Der Meister erklärte in Seiner ersten Ansprache, welcher Segen darin liege, den menschlichen Körper erhalten zu haben. Bedauerlicherweise gebe es aber nur sehr wenige, die diese goldene Glegenheit nutzten, um darin Gott zu erkennen. Er sagte, wir seien so sehr mit dem Körper und der Welt identifiziert, daß wir nicht merkten, wie beides einem ständigen Wandel unterworfen ist. Er veranschaulichte das an einem Bild:

Wenn ein Mann in einem Boot sitzt und dabei nur ins Wasser schaut, so sieht er nicht, daß sein Boot den Strom hinuntertreibt. Warum? Weil das Boot die gleiche Geschwindigkeit hat wie das Wasser, so denkt der Mann, beides stünde still. Blickte er einmal zum Ufer hinüber, würde er seine Lage erkennen.

So raten die Meister: O Mensch, du befindest dich in einer großen Täuschung, ob du gebildet oder ungebildet bist, ob reich oder arm. Erhebe dich aus dieser Täuschung, um fähig zu werden, diese Welt in ihrer wahren Perspektive zu erkennen.

Wir alle befinden uns in dieser Täuschung und müssen aus ihr herauskommen. Es ist nicht nur eine Sache von Worten, sondern eine der Praxis, des Erhebens über das Körperbewußtsein. Wenn ihr euch jeden Tag willentlich über den Körper erheben könnt, wo bleibt da der Tod? Es wird dann keine Toedesfurcht mehr geben, ihr werdet fröhlich gehen. So ist die wichtigste Aufgabe des Menschen, sich selbst zu erkennen, sich von außen zurückzuziehen, indem er das Gemüt unter Kontrolle bringt und sich am Sitz der Seele im Körper konzentriert. Wenn ihr euch über das Körperbewußtsein erhebt, könnt ihr die kontrollierende Kraft in euch erkennen. Diese Erfahrung können wir zu den Füßen eines lebenden Meisters haben. Warum sollten wir selbst sie nicht machen?

Wir haben uns so sehr mit den nach außen gerichteten 
Fähigkeiten identifiziert, mit dem Intellekt und unseren 
Gefühlen. Wir müssen uns darüber erheben.
Wir sind alle spirituell blind, solange unser inneres Auge 
geschlossen ist und wir das Licht Gottes nicht sehen, und 
taub, solange wir die Stimme Gottes nicht hören.

Zwei Dinge sind erforderlich:

  1. ein lebender Meister, der uns den Weg zurück zu Gott führen kann, und
  2. eine wahrhafte, reine Lebensweise.

Für den spirituellen Pfad werden Menschen der Praxis 
gebraucht.

Gegen Ende des Vortrags sagte der Meister nochmals, wir müßten uns nach innen wenden und die äußeren Bindungen aufgeben. - Wir müssen uns unserer eigentlichen Aufgabe zuwenden, uns selbst zu erkennen.

Er erzählte folgende Parabel:

In einem Dorf lebte ein einfacher Mann. Eines Tages hörten die Dorfbewohner, wie er bei seinem Morgengebet Gott dafür dankte, daß in der Nacht Diebe gekommen waren und sein Pferd gestohlen hatten. Sie wunderten sich über dieses merkwürdige Gebet und fragten den Mann, warum er Gott für eine so betrübliche Sache dankte. Er antwortete, er sei Gott dafür dankbar, daß er selbst nicht auf dem Pferd gesessen habe, während die Diebe es stahlen.

Wenn ihr an die Welt gebunden seid, werdet ihr immer wieder kommen müssen. Der menschliche Körper nimmt den höchsten Rang in der Schöpfung ein, und wir sind gesegnet, ihn zu haben. Der beste Gebrauch, den wir davon machen können, ist, Gott darin zu erkennen. Um Gott zu erkennen, müssen wir zuerst uns selbst erkennen. Es ist eine praktische Frage der Selbstananylse, und einer, der sich selbst täglich über das Körperbewußtsein erhebt, kann diese Erfahrung weitergeben.
Er ist derjenige, den wir lieben sollten, an den wir uns binden sollten.

Als Er geendet hatte, blieb der Meister noch einige Minuten bei uns sitzen. Er forderte uns auf, unsere Umgebung und den Körper eine Weile zu vergessen und nach innen zu gehen. Nach etwa fünf Minuten erhob er sich und ging.

Am nächsten Tag kamen wir um 10:00 Uhr zur gemeinsamen Meditation zusammen. Nachdem der Meister wieder die genauen Anweisungen gegeben hatte, ließ Er uns etwa 45 Minuten meditieren. Anschließend machte Er sich wie immer genaue Notizen über die Ergebnisse. Zum Schluß sprach er noch einige sehr eindringliche Worte:

Er sagte, daß unser Gemüt immer in die Welt liefe, um dort nach Glück zu suchen. Wir seien auf der Sinnesebenen wach, nach außen hin sind wir wach, während wir nach innen hin schlafen wir. Woher kommt wahres Glück? Es liegt innen , und daher müssen wir es auch innen suchen. Wir müssen unsere Richtung ändern. - der Meister zählte noch einmal die verschiedenen Erfahrungen auf, die an diesem Tag bei der Meditation gemacht wurden. Dann sagte er, wir hätten ja alle eine Erfahrung des Lichts gehabt. Nun sei es an der Zeit, diese zu entwickeln. Er sagte, es sei hohe Zeit, unsere Tage seien gezählt!

Für diesen Tag waren noch zwei Satsangs vorgesehen, einer am Nachmittag um 16:00 Uhr und der zweite abends um 20:00 Uhr. Der Meister war von morgens bis abends für uns da!

Am Nachmittag durften Fragen gestellt werden. Wie schon einmal im Sommer wurden die Satangis auch heute aufgefordert, ihre Fragen auf Zettel zu schreiben und sie vor Beginn des Satsangs einem der Übersetzer zu geben, die sie dann dem Meister vortrugen.

Eine Frage lautete:

„Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Meditationszeit ins Tagebuch eintrage, da ich weiß, daß ich selbst nach vielen Jahren noch nicht in der Lage bin, meine Gedanken zu zügeln, und daher von Meditation eigenlich keine Rede sein kann. Sollte ich dann besser überhaupt keine Zeit eintragen, auch wenn ich manchmal versuche, drei Stunden hintereinander zu sitzen, ohne Herr der Gedanken zu werden?“

Der Meister antwortete darauf, man müsse sich konzentrieren; zuerst seien es vielleicht nur 5 bis 10 Minuten, dann würden es durch regelmäßige Praxis nach und nach mehr. Er sagte:

Konzentriert euch, konzentriert euch, konzentriert euch!

Jemand brachte das Problem zur Sprache, daß der Ehepartner nicht den Weg des Meisters geht und sich mit bestimmten Vorschriften des Meisters nicht einverstanden erklärt.

Darauf erwiderte der Meister:

Gott vereinigt Menschen als Auswirkung der Vergangenheit. 
Überzeugt den Partner durch euer Beispiel, aber versucht 
nicht, ihm eure Meinung aufzuzwingen.

Jemand schrieb:

„Ich finde nichts Göttliches in mir und auch nicht in anderen.“

Der Meister entgegnete:

Was das zweite betrifft - das liegt an unserer eigenen Brille, mit der wir andere sehen. Wir urteilen nach unserer eigenen begrenzten Sicht. - so sah ein Schüler Jesu selbst in seinem Meister nicht das Göttliche und er verriet ihn. - Das Göttliche in uns selbst können wir erst erkennen, wenn wir uns über das Körperbewußtsein erhoben haben.

Jemand bat um Erklärung dafür, daß Kal gleichzeitig als die negative Kraft bezeichnet wird und als die göttliche Mutter Kali. - „Wie kann uns diese Kraft ein Hindernis auf dem Weg sein?“

Die Antwort des Meisters:

Durch Kal kam die ganze Schöpfung ins Sein. Wenn Kal nicht wäre, könnten wir den Tonstrom nicht hören. Kal hat seine Macht von Gott. Er ist sehr gerecht. Aber er ist wie ein Offizier, der seine Befugnis vom König bekommen hat, der aber immer sagt: Ich befehle. Die Meister erklären dagegen: Ich gebe nur das von mir, was mein Vater mir gesagt hat. Sie handeln als Werkzeuge Gottes.

Frage:

„Ich habe in den ersten Jahren nach der Initiation verschiedene Erfahrungen gehabt. Seit zwei Jahren sehe ich nur noch selten etwas. Erst jetzt in der Gegenwart des Meisters habe ich wieder Licht gesehen. Wie ist das zu erklären?“

Antwort:

Die Ausstrahlung des Meisters hat die Erfahung wieder 
hervorgebracht. Davor muß irgendetwas falsch gewesen sein. 
Wahrscheinlich wurde das Tagebuch nicht richtig geführt.

Eine weitere Frage betraf verschiedene Begriffe im Zusammenhang mit dem kosmischen Bewußtsein.

Der Meister erklärte, in Amerika hätte Ihn jemand gebeten, etwas über das Kosmische Bewußtsein zu sagen. Er habe dem Betreffenden geantwortet, daß wir ja noch nicht einmal eine Ahnung von unserem eigenen Bewußtsein hätten und daß die Frage nach dem Kosmischen Bewußtsein hoch über unserer Reichweite läge.

Eine ähnliche Frage wurde in diesen Tagen auch an Gyani Ji gerichtet. Er hatte geantwortet, daß diese Dinge nur durch die innere Erfahrung erfaßt werden könnten und nicht durch den Intellekt.
„Intellektuelle sind so kompliziert und sie machen auch alle Dinge kompliziert. Sie wollen alles mit dem Verstand erfassen und geben ihm immer wieder neue Nahrung, statt über ihn hinaus zu gelangen. Kabir hat gesagt: ‘Lesen, Shreiben und Denken ist leicht; aber schwer ist es, das Gemüt zu überwinden.’ Wir können erst verstehen, wenn wir selbst gesehen haben:“
Im Laufe des Gesprächs hrachte Gyani Ji zwei Beispiele, die diese Dinge in ein sehr klares licht rückten:

„Jemandem auf der Verstandesebene die spirituellen Ebenen anschaulich machen zu wollen, käme der Versuch gleich, einem vierjährigen Mädchen die Vorzüge der Ehe zu erklären. Wenn es erwachsen und verheiratet ist, wird sie diese selbst erkennen.“
Das zweite Beispiel betraf noch einmal das komplizierte Denken des Intellektuellen. Er ist wie „eine Spinne, die so lange Fäden um sich spinnt, bis sie in ihrem eigenen Netz gefangen ist.“

Ein Satsangi wollte wissen, ob es möglich sei, durch Willensanstrengung bewußt zu meditieren.

Der Meister gab zur Antwort:

Meditation ist keine Meditation, wenn sie nicht bewußt 
geübt wid. Meditation i s t Bewußtsein.

Jemand fragte nach dem Grund dafür, daß der Meister ein keusches Leben vorschreibe.

Die Antwort des Meisters:

Die Liebe, die auf den Körper gerichtet ist, ist Lust und damit eine Form von Egoismus. Die Lebensflüssigkeit ist sehr wertvoll und sie sollte nicht vergeudet werden. Wenn man bei einer Lampe jeden Tag ein wenig Öl austropfen läßt , wird ihr Licht nach und nach schwächer werden. Keuschheit ist höheres Leben - wahre Keuschheit beginnt, wenn wir gelernt haben, uns über das Körperbewußtsein zu erheben. Sie ist nicht nur für den Körper eine Kraftquelle, sondern auch für den Verstand.

Das Beantworten der vielen Fragen hatte recht lange gedauert, und so blieben bis zum nächsten Satsang nur noch zwei Stunden. Aber selbst in dieser kurzen Zeitspanne war die Tür vor den Räumen des Meisters und Seiner Party meist belagert. Es gab in diesen drei Tagen kaum einmal eine Minute, in der nicht irgendjemand irgendein Anliegen an den Meister gehabt hätte. Wenn es in den Vereinigten Staaten und in Südamerika auch so war, kann man sich denken, daß der Meister dort erst recht bei Tag und Nacht kaum zur Ruhe gekommen ist, da dort überall viel mehr Satsangis zusammenkamen.

Um 20:00 Uhr begann der letzte Satsang an diesem Tag. Wie schon am Vortag angekündigt war, sollte der heutige Vortrag eine Fortsetzung des ersten sein. Der Meister sprach über die Bedeutung des Gottmenschen:

Der Absolute Gott brachte sich zuerst im Licht- und Tonprinzip zum Ausdruck. Naam oder das Wort brachte die ganze Schöpfung ins Sein. Viele sogenannte Meister sprechen von Naam, aber dies sind nichts als Worte. Der Name und das Benannte sind zweierlei. Jene sind die wahren Meister, die das Licht in euch manifestieren können. So betet ein wahrer Schüler: O Meister, gewährt uns die Verbindung mit dem Licht von Naam in uns!

Durch die Praxis von Naam werdet ihr aufhören, der Handelnde zu sein, und so wird euer Kommen und Gehen auf dieser Welt ein Ende haben. - Ein solcher Meister gibt euch die Erlösung. Naam, der Funken des Meisters wäscht die Sünden fort. Der Meister gibt euch die Verbindung, ihr müßt sie bewahren und weiterentwickeln. Es ist die große Möglichkeit unseres Zeitalters, daß wir diese Verbindung so schnell bekommen.

Was ist der Meister? Guru Nanak sagte: „Shabd ist mein 
Guru, mein Guru wohnt im Jenseits.“

Kabir und alle Heiligen sagten niemals: „Ich bin Gott.“, sondern: „Gott hat mich gesandt.“ Gott kann zum Menschen sprechen, während Er in einem Körper offenbart ist. Anders ist es nicht möglich. So ist es ein großer Segen, einen lebenden Meister zu haben.

Gott sandte den Menschensohn, um die Menschheit aus ihrem Schlaf aufzuwecken. Das verbindende Glied zwischen Gott und dem Menschen ist Shabd, das durch den Meister gegeben wird. Der Gottmensch gibt das Brot, um euren Hunger zu stillen, und das Wasser, um euren Durst zu löschen. Er hilft euch hier; und wenn ihr ins Jenseits zu gehen habt, geht Er mit euch und hilft euch auch dort.

Was sollen wir tun? - Hundertprozentig Seinen Geboten 
folgen!

Diese Verbindung bricht nicht beim Tode ab, sondern sie besteht ewig. Ich wurde euer Körper - ihr müßt meine Seele werden. Es ist ein wichtiger Schritt, Hingabe zum Meister zu entwickeln. Dazu ist es notwendig, Seinen Lehren genau zu folgen.

Der Meister wurde von Gott gesandt, um uns heimzubringen.

Nach diesen tiefgründigen und erhabenen Worten blieb alles still. Und auch, nachdem einige organisatorische Fragen bezüglich der Initiation geklärt worden waren, die am nächsten Morgen stattfinden sollte, hofften alle, daß der Meister noch eine Weile bei uns sitzen bleiben würde. Schließlich stellte auch jemand die Frage an Ihn, ob Er vielleicht noch zwei Minuten bliebe, worauf der Übersetzer diese Zeit gleich auf zehn Minuten erhöhte. „We must become silent in heart“, sagte der Meister, „Wir müssen innerlich ruhig werden.“ - Dann blieb er noch eine ganze Weile bei uns.

Als Er hinausgegegangen war, sagte jemand neben mir: „Ich wage kaum daran zu denken, daß Er morgen schon geht ...“

Am letzten Tag gewährte der Meister 40 Menschen die Initiation. Mehrmals war in den Satsangs darauf hingewiesen worden, daß die Initiation ein großes Geschenk sei, um das man nicht aus bloßer Neugier oder einem momentanen Interesse heraus bitten sollte. Es sei vielmehr erforderlich, sich genau zu prüfen, ob und wie weit man entschlossen sei, die Verpflichtung, die man dabei eingehe, vom ersten Tag an gewissenhaft zu erfüllen.

Der Meister sagt:

Die Verbindung mit Naam ist das größte Geschenk, das wir 
von einem wahren Meister erhalten können. Ihm zu begegnen, 
ist ein großer Segen, und die Initiation durch Ihn stellt 
die Krönung eines guten Schicksals dar.

Auch in Seinem Vortrag am Vorabend hatte Er mehrmals betont, daß ein ethisches Leben allein nicht vom Kreislauf der Geburten und Tode befreien kann. Nur durch die Gnade des Meisters, der uns bei der allerersten Meditation eine Erfahrung des Lichts und des Tonstromes gibt, können wir Befreiung erlangen.

In diesem Zusammenhang hatte Gyani Ji zu einem Gruppenbeauftragten gesagt:
„Wir sollten nicht darauf aus sein, möglichst schnell Leute zur Initiation zu bewegen, um größere Gruppen zu bekommen, das ist nicht der rechte Weg. Interessenten sollten sich richtig vorbereiten, was eine längere Zeit in Anspruch nimmt, sie sollten die Lehren gründlich studieren und die Satsangs regelmäßig besuchen - erst dann kann man weitersehen. Man sollte sorgfältig prüfen, die Initiation ist keine Sache der Eile.“

Während der Initiation saßen die übrigen Satsangis im Konferenzsaal zur gemeinsamen Meditation. - Wie immer hatte der Meister die genauen Anweisungen gegeben und uns aufgefordert, so lange sitzen zu bleiben, bis Er wieder komme. Die Initiation dauerte ungefähr drei Stunden und nach etwa zwei Stunden fingen die meisten an, unruhig zu werden, und einer nach dem anderen verließ den Raum. Eine große Menge stand dann vor der Tür zum Initiationsraum, aus der der Meister irgendwann kommen mußte. Schließlich kam Er heraus. Er ging sehr rasch durch die Menge hindurch zum Konferenzsaal, und alle folgten Ihm. Dort saßen inzwischen nur noch etwa 20 Satsangis. Der Meister fragte sie:

Wo sind die anderen alle? Ich habe doch gesagt, daß sie 
sitzen bleiben sollen.

Dann wandte Er sich um und ging ohne ein weiteres Wort wieder hinaus. Dabei muß Ee,nach den Worten einiger Satsangis, die in der Nähe standen, ein sehr strenges und zugleich trauriges Gesicht gehabt haben. Dies war also der offizielle Abschied vom Meister ...

Einige sagten nachher, daß sie noch nie so tief beschämt gewesen seien wie in diesem Augenblick. - Was bedeuteten uns die Anweisungen des Meisters, daß wir uns so schnell über sie hinwegsetzten?

Wenig später verließ der Meister das Hotel. Wer konnte, fuhr so schnell wie möglich zum Flughafen, um dort noch einmal Seinen Darshan zu haben.

Als ich ankam, war der Meister von einem Kreis schweigender Satsangis umgeben. - Ich konnte es zuerst nicht fassen, daß nicht der geringste Vorwurf oder auch nur Strenge mehr in Seinem Gesicht zu lesen war! - Manchmal wünscht man sich, daß der Meister strenger mit uns wäre. Aber macht einem nicht gerade Seine Güte und Geduld unsere eigene Unzulänglichkeit um so mehr bewußt? Und eigentlich liegt doch darin, daß Er uns keine Vorwürfe macht, sondern uns immer wieder verzeiht, der größte Ansporn, Ihm endlich einmal weniger Sorgen zu bereiten!

Ein Satsangi erzählte, daß er während seines Aufenthaltes im Ashram einmal sehr niedergeschlagen gewesen wäre, weil er dem Meister immer nur zur Last fiele. Die Prinzessin hatte daraufhin zu ihm gesagt: „Wir wurden dazu geboren, dem Meister zur Last zu fallen.“

Und der Meister sagt:

Ein wahrer Schüler ist ständig zerknirscht, weil er weiß, 
daß der Meister keinen Gefallen an ihm haben kann.

Nach einigen Minuten war es Zeit, daß der Meister und Seine Party in die Halle für Passagiere hinübergingen - und so war auch für die meisten Satsangis der Augenblick gekommen, wo sie sich von Ihm trennen mußten. Noch an der Paßkontrolle standen alle dicht gedrängt, um Ihn bis zum allerletzten Augenblick zu sehen.

Einige von uns hatten das Glück, schon die Bordkarten zu besitzen, die einen als Passagier ausweisen, uns so konnten wir auch die Sperre passieren und noch eine halbe Stunde länger mit dem Meister zusammensein. Als Er uns sah, wie wir keine Anstalten machten zu gehen, schien Er zunächst ein wenig verwundert und fragte dann, ob wir auch jetzt fliegen würden und woher wir kämen.

Dann ging Er voran mit Seinem nunmehr sehr kleine Gefolge von 14 Satsangis. Im Warteraum setzte Er sich erst, als Frau Fitting Ihn darum gebeten hatte, auf den einzigen noch freien Platz - und wir blieben in einigem Abstand stehen.

Selbst, wenn Er einfach nur schweigend dasaß wie jeder andere Passagier, so war es doch nicht dasselbe. Das schienen auch Fremde zu merken: Während der Wartezeit kam irgendjemand zu Frau Fitting und fragte sie, „wer das sei“. Als sie ihm die Auskunft gab, Er sei eine hohe Persönlichkeit aus Indien, fragte der Herr zurück: „Eine religiöse Persönlichkeit, nicht wahr?“

Etwas später, kurz bevor der Meister hinausging, sah ich auf einmal, wie zwei fremde junge Männer, die in der Nähe standen zu weinen anfingen, als sie vom Personal ihrer Maschine aufgefordert wurden, an Bord zu gehen.

Eigentlich hätte die Maschine des Meisters schon längst startbereit sein müssen, aber sie hatte 20 Minuten Verspätung. Jeder Vorgang, selbst die letzte Abfertigung vor dem Ausgang, die gewöhnlich ganz reibungslos verläuft, dauerte länger, so daß wir immer wieder eine Minute länger mit Ihm zusammensein konnten.

Aber schließlich war die Zeit unwiderruflich abgelaufen und, nachdem Er uns alle noch einmal voller Liebe angesehen und besonders von Frau Fitting herzlich Abschied genommen hatte, ging Er die Gangway hinunter. Wir standen noch lange oben und warteten, bis die Maschine anrollte und dann im Nebel verschwand.

Wie hatte der Meister gesagt?

Ich wurde euer Körper, nun müßt ihr meine Seele werden.

Er ist zu uns gekommen, nun müssen wir zu Ihm kommen, innen ...

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Anke Lettow

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