Der Käfig der Seele Dies ist ein Brief von Param Sant Kirpal Singh an einen New Yorker Schüler. Der Mensch hat sich selbst so sehr in das Gemüt und
die nach außen gehenden Kräfte verstrickt, daß seine Befreiung von Ihnen nur mit großer Mühe und Ausdauer erreicht
werden kann. Seine Lage gleicht gewissermaßen der eines Vogels, den man viele
Jahre in einem Käfig hielt. Selbst wenn man die Tür des Käfigs öffnete, würde
der Vogel nur mit Widerwillen herausfliegen. Stattdessen wird er von einer
Seite des Käfigs zu anderen flattern und sich mit den Krallen am Drahtgitter
festhalten; er möchte nicht frei sein und durch die offene Tür hinausgelangen. Desgleichen hat sich die Seele so sehr an den Körper
und die nach außen gehenden Kräfte gebunden, daß sie sich an die äußeren Dinge
klammert und sie nicht loslassen will. Sie möchte nicht durch die Tür fliegen,
die vom Meister bei der heiligen Initiation geöffnet wurde und an deren
Schwelle die strahlende Form des Meisters geduldig wartet, um das Schülerkind
zu empfangen. Wahre Schülerschaft fängt
erst an, wenn man das Körperbewußtsein überschritten hat. Von da an wird
sich der Schüler nicht nur wohlfühlen, sondern beginnen, die Freude und Seligkeit
zu erfahren, die ihn im Jenseits erwartet. Er wird die zauberhafte, strahlende
Form des Meisters zum Begleiter haben, der immer zur Stelle ist, um die so
nötige Führung zu geben, damit man die Fallgruben auf dem Weg umgeht. Bis dahin
ist man sozusagen ein Schüler auf Probe, einer Probezeit jedoch, die nicht
abgebrochen werden kann. Während dieser Bewährungszeit wird die Seele einiges
Unbehagen empfinden. Sie hat sich so sehr mit dem Schmutz der Sinne befleckt,
daß sie ihre ursprüngliche Herzensreinheit verloren hat und darum nicht
geeignet ist, aus dem Gefängnis des Körpers erhoben zu werden. Obwohl die Tür geöffnet wurde, hat sich die Seele
den Dingen der äußeren Welt so versklavt, daß sie gar nicht frei sein möchte.
Erst wenn sie beginnt, ihre einstige Reinheit des Herzens und Geistes
wiederzugewinnen, will sie endlich von den Begierden des Fleisches und den äußeren
Bindungen frei werden. Der liebende Meister sucht dem Schülerkind alles
mögliche Ungemach zu ersparen, indem er ihm verständlich macht, welches die
Laster sind, die es zu meiden gilt und welche Tugenden entwickelt werden
müssen, um diese Reinheit wiederzuerlangen. Unglücklicherweise dringen die Worte des Meisters
sehr häufig nicht ein, und der Schüler unternimmt wenig oder gar nichts, um
seinen Lebenswandel zu verbessern. Deshalb muß die Meisterkraft strengere
Maßnahmen ergreifen, um dem Schüler die Bedeutung der wörtlich erläuterten
Wahrheiten klarzumachen. Daher kommt das Leid, das die Lieben in ihrem
täglichen Leben manchmal zu spüren bekommen. Wenn den Geboten des Meisters
unbedingter Gehorsam geleistet würde, dann hörten alle Schwierigkeiten und
alles Unbehagen auf. Macht sich ein Kind so schmutzig, daß die Mutter zu seiner
Säuberung nichts anderes übrigbleibt, als eine Scheuerbürste zu benutzen - kann
man da wohl sagen, daß das Kind sich während dieser Scheuerprozedur wohlfühlen
wird? Dies wird erst der Fall sein, wenn das Scheuern beendet und es wieder
rein und sauber ist. Jenen, die dem Meister nachfolgen, gewährt er immer
Hilfe und Schutz. Er kümmert sich in jeder Beziehung um ihr äußeres und inneres
Wohlergehen; selbst um die Folgen von Rückwirkungen aus der Vergangenheit - für
den Galgen ein gewöhnlicher Nadelstich: soviel Zugeständnis wird gemacht. Wie
die Mutter um ihres Kindes willen alles opfert, so tut auch der Meister alles
für seine Kinder. Der Aspirant läßt es sich bestimmt nicht einmal träumen, wie
sich der Meister um ihn sorgt. Wer ihm nachfolgt, den erfüllt er mit seinen
eigenen Gedanken, mit seinem eigenen Lebensimpuls. Wenn wir an ihn denken,
denkt er an uns, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Er ist nicht der
Körper. Er ist das verkörperte Wort, das fleischgewordene Wort. Um den vollen
Nutzen der Meisterkraft zu gewinnen, muß der Schüler Empfänglichkeit
entwickeln. Es ist unmöglich, Empfänglichkeit zu entwickeln, solange ihr den Geboten
des Meisters nicht unbedingten Gehorsam leistet. Wenn ihr sie jedoch befolgt,
ist das ein Zeichen, daß eure Liebe zu ihm wächst; und je mehr eure Liebe für
ihn zunimmt, desto größer wir eure Empfänglichkeit. Wenn ihr diese
Empfänglichkeit zu entwickeln beginnt, wird alles Unbehagen schwinden, und ihr
werdet den Pfad mit der festen Zuversicht zu beschreiten beginnen, daß ihr auf
dem rechten Weg seid, in der liebevollen Gemeinschaft von einem, der euch seine
Größe und Macht mit jedem Schritt mehr und mehr enthüllt, bis ihr erkennt, daß
führwahr Gott selbst euer Ratgeber und Führer ist, der euch nie mehr verlassen
wird, bis er euch sicher zur wahren Heimstatt des Vaters zurückgebracht hat. Während Ihr auf dem Weg seid, ist es eine der
Hauptaufgaben des Meisters, das frühere Karma des Schülers abzuwickeln. Nur
durch die bewußte Verbindung mit dem Tonstrom werden die Karmas verflossener
Lebensläufe verbrannt. Dieser Vorgang beginnt mit der heiligen Initiation, bei
der der Schüler eine Verbindung mit dem Licht- und Tonprinzip oder der sich zum
Ausdruck bringenden Gotteskraft erhält. Um die Eröffnung eines neuen Kontos
schlechter Handlungen zu vermeiden, wird ihm eingeschärft, ein reines Leben zu
führen und alle ihm anhaftenden Unvollkommenheiten durch tägliche Selbstprüfung
auszumerzen. Dies ist der erhabene Grundsatz der Tagebuchführung, die vom
Schüler verlangt wird, um sich der Verfehlungen bewußt zu werden, die ihn auf
seinem Weg zu Gott behindern. Das Ego ist das Selbstbehauptungsprinzip im Menschen, das ihn empfinden läßt: „Ich tue dies“ oder „ich tue das“. Wenn man sich über das Körperbewußtsein erhebt, sich wirklich erkennt und ein bewußter Mitarbeiter am göttlichen Plan wird, der sieht, daß er nicht der Handelnde, sondern nur eine Marionette in den Händen Gottes ist, hat man sich für seine Handlungen nicht länger zu verantworten. Dann wird man ein Jivan Mukta oder eine befreite Seele. Das Ich im Menschen ist ein Teil der großen Täuschung, an der er krankt. Es enthält sich erst dann des Handelns oder löst sich auf, wenn der Schüler einen so hohen Grad der Reinheit erlangt, daß sich der Meister in ihm in all seinem Tun widerspiegelt. Dann wird er wie Christus erklären: „Ich und mein Vater sind eins.“ |