12. Kapitel

Das Gemüt

Frage: Erklärt bitte, was das Gemüt ist.

Der Meister: Der Gemütsstoff besteht aus höchst verfeinerter Materie oder der Satva-Substanz in den Elementen. Wie ganz feine Gaze breitet er sich im Körper aus; seine Fühlfäden sind tief in den Sinnen verwurzelt, und wirken durch die Sinnesorgane. Auch sein Grundstoff reicht weit nach oben, da er im universalen oder kosmischen Gemüt Chid-Akash verankert ist. Er dient als Bindeglied zwischen dem materiellen Körper und dem bewussten Geist oder der Seele in ihm, die sowohl das Gemüt als auch den Körper belebt. Wie das Feuer ist es ein guter Diener, aber ein schlechter Herr.

Frage: Wo ist der Sitz des Gemüts?

Der Meister: Der Sitz des Gemüts im Körper ist am Augenbrennpunkt wie der der Seele, doch ein wenig zum rechten Winkel des linken Auges hin, während der Sitz der Seele etwas näher am linken Winkel des rechten Auges liegt.

Frage: Ist das Gemüt bewusst?

Der Meister: Nein, das Gemüt an sich ist nicht bewusst. Es ist das Bewusstsein der Seele, welches das Gemüt widerspiegelt.

Frage: Welches sind die Eigenschaften des Gemüts?

Der Meister: Das Gemüt hat vier Aspekte oder Spiegelungsflächen, nämlich

 1) Chit. Es kann mit einem See verglichen werden, in dem unmerklich die ganze Zeit über zahllose Ströme von Eindrücken fließen.
 
2) Manas - die Denkfähigkeit des Gemüts, die über die Eindrücke nachsinnt, welche sich an der Oberfläche des Sees in Form von Wogen und Wellengekräusel erheben, gerade wie die Brise des Bewusstseins über die Wasser des Sees von Chit weht und nacheinander eine endlose Kette von Gedanken in Bewegung setzt. 

3) Buddhi oder Intellekt - die Kraft des Verstandes, des Schlussfolgerns, der Unterscheidung und schließlichen Entscheidung, nachdem das durch Manas vorgebrachte Für und Wider erwogen wurde. Es ist der große Schiedsrichter, der die Probleme des Lebens, die auf ihn zukommen, zu lösen sucht. 

4) Ahankar oder Ego - es ist die sich selbst behauptende Kraft des Gemüts, denn es liebt, für alle vollbrachten Handlungen anerkannt zu werden und schafft sich somit eine reiche Ernte von Karma, das einen auf dem gewaltigen Rad des Lebens ständig hinauf und wieder abwärts bewegt.

Frage: Warum wird das Gemüt als ein furchtbares Hindernis für den spirituellen Fortschritt angesehen?

Der Meister: In seinem gegenwärtigen Zustand ist das Gemüt mit einer riesigen karmischen Last vergangener Lebensläufe beladen. Es wird durch die nach außen gehenden Kräfte der Sinne unterjocht und somit hilflos in den Sumpf der Sinnesbefriedigung hineingetrieben. Das Alphabet des spirituellen Vorwärtskommens beginnt mit der Kontrolle des Gemüts. Es wird gesagt, dass wir, solange das Gemüt nicht kontrolliert, die Sinne diszipliniert und der Verstand beruhigt ist, keine Erfahrung der Selbstverwirklichung haben können. Der menschliche Körper gleicht einem Wagen, in dem sich die Seele befindet, mit dem Gemüt als Lenker, dem Verstand als Zügel und den Sinnen als mächtigen Rossen, die im Morast der Sinnesfreuden Amok laufen. Aus diesem Grunde und um die Tatsachen zurückzuverfolgen, müssen die Sinne diszipliniert, der Verstand ruhig und das Gemüt kontrolliert werden, damit man die innere Erfahrung der Seele erlangen kann. Das Gemüt ist seit Urzeiten daran gewöhnt, im Äußeren herumzuwandern. Solange ihm nicht innen etwas geboten wird, an dem es mehr Freude hat, kann man es nicht unter Kontrolle bringen. Die vier Haupteigenschaften des Gemüts, wie oben erörtert, müssen vergeistigt werden, ehe ein erkennbar rechtes Verstehen in der Sache möglich ist. Gerade wie wir in unserer Zeit so sehr von den Dingen des äußeren Lebens beeindruckt sind, dass wir wenig oder gar keine Kenntnis über die höheren spirituellen Wahrheiten, voll der göttlichen Schönheit, haben, was eine große Unwissenheit beweist, gibt es keine Hoffnung, dass unser Gemüt die rechte Richtung geht, bis wir nicht fest vom jenseitigen Leben überzeugt sind. Einzig in der Gegenwart des lebenden Meisters, der sein Gemüt völlig beherrscht und unter Kontrolle hat, finden wir eine strahlende Widerspiegelung der inneren Stille und Ausgeglichenheit des Gemüts. Ein Heiliger hat treffend geäußert:

Gar tu dari dar dile khud azam-e-raftan suey dost: Yak qadam bar nafas-e-hud neh deegray dar kuey dost.

Wenn du fest entschlossen bist, zum geliebten Herrn zu gelangen, solltest du einen Fuß auf das Gemüt setzen, und der nächste wird dich befähigen, zum schmalen Weg des Freundes vorzudringen.

Das Selbst ist der Freund des Selbstes, und das Selbst ist der Feind des Selbstes. Das Gemüt, ein Sklave der Sinne, läuft hinter den Sinnesgegenständen her und erniedrigt sich selbst. Als leichtfertiger Sämann der karmischen Saaten muss es notgedrungen Leben auf Leben, in endloser Folge, eine überreiche Ernte einbringen und speichern. Die arme Seele, in deren Licht und Leben das Gemüt am Werk ist, wird hilflos und hoffnungslos in den Hintergrund gedrängt, und das Gemüt reißt den Oberbefehl über die Zitadelle des Körpers an sich. Wie bedauernswert! Die Prinzessin königlichen Geblüts wird durch die Machenschaften eines Gauners beherrscht, der sich wiederum selbst durch die Sirenengesänge der Sinne annehmlich täuschen lässt und auf der Bühne des weltlichen Lebens unwissentlich nach ihrer Weise tanzt. Kein Wunder, dass es eine Bedrohung für die Sicherheit und Unversehrtheit der Seele darstellt; es läuft ein Hindernisrennen mit schwierigen und manchmal unüberwindlichen Hürden. Wir müssen darum diesen hartnäckigen Widersacher bändigen, bevor wir den spirituellen Pfad ungestört gehen können. Das Gemüt mit Gewalt zu unterwerfen ist nicht möglich. Es muss nach und nach durch Überredung gewonnen werden und indem es einen Vorgeschmack der wirklichen Freude bekommt, die nur ein Meister geben kann.

Frage: Warum liebt das Gemüt die spirituelle Disziplin nicht?

Der Meister: Das menschliche Gemüt ist durch die Vorsehung so gestaltet, dass es sich nicht gern festlegen lässt. Es ist immer ruhelos, bis es seine wahre Wohnstatt erreicht. Als Träger der negativen Kraft ist es an jede Seele gebunden und will ihr nicht erlauben, in die wahre Heimat des Vaters zu kommen. Die Meister weisen uns an, es für den höheren Zweck des spirituellen Fortschrittes gefügig zu machen. Tatsächlich ist das Gemüt hilflos den Angriffen der Sinne ausgeliefert, die selbst wiederum in den Dschungel des Genusses getrieben werden. Eine sorgfältige Untersuchung wird zeigen, dass die niederen Schöpfungsarten, die mit einem vorherrschenden Sinn ausgestattet sind, entweder zugrunde gehen oder ihr ganzes Leben in Gefangenschaft verbringen. Die Motte zum Beispiel wird aufgrund ihres Gesichtssinns so unwiderstehlich vom Licht angezogen, dass sie ihr kostbares Leben verliert. Eine Motte wird nie zögern, sich im Licht einer Kerze zu verbrennen. Die Blumenfliege liebt den Geruch und die äußeren Düfte. Sie stürzt sich in die Blüten und stirbt lieber darin, als sie zu verlassen. Der Fisch ist die schnellste Kreatur und erfreut sich seines Lebens in fließenden Gewässern. Seine Schwäche ist der Geschmackssinn oder Reiz der Zunge. Die Angler befestigen an der Rute einen Köder, wodurch der Fisch hilflos gefangen wird und nun selbst dem Verzehr dient. Der Hirsch ist eines der leichtfüßigsten Tiere, das kaum von einem Pferd einzuholen ist; aber seine Schwäche ist der Gehörsinn. Die Jäger gehen in den Wald und schlagen auf so zauberhafte Weise die Trommel, dass das Tier, ohne es zu merken, unwiderstehlich davon angezogen wird, seinen Kopf auf die Trommel legt und lebenslang seine Freiheit verliert. Der Elefant ist eines der mächtigsten Geschöpfe, hat jedoch die Schwäche der Lust. Darum kann man ihn leicht einfangen, indem man im Wald tiefe Gruben aushebt, die mit Gras und Buschwerk bedeckt werden. Als Lockmittel stellt man ein künstliches Elefantenweibchen dorthin. Das lüsterne Tier läuft darauf zu und fällt in die tiefe Grube, wo es mehrere Tage ohne Futter und Wasser gehalten wird. Wenn man es herauslässt, ist es so schwach und kraftlos, dass es fürs ganze Leben unter den Stachelstock kommt. Aus obigem ist ganz klar, wie sehr die Seelen, die in den niederen Arten der Schöpfung als gebunden gelten, von einem einzigen Sinn beherrscht werden. Wo liegt dann die Sicherheit für die menschliche Seele, die endlos durch alle fünf mächtigen Sinne des Gesichts, Geruchs, Gehörs, Geschmacks- und Tastsinns verführt wird? Aus bloßer Gewohnheit ist das Gemüt eingesperrt worden und zieht nun in der Welt herum wie ein wilder Elefant im Dschungel. Indem es sich jeden Augenblick durch die Lüste des Fleisches mästet, ist es im Übermaß gewachsen. Die spirituellen Übungen sind ihm lästig und eine Qual, weil sie seiner freien Bewegung ernste Beschränkungen auferlegen. Aus dem Grunde ist das Gemüt jeder Disziplin abhold und wendet alle möglichen Kniffe an, sie zu umgehen. Zuweilen gibt es sich als ehrlicher Vermittler, der für unsere Freunde und Verwandten spricht und uns Vorhaltungen macht hinsichtlich unserer weltlichen Aufgaben und Verpflichtungen in verschiedenen Bereichen des Lebens. Wenn einer nicht sehr wach ist und keine rasche Unterscheidungskraft besitzt, kann er seine Possen nicht durchschauen und fällt ihnen leicht zum Opfer.

Es ist die uns entgegengestreckte barmherzige Hand des Meisters, die uns hilft, durch den Dschungel der Sinne hindurchzukommen. Die ethische Disziplin ist für den spirituellen Fortschritt hilfreich, wenn sie unter der beschützenden Führung des Meisters entwickelt wird. Ethik und Spiritualität gehören zusammen. Die erstere ist der Boden und letztere die Saat, welche unter günstigen Bedingungen wächst und gedeiht.

Frage: Gibt es irgendeinen guten oder hilfreichen Wesenszug des Gemüts?

Der Meister: Ja, das Gemüt hat, wie Janus, noch ein anderes Gesicht. Wenn es durch freundliches überreden, gütige Worte des Rats und hin und wieder auf gewinnende Art richtig geschult wird, kann es von einem furchtbaren Feind in einen wertvollen Freund verwandelt werden, welcher der Seele auf ihrer Suche nach der Wahrheit zur Seite steht. Es ist nur eine Frage der Zeit und Geduld, diese Umkehr zuwege zu bringen, und wenn es vollbracht ist, gibt es keinen besseren Gehilfen als das Gemüt. Es hat wie ein Chamäleon die Fähigkeit, die Farbe seiner jeweiligen Umgebung anzunehmen, und das ist in der Tat ein versöhnlicher Zug. Wenn es sich im Randgebiet des Lebens befindet, dehnt es sich nach außen und unten hin aus; doch da es seine Wurzeln im Gaggan hat, ist es den höheren und heiligeren Einflüssen einer Meisterseele, auf die es reagiert, nicht unzugänglich und wird von ihr in die andere Richtung gelenkt.
Wie das Feuer ist es ein sehr guter Diener, aber ein schlechter Herr. Das Gemüt hat die hilfreiche Eigenschaft, die gewohnten Rillen zu benutzen und an Handlungen Freude zu finden, die sich stets wiederholen. Wir können daraus Nutzen ziehen, wenn wir es zu guten Handlungen veranlassen, die zu spiritueller Disziplin und Fortschritt führen. Ein Heiliger hat so schön gesagt:

Pag aagey aagey jat hai, man peechhey peechhey jat hai

Meine Füße gehen stetig weiter; und das Gemüt folgt ganz sanft und froh.

Wenn wir unser Gemüt durch sorgsames und beharrliches Streben dazu bewegen können, sich für eine gewisse Anzahl von Tagen zur festgelegten Zeit still zur Meditation zu setzen, wird eine gute Gewohnheit gebildet. Es ist eine erwiesene Tatsache, dass unsere Aufmerksamkeit, wenn die Stunde der Meditation naht, dieser bereits entgegenkommt und wir allmählich anfangen, daran Gefallen zu finden. Ähnlich ist es mit dem regelmäßigen Besuch des Satsang. Wir können diese Gewohnheit entwickeln, wenn wir uns regelmäßig in die Gegenwart des Meisters begeben und seine Ansprachen hören, die voll des göttlichen Wissens sind. Es kann oft bemerkt werden, dass sich Menschen mit sehr bescheidenem spirituellen Hintergrund spirituell zu entwickeln beginnen, indem sie von der Ausstrahlung der Meisterkraft in der geladenen Atmosphäre Vorteil haben.

Frage: Wie kann das Gemüt beruhigt werden?

Der Meister: Das Gemüt liebt die Freuden und sucht nach ihnen, wann und wo immer sie zu finden sind. In der physischen Gegenwart des Meisters wird es still. Durch seine göttliche Ausstrahlung werden die Seelen zu ihm hingezogen, und das Gemüt, das sein Bewusstsein von der Seele erhält, wird für eine Weile beruhigt. Tulsi Sahib sagt:

Surat sadh sang thehrai - tau man thirta kichh pai.

Die Aufmerksamkeit oder der äußere Ausdruck der Seele wird in der Gemeinschaft eines Sadh kontrolliert. Nur dann kommt das Gemüt zu einer gewissen Ruhe

Doch die Freuden des Fleisches sind ganz anderer Art als das wahre Glück, aus dem inneren Frieden der Seele geboren. Wenn dem Gemüt das Verlangen innewohnt, etwas Höheres zu kosten, und es Gelegenheit dazu erhält, erkennt es den Wert wahren Glücks, so dass die Sinnesfreuden all ihren Reiz verlieren und hinfort schal und wertlos erscheinen: Das ist der Weg, das hydraköpfige Ungeheuer unter Kontrolle zu bringen, indem die lieblichen Weisen der Musik des Lebens, welche die ganze Schöpfung belebt, im Körper offenbart werden. Wir haben dafür ein Beispiel aus dem Leben Lord Krishnas, wo sinnbildlich erklärt wird, wie der Herr die vielköpfige Kobra im Fluss Jumna (dem menschlichen Körper) durch die Melodie seiner Zauberflöte (den hörbaren Lebensstrom) bezwang.

Frage: Können alle Handlungen, die auf der Ebene des Gemüts und der Sinne ausgeführt werden, beim spirituellen Fortschritt helfen?

Der Meister: Alle auf der Ebene des Gemüts und der Sinne ausgeführten Handlungen, wie gut und tugendhaft sie auch immer sein mögen, können für sich genommen keine spirituelle Erlösung bewirken. Sie binden genauso wie üble Taten. Die einen sind Ketten aus Gold, die anderen solche aus Eisen. Gute Taten sind besser als schlechte oder gänzliche Untätigkeit; doch außer dem Bereiten des Bodens für den spirituellen Fortschritt sind sie an sich von keinem Nutzen für den Geist, da er weit über der Sinnesebene liegt. Aber wenn jemand einmal auf den spirituellen Pfad gestellt ist, gehen alle seine Handlungen so selbstverständlich von ihm aus wie bei einem Vertreter, der im Auftrag seines Vorgesetzten handelt, und hören als solche auf, irgendeine bindende Wirkung für ihn zu haben, denn er hat jede Vorstellung, der Ausführende zu sein, verloren; und dies macht ihn letztlich neh-karma (tatenlos). So sollte neh-karma unser Ideal im Leben sein, was dann die Erlösung bedeutet.

Frage: Behält des Gemüt Eindrücke früherer Karmas zurück?

Der Meister: Ja, das Gemüt ist nichts als ein Lagerhaus karmischer Eindrücke, die sich vom Anbeginn der Zeit in einer endlosen Reihe von Verkörperungen gesammelt haben. Der Körper kann nicht anders als Karma bewirken; dies gestaltet den Körper und alles, was zu ihm gehört oder zu ihm in Beziehung steht. Die ganze Welt ist ein Schauspiel karmischer Eindrücke, die von den Menschen der Welt im Gemüt aufgespeichert werden. Das ist der Grund, warum die Welt mano mai srishti oder Schöpfung des Gemüts genannt wird.

Frage: Wie kann der Schmutz des Gemüts weggewaschen werden?

Der Meister: Der Schmutz des Gemüts kann weggewaschen werden. Das wirksamste und stärkste Mittel, es zu reinigen, ist nach den Aussagen aller Meister die Verbindung mit dem heiligen Wort, der waltenden Gotteskraft, die alles Sichtbare und Unsichtbare erschafft und erhält. Auf die Musik der Seele abgestimmt zu sein heißt, die Knoten zu zerschneiden und für immer zu lösen, welche gegenwärtig den materiellen Körper und die bewusste Seele verbinden, die darin durch zahllose Fesseln gefangen ist.

Guru Nanak sagt im Jap Ji:

Wenn Hände, Füße und der Körper schmutzig sind, werden sie mit Wasser reingewaschen. Wenn die Kleider beschmutzt und fleckig sind, werden sie mit Seife gereinigt. Ist das Gemüt durch die Sünden unrein geworden, kann es nur durch die Verbindung mit dem Wort wieder sauber werden.

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