11.
Kapitel Der
Wert der heiligen Schriften Der
Guru ist ein Wesen von hoher Spiritualität, dessen Machtbereich sich bis Sach
Khand erstreckt. Er hat ein Ersthand- Wissen von And, Brahmand und Sach Khand,
den drei großen Aufteilungen von der physischen Ebene bis zu den rein
spirituellen Bereichen. Von
der Umklammerung des Körpers und Gemüts befreit, ist er mit reiner
Spiritualität geladen. Nur wenn der Jiva mit einem solchen Wesen in Verbindung
kommt, wird das in ihm schlummernde spirituelle Verlangen geweckt. Der Guru ist
wahrlich eine brennende Kerze, die viele erloschene Lichter neu entfacht. Durch
eine Übertragung seines eigenen Lebensimpulses kann er andere beleben. Manche
Leute sind der Ansicht, allein das Studium der Schriften reiche aus, spirituelles
Licht zu erlangen. Dazu sei kann Meister nötig. Wir wollen hier einhalten, um
Wert und Bedeutung der heiligen Bücher und Schriften zu erwägen. Sie
sind im Grunde nichts anderes als Berichts über die persönlichen inneren
Experimente und Erfahrungen von Weisen, Sehern, Propheten und gottesfürchtigen
Menschen der Vergangenheit. Es ist gut, sie mit liebevoller Hingabe zu lesen.
Wir sollten alle Achtung für sie haben, da sie ein großes Schatzhaus der
Spiritualität bilden, das unsere Vorfahren zu unserem Nutzen hinterlassen
haben. Die
Bücher und Biographien hochbeseelter Persönlichkeiten erwecken ein spirituelles
Verlangen in uns und erfüllen uns mit Mut und Hoffnung. Wir mögen in einem
gewissen Ausmaß mit den allgemeinen Grundsätzen der Spiritualität vertraut werden,
können aber weder ihren wahren Sinn erfahren noch den Lebensimpuls bekommen,
was man beides nur von einem lebenden Meister erhält. Bücher
sind letztlich materielle Dinge, und Materie kann kein Leben vermitteln. Wie
Licht von Licht, so kommt Leben von Leben. Nur eine erwachte Seele kann uns aus
dem tiefen Schlaf rütteln. Selbst wenn wir jahrhundertelang die Schriften lesen
und zahllose aufopferungsvolle Werke tun, werden wir dennoch nicht zu geistigem
Erwachen und geistiger Einsicht gelangen. Spiritualität
kann weder gekauft noch gelehrt werden, aber einer, der selbst von ihr
durchdrungen, ja von ihr besessen ist, kann sie wie eine Infektion übertragen. Die
Lehrer der Heiligen müssen nicht nur studiert, sondern auch offenbart werden.
Es genügt nicht, die Theorie des Pfades zu kennen, man muß ihn sehen, erfahren
und prüfen. Es ist zugleich eine Wissenschaft und eine Kunst, in deren
Geheimnisse uns nur ein Adept sicher einführen kann, der uns leitet und ans
Ziel bringt. Gott dient man am
besten in der Hingabe an einen
Gottmenschen, denn durch seine Barmherzigkeit
können ihr Gott erreichen. Selbst
die heiligen Schriften und Meister der Vergangenheit ermahnen uns
nachdrücklich, einen lebenden Meister zu suchen. Trinke das
Waschwasser von den Füßen eines Sadh. Bringe dich um
seinetwillen zum Opfer dar. Wasche dich im Staub
seiner Füße und opfere dich ihm. Sei ein Sklave der
Heiligen – das ist alles, was
du wissen mußt. Auch
Bhai Gurdas sagt uns: Der Guru birgt in
sich alle Veden und heiligen Schriften. Eine
Verbindung mit ihm ist Hilfe genug, um das Meer des
Lebens heil zu überqueren. Wir können die
Wahrheit nicht ohne den Meister der Wahrheit erkennen.
Gott selbst muß zu diesem Zweck zu uns herabkommen. Es
gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang das religiöse Schrifttum eifrig und
gewissenhaft studieren. Sie wissen eine Menge auswendig und können gelehrten
Vorträge und hochtrabende reden über spirituelle Themen halten, sind aber
glückseligerweise bar jedes spirituellen Wissen und jeglicher spiritueller
Erfahrung. Ihr Leben und Verhalten ist genauso leer wie das aller anderen
Menschen. Sie haben weder von Grund auf gelernt noch das Wasser des Lebens an
seine Quelle getrunken, dem lebenden Meister. Im Shri Asa Ki War lesen wir: Man mag eine große
Menge Wissen anhäufen und noch soviel davon in
seinen Kopf hineinzwängen. Man bringt eine
regelrechte Ernte der Gelehrsamkeit ein und studiert
unentwegt sein ganzes Leben lang, Jahr um Jahr, Monat für Monat,
jeden Augenblick. Eines ist sicher, o Nanak:
man wird nur ein aufgeblasener Esel! O Nanak, man mag die
heiligen Lehren ach Gewicht studieren und
immerzu in diese Arbeit vertieft sein. Doch welcher Wert
hat letzten Endes die Gelehrsamkeit, wenn
Naam weit über allen heiligen Büchern liegt? Bücher
enthalten allenfalls eine Beschreibung des Wissens von Gott, können aber dieses
Gut nicht wirklich geben. Seid dessen sicher,
daß der Kern allen Wissens und aller Weisheit in
Dhuni (dem Tonprinzip) liegt und als solcher
unbeschreiblich ist. Dieser
Kern ist in uns. Aber solange wir nicht innen anzuklopfen verstehen, wie es
Emerson nennt, können wir ihn nicht besitzen. Der
Parapsychologe und Forscher Dr. J. B. Rhine sagt in seinem Buch „Neuland der
Seele“, daß es etwas im Menschen gibt, das alles Materie übersteigt. Wenn man
spirituelles Wissen aus Büchern haben könnte, wären alle gebildeten Leute
inzwischen Heilige geworden. Aber
tatsächliche Erfahrungen zeigt, daß sie trotz aller Buchgelehrtsamkeit
weiterhin so materiell sind wie die Bibliotheken, in denen diese Bücher
aufbewahrt werden. Mit
dem Balast des Buchwissens beladen, sind sie einem Esel vergleichbar, der
wankend eine Bürde Sandelholz trägt und nicht den süßen Duft wahrnimmt, der
davon ausströmt. Wie
ein Löffel im Pudding wissen wir nichts von seinem Geschmack. In diesem
Zeitalter der Gelehrtsamkeit, da die Welt der Bücher geradezu überschwemmt ist,
gibt es bedauerlicherweise keine spirituelle Flut, ja nicht einmal eine
Handvoll spirituell gesinnter Menschen. Erst
wenn ein Meister der Wahrheit kommt, der die Spiritualität ans Licht der
Öffentlichkeit bringt, werden viele in diesen Farben gefärbt. Ein bewußter
Geist kann nur durch jemanden angespornt und belebt werden, der ein größeres
Bewußtsein hat. Weder Bücher noch intellektuelles Wissen können das zuwege
bringen. Keiner, wie klug er auch sei, kann einen anderen mit Leben erfüllen,
wenn er es selbst nicht hat. Über
Spiritualität zu reden ist viel einfacher, als sie zu leben. Solche Menschen
befassen sich nur oberflächlich mit ihr, machen eine Schau daraus und können
nichts Gutes tun. Maulana Rumi rät: Begib dich unter den
allumfassenden Einfluß eines Heiligen. Bei einem,
der bloß nachahmt, kannst du den Pfad nicht
finden. Im
Evangelium lesen wir die Worte Christi: Sehet euch vor vor
den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu
euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. Matth.
7, 15 Die
Gemeinschaft mit einem Heiligen ist dazu angetan, im Jiva ein Verlangen nach
Spiritualität zu wecken. Dies ist in der Tat der Prüfstein für die Weltklugen.
Ein solcher Mensch ist würdig, daß wir ihn von ganzem Herzen und ganzer Seele
achten und verehren. Wer immer mit ihm in Verbindung kommt, wird von der
spirituellen Kraft magnetisch angezogen und aufgeladen und in die geistigen
Bereiche geführt. Mein Körper, mein
Herz und mein Besitz, alles gehört dem Meister. Seine
Gnade hat den heiligen Gral gereicht und ein
Ganzes aus mir gemacht. Die Welt hat keinen größeren
Wohltäter als ihn. Wer sich mit einem Sadh verbindet, wird
heil hinübergebracht. Das
Ideal des Meisters ist spiritueller Natur. Er ist nicht auf seinen physischen
Körper beschränkt wie wir. Es ist das personifizierte Wort. Das
Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Der
physische Körper ist wie ein Kleid, das sowohl vom Schüler als auch vom Meister
im Augenblick, wo die innere Reise beginnt, abzulegen ist; denn der Geist muß
diesen Pfad ungehindert beschreiten. Aber solange der Meister als Lehrer für
die verirrten Bücher auf der physischen Ebene wirkt, ist seine Gestalt voll der
göttlichen Barmherzigkeit wahrlich zu preisen, da sie das Licht Gottes um sich
verbreitet und alle mit starken spirituellen Strahlen durchdringt. Der Mensch
ist der Lehrer des Menschen, und der ideale Mensch war immer des Menschen
Leitbild. Die
es als Abgötterei bezeichnen, kennen das Geheimnis der Größe des Meisters
nicht. Dieser „Menschenkult“, wie sie es nennen, ist weit besser als
„Bücherkult“ oder „Idolverehrung“, da es eine Verbindung des niederen
Bewußtseins für das höhere ist. Leben kann nur von Leben kommen, nicht von der
trägen Materie. Hazrat Khusro, ein großer Sufi- Dichter, sagt in seinen
bekannten Versen: Die Leute erklären,
Khusro sein ein Götzendiener. In der Tat, ich gebe
es zu, denn was hat die
Welt mit mir zu tun? Ein
anderer persischer Dichter hat auf seinem Krankenbett gesagt: O unwissender Arzt,
nimm Abschied, denn du weißt nicht, daß es
für den Liebeskranken kein anderes Heilmittel
gibt als den Anblick seines Geliebten. Als
Guru Nanak in seiner Kindheit unter den Qualen der Liebe litt, bat er den ihn
betreuenden Arzt auf ähnliche Weise, zu gehen, da er die Krankheit seines
Herzens nicht finden könne. Ein
Weltkluger und ein Ergebener haben nichts miteinander gemein. Wer niemals die
Hingabe kenngelernt hat, weiß nichts vom Wert eines Meisters, der ein Pol
Gottes ist und in seiner Güte Licht auf die Welt ausgießt. Tatsächlich
ist der Begriff ‚Guru‘ nicht die Benennung für irgendeine Person. Er bezeichnet
und bedeutet eine dynamische Kraft, die in einer bestimmten menschlichen Form
und durch sie wirkt und das Ideal für uns alle ist. Es
ist die den spirituellen Fortschritt fördernde Kraft. Mit seinem Licht des
Geistes überflutet die Welt, und man sieht nichts als Licht. Die Sucher nach
der Spiritualität scharen sich wie Motten um ihn und bringen sich in seiner
heiligen und Ehrfurcht gebietenden Gegenwart selbst zum Opfer dar. Kabir Sahib
sagt: Die Unwissenden
betrachten den Meister als einen Menschen; sie werden
vom Wirbelwind der Welt erfaßt und gehen unter. Ihr
Körper und Gemüt sind bedeutungslos, und
sie können nichts erreichen. Sie sind außerstande, in
sich Hingabe zu entwickeln und der Gebundenheit zu
entrinnen. Solche Jivas stürzen kopfüber ins
Höllenfeuer und drehen sich unaufhörlich mit dem gewaltigen
Rad der Schöpfung. |