12. Kapitel

Der Guru ist ein Übermensch oder Gottmensch

 

Als Mensch verkörpert der Guru das Ideal eines Menschen: in ihm erstrahlt die Sonne der Spiritualität. Er ist der Urquell des Lebens, der Inbegriff der gesamten sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung, von Sat Lok angefangen bis herunter zur physischen Ebene. Keiner kann ihn ganz erkennen, so wie es unmöglich ist, das Meer zu durchschwimmen. Für ein kurzes Bad begibt man sich nicht in die Mitte des Meeres, sondern begnügt sich mit dem Wasser am Strand oder Badeplatz. Durch den vollendeten Menschen kann man sich der Liebe, des Lichts und Lebens Gottes erfreuen.

Wenn wir nach seiner Größe und Herkunft fragen, wie er herabkommen und welches seine Mission im Leben ist, kann nur soviel gesagt werden, daß er direkt von Sat Lok oder dem Reich Gottes kam und nach den verschiedenen Zwischenebenen (Tap Lok, Jan Lok, Swar Lok, Bhanwar Lok usw.) die physische Welt oder Bhu Lok erreicht hat, allein um den Weltmüden seine Gottheit zu offenbaren.

 

                            Kommet her zu mit alle, die ihr mühselig und

                            beladen seid; ich will euch erquicken.

                                                                           Matth. 11, 28

 

                            Denn des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen

                            und selig zu machen, was verloren ist.

                                                                           Luk. 19, 10

 

Der Murshid-i-Kamil (vollendete Meister) ist eine wahre Wohnstatt der Eigenschaft Gottes, die er in reichem Maße besitzt. Das gültige Licht des Himmels scheint in ihm, und er verbreitet es unter den Menschen. In ihm wogt die Liebe Gottes gleich einem bewegten Wasser des Meeres ...

 

                            ... das Priesterwerk der Reinigung, das die See rund

                            um die Erde wirkt am Menschenstrand ...

                                                                           Keats

 

Vor allem ist er das Leben des Lebens, und seine größte Mission ist es, den ganz in weltliche Bestrebungen vertieften Jivas, die völlig erstarrt und für höhere Regungen tot sind, den Lebensimpuls zu übertragen. Der Höchste kann im Gottmenschen wohl erkannt werden. Es heißt, daß Gott den Menschen ihm zum Bilde schuf  und den Engeln befahl, sich vor diesem zu beugen. Maulana Rumi sagt:

 

                            Er hat fürwahr die Sonne in den Menschen

                            hineingelegt.

 

Wenn sich einer ins kosmische Bewußtsein erhebt, erkennt er, daß der Meister der Mittelpunkt des ganzen Universums ist. Er ist die personifizierte Wahrheit vom reinen Wesen Gottes und der Verehrung aller würdig.

Er ist der Führer und Lenker des Menschen, der größte, höchste und vollendete unter ihnen. Er ist wirklich die Verkörperung alles Guten und Edlen. Er ist das Urbild Gottes und wirkt als sein Vizeregent, der seine Gesetze auf allen Ebenen (der physischen und der spirituellen) handhabt. Ihn zeichnen richterlicher Scharfsinn, große Unterscheidungskraft und ein gesundes Urteilsvermögen aus. Er mag ungebildet sein, ist aber dennoch der Gelehrteste. Auch als Mensch ist er der Heiligste der Heiligen, von höchster Frömmigkeit und Liebe, einer Liebe, die über die Grenzen sozialer Gemeinschaften, Länder und Nationen weit hinausreicht. Sein Selbst ist so alt wie die Menschheit. Er ist der Weltbürger, und sein Aufruf hat universale Bedeutung. Er ist, mit einem Wort, der gesandte Gottes, der in die Welt kam, um seine Liebe, sein Licht und Leben mit der irrenden Menschheit zu teilen.

In dieser Welt lebt er wie jeder andere. Obgleich in der Welt, ist er nicht von der Welt. Er liebt alle Menschen viel mehr als Eltern ihre Kinder. Er kennt unsere Fehler, schaut aber über sie hinweg und hilft uns lächelnd, sie zu überwinden. Voller Barmherzigkeit und einem unstillbaren Verlangen in der Seele, geht der Menschensohn wie Christus mit wunden, schmerzenden Füßen endlos umher und sucht hingebungsvoll wiederzufinden und zu retten, was verloren ist: den Menschen, seinen Bruder, die verlorengegangene Seele.

Er mag wie ein Mensch aussehen, ist aber in Wirklichkeit weit mehr, mehr sogar als ein Übermensch. Er ist in jeder Hinsicht vollendet: physisch, geistig, moralisch, spirituell und als Offenbarung Gottes. Bei aller Größe tut er sein Werk als Niedrigster unter den Niedrigen, als Bescheidenster unter den Bescheidenen. Er vereinigt in sich Macht und Armut, Verstandeskraft und Liebe, Größe und Demut.

Als Meister der Wahrheit übertritt er selbst den Übermenschen bei weitem. Sein Einfluß erstreckt sich bis in die rein spirituellen Regionen, die jeweils der menschlichen Begrenzungen von Raum, Zeit und  Kausalität liegen. Er kann den physischen Körper willentlich verlassen, Sonne und Mond betreten, die feinstofflichen und kausalen ebenen durchqueren wie auch Par Brahm und was darüber liegt.

Die wissenschaftliche Forschung mit ihren materiellen Errungenschaften tappt im dunkeln. Sie befindet sich noch völlig in der materiellen Welt, wo die Wissenschaftler mit all der ihnen zu Gebote stehenden geistigen und moralischen Kraft hart arbeiten. Sie haben keine Vorstellung von den verschiedenen Ebenen, die dem Meister der Wahrheit nach seinem freien Willen und Wohlgefallen zugänglich sind.

Wer die Lehren des Meisters annimmt und nach seiner Weisung arbeitet, kann mit eigenen Augen sehen. Alle Heiligen stimmen darin überein:

 

                            Das Reich Gottes liegt im Innern.

 

Christus sagt uns:

 

                            Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen

                            Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe hier!

                            oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist

                            inwendig in euch.

                                                                           Luk. 17, 20-21

 

Auch im Gurbani finden wir:

 

                            Alles in euch, nichts ist außerhalb von euch.

                            Die Suche im Äußeren ist fruchtlos, o Bruder, da ihr

                            das Kronjuwel in euch habt.

                            Wer außen sucht, befindet sich noch in der Wildnis.

 

Der menschliche Körper ist der Tempel Gottes. Er ist die wirkliche, von Gott geschaffene Kirche, Synagoge und Moschee. Wie beklagenswert, daß wir ihn in von Menschen gebauten Häusern suchen! Wer tief in die Höhe des menschlichen Gemüts einzudringen und im Laboratorium der Seele zu experimentieren weiß, ist imstande, Wunderbares und Erhabenes zu schauen und die himmlischen Melodien der göttlichen Harmonie zu hören.

Alles ist im Körper: Khand, Mandal und Patal (hohe und niedrige innere Ebenen einschließlich der Unterwelt). Er birgt den Kronschutz der Spiritualität, und ein Ergebener kann ihn in Fülle haben. Der ganze Makrokosmos ist im Mikrokosmos. In diesem Körper kann man Naam (das Wort) erlangen, wenn man den Weisungen des Meisters folgt.

 

Der große Philosoph Sannai sagt uns:

 

                            Im Reich des menschlichen Körpers gibt es zahllose

Firmamente und geordnet wirkende Kräfte. Der Geist

                            muß so manche hohe und niedrige Bereiche, Berge

                            und Flußtäler durchqueren. Es gibt da viele Ebenen,

                            Meere, Wüsten und schwindelnde Höhen, von denen

                            man sich kaum eine Vorstellung machen kann. In die-

                            sem gewaltigen Irrgarten ist die physische Welt nur ein

                            winziger Fleck auf dem großen Meer.

 

Als der Tempel Gottes ist der Menschenkörper ein Abbild der großen Schöpfung, und wer ihn ergründet, wird das Geheimnis der Schöpfung.

 

                            Brahmand und Pind wurden gleich gestaltet. Die

                            Erforschung des einen offenbart von selbst, wie ein

                            aufgeschlagenes Buch, das Mysterium des anderen.

 

Wirklich groß ist der Mensch, da er zahllose Möglichkeiten hat. Der ganze Makrokosmos befindet sich im Mikrokosmos des Körpers. Wir aber schauen auf die äußere Hülle, mit der wir ständig beschäftigt sind, und wissen wenig, was sich hinter dieser verbirgt. Wir hegen und pflegen den Körper, lassen jedoch seine Wurzeln vertrocknen. Die Wurzeln der gesamten Schöpfung nehmen ihren Ausgang in der feinstofflichen Region, in die wir durch einen Prozeß der Umkehr gelangen können.

 

                            Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht

                            empfängt als ein Kindlein, der wird nicht

                            hineinkommen.

                                                                           Mark. 10, 15

 

Aber unglücklicherweise haben wir nie einen Blick nach innen getan, weil es uns widerstrebt, wie ein kleines Kind zu werden. Auch Emerson, ein großer Philosoph, ermahnt uns, „innen anzuklopfen“. Bergson gibt uns den Rat, „innerlich einen Todessprung“ zu