Kirpal Singh

Gespräche von Herz zu Herz

September 1969

Abend-Darshan/Sawan Ashram, Delhi

Meister: Der Meister kommt für die Sünder. Wer zu ihm kommt, den zieht er für eine Weile nach oben. Doch um oben bleiben zu können, ist Reinheit erforderlich. Selbst dem größten Sünder gibt der Meister einen Auftrieb und erhebt ihn schließlich über das Körperbe-wußtsein. Wenn ein Mensch durch das zehnte Tor schaut, das Tor zur inneren Welt, dann sieht er Licht. Der Meister gibt jedem Menschen, ob gut oder schlecht, sündig oder tugendhaft, zu Beginn einen Auftrieb. Wer der Welt nicht zu sehr verhaftet ist, wird dort bleiben können. Daher ist es notwendig, rein zu werden. Der Meister reicht jedem seine Hand, auch dem größten Sünder. Er liebt den Sünder, aber er haßt die Sünde. Er gibt jedem, der zu ihm kommt, eine Auftrieb, etwas, womit er beginnen kann. Wie kann ein Mensch Licht sehen, wenn er nicht nach oben gebracht wird? Das Licht schließlich zu sehen, ist vergleichbar mit dem Erreichen des Daches, nachdem man die Treppen hinaufgestiegen ist. Nähert man sich dem Dach, sieht man das Licht. Zieht man sich von außen zurück und erhebt sich über das Körperbewußtsein, so kommt man der Stell immer näher, wo sich das Tor zur inneren Welt befindet. Erst dann ist man in der Lage, das Licht zu sehen. Das vermittelt der Meister jedem.

Der entscheidende Punkt ist jedoch, daß sich ein Mensch, der der Welt sehr verhaftet ist, erst wandeln muß. Deshalb wird ihm geraten, ein tugendhaftes Leben zu führen. Ich möchte euch ein Beispiel geben: Heutzutage gibt es chemische Reinigungen, doch früher wurden beim Waschen die Kleider gegen Steine geschlagen, um allen Schmutz herauszulösen. Selbst wenn die Kleidung stark verschmutzt war, machte das nichts aus. Der Wäscher wies sie niemals zurück, sondern nahm sie an und reinigte sie. Das war seine Arbeit. Heute haben sich die Zeiten geändert. Früher war es harte Arbeit. Heute jedoch wendet der Meister die chemische Reinigung auf liebevolle Art und Weise an, mit gutem Zureden und sanften Worten. Er sagt: „Bitte kommt nach oben, laßt allen Schmutz zurück.“ Nur zu diesem Zweck werden alle Initiieren gebeten, das spirituelle Tagebuch zu führen. Zuerst aber gibt der Meister jedem einen Auftrieb, er nimmt jeden an. Er kommt für die Sünder ebenso wie für die Tugendhaften.

Frage: Einige von uns wurden Zeuge, wie du gestern 165 Inder über das Körperbewußtsein erhoben hast. 63 von ihnen sahen den Meister innen, und andere - ei-gentllich alle - hatten die eine oder andere Erfahrung. Hätte eine gleich große Gruppe Nicht-Inder ähnliche Erfahrungen gehabt?

Antwort: Alle erhalten etwas. Ob Inder oder nicht, spielt keine Rolle. Als ich im Westen war, erhielt jeder, der initiiert wurde, eine Erfahrung und sogar die, die nicht initiiert wurden. Ich hielt immer einen Vortrag aus dem Stegreif und beantwortete dann eine Stunde lang Fragen. Alle wurden eingeladen, zur Meditation am nächsten Morgen zu kommen. Alle die kamen, auch die Nichtinitiierten, hatten eine Erfahrung. Eine Frau sagte zu mir: „Ich möchte keinerlei Theorie hören. Bitte gib mir eine Erfahrung.“ Sie wurde erhört. Die Erfahrung wird durch einen Auftrieb möglich, der der Seele hilft, sich von außen zurückzuziehen und nach oben zu gehen. Dies geschieht im Westen ebenso wie im Osten.


Frage: Einige nennen den Pfad, den du lehrst, eine Wissenschaft. Die meisten von uns sprechen dann von Wissenschaft, wenn etwas bei genauem Einhalten der Instruktionen wiederholt werden kann. Doch offenbar gibt es in diesem Fall ein zusätzliches Element, nämlich den Meister. Fällt der Pfad nicht durch dieses zusätzliche Element aus dem Bereich reiner Wissenschaft heraus?

Antwort: Was ist der Meister? Er ist nicht der menschliche Körper. Die Kraft, die durch ihn wirkt, ist es, die den Auftrieb gibt. Ein kleines Kind lernt manches von seinem Vater, seiner Mutter und von seinen Geschwistern. In der Schule lernt es von den Lehrern. Ähnlich kommen die Schüler durch die Hilfe des Meisers auf dem Pfad ein Stück voran. Das kann nicht jeder vermitteln. In der Natur geht selbstverständlich nichts verloren, aber manchmal werden die Dinge beschleunigt. Überläßt man z.B. einen jungen Obstbaum dem Lauf der Natur, dauert es sieben oder acht Jahre bis er Früchte trägt. Wird er jedoch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gedüngt, trägt er bereits nach zwei oder drei Jahren. Ebenso ermöglicht eine höhere kompetente Seele den Weg nach oben und verhilft so einer anderen Seele zu dieser Erfahrung. So war es auch im Westen. Ich kam nach Athen und hielt dort eine Ansprache. Ich spreche kein Griechisch und Professor Halas übersetzte. Anschließend wurden Fragen gestellt und ich beantwortete sie. Am Schluß sagte ich zu den Zuhörern: „Kommt morgen früh zur Meditation.“ Es kamen fünfzig bis sechzig Leute, und sie erhielten alle eine Erfahrung. Daraufhin strömten die Menschen geradezu herbei. Das veranlaßte Professor Halas ein dickes Buch zu schreiben, in dem er sagt, Pythagoras hätte dasselbe gelehrt und auch Sokrates hätte dieses und jenes gesagt. Er brachte mein Foto in dieses Buch und erklärte, ich hätte diese uralte Wissenschaft wiederbelebt. Es wird also immer noch das Gleiche weitergegeben. Heute ist das Entscheidende, es zu bewahren. Wir dürfen nicht so sehr am Äußeren verhaftet sein. Doch gleichzeitig müssen wir ein normales Leben führen. Ihr könnt euch innen nicht konzentrieren, wenn ihr zu sehr an äußere Dinge verhaftet seid, denn sie ziehen euch nach außen. Deshalb müßt ihr das Tagebuch führen. Der Meister ist derjenige, der euch den Auftrieb gibt. Das bewirkt jedoch Gott in ihm, nicht der Menschensohn.

Frage: Wenn ein Initiierter, der nicht sehr entwickelt ist, jemanden zur Initiation vorschlägt, nimmt er dann einen Teil von dessen Karma auf sich?

Antwort: Nein, nicht im geringsten. Das ist allein Gottes Sache, der Mensch ist nur Vermittler. Wenn jemand bereit ist, dann sorgt Gott für den richtigen Kontakt. Man erfährt dann etwas durch irgend jemanden oder durch die Zeitung oder sonst wie. Er wird von Gott geführt und mit dem Meiser in Kontakt gebracht. Der Meister genehmigt schließlich die Initiation durch eine Beauftragten in dem entsprechenden Land, denn die Meisterkraft wirkt überall. Mit einem Gedankenimpuls gibt er dem Betreffenden einen Auftrieb. In den meisten Fällen bekommt er auch eine Erfahrung. Wenn nicht, dann nur, weil er entweder zu aufgeregt ist oder sehr müde zur Initiation erscheint. Für diesen Fall weise ich die Gruppenbeauftragten an, ihm eine weitere Sitzung zu geben, wenn er ausgeruht und frisch ist. Die Meisterkraft wirk über all - es ist die Christuskraft, die Gotteskraft, die Meisterkraft.

Frage: Ich habe eine Frage zur vegetarischen Ernährung. Nimmt ein Initiierter, wenn er zu Hause für einen hilflosen Behinderten sorgen muß und wenn dieser Behindere Fleisch essen will, Karma auf sich, wenn er für ihn Fleisch zubereitet?

Antwort: Wenn es zu seiner Picht gehört, ist er nicht verantwortlich. Wenn ich zum Beispiel bei jemandem angestellt bin oder in der Armee diene, und ein Offizier gibt mir einen Befehl, dann muß ich diesen ausführen. Dafür ist dann der Offizier verantwortlich. Gibt der Offizier zum Beispiel den Befehl „Feuer“, muß der Soldat gehorchen -, verantwortlich ist jedoch der Offizier. Der Soldat ist verpflichtet zu gehorchen, daran kann er nichts ändern. Wesentlich dabei ist, daß der Betreffende nicht zum Handelnden wird. Dann ist alles gut und er ist gerettet. Baba Jaimal Singh war auch Soldat. Er diente an vorderster Front. Einmal erhielt er den Befehl, dem Regiment Fleisch auszuteilen. Er gehorchte; es war seine Pflicht. Sobald der Soldat jedoch zum Handelnden wird, ist er verantwortlich. Wenn der Offizier befiehlt „Feuer“ - dann schieße! Du tust es nicht aus eigenem Willen. Das ist der entscheidende Punkt.

Frage: Mit anderen Worten: Wenn ich zufällig eine Ameise ein Abflußrohr hinaus schwemme, bin ich nicht verantwortlich, wenn ich es aber vorsätzlich tue, dann bin ich es?

Antwort: Selbst wenn wir atmen, sündigen wir. Wir töten so viele Insekten, die wir nicht sehen. Um der höheren Dinge willen müssen wir die niederen opfern. Aber sucht euch die kleinste Sünde aus. Selbst eine Pflanze zu essen, ist Sünde. Sogar in Steinen ist Leben, ebenso wie in Pflanzen, Insekten, Reptilien, Vögeln, Vierfüßlern und im Menschen. Entscheidend ist jedoch, daß das Leben im Menschen höher entwickelt ist. Die ganze Schöpfung besteht aus fünf spirituellen Elementen: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Die Pflanzen gehören der untersten Kategorie an, denn sie haben nur ein Element, nämlich Wasser. Legt ihr Pflanzen zum Trocknen in die Sonne, wird aus zehn Kilo all-mählich ein halbes. Der Hauptanteil ist also Wasser. Trotzdem steckt Leben in ihnen. In den Reptilien ist schon mehr Leben und es ist eine größere Sünde, ein Reptil zu töten. Noch größer ist die Sünde, einen Vogel oder gar einen Vierfüßler zu töten. Auf den Mord an einem Menschen, in dem das Leben voll manifestiert ist, steht in manchen Ländern sogar die Todesstrafe. Das Töten eines Vierfüßlers oder eines anderen höheren Tieres wird nicht mit der Todesstrafe geahndet, doch muß sein Wert ersetzt werden. Wer kümmert sich darum, ob man einen Vogel tötet? Die Bewußtheit offenbart sich im Menschen am stärksten. In ihm sind alle fünf Elemente vollständig entwickelt, in den Vierfüßlern sind es vier Elemente, in den Vögeln drei, in den Reptilien zwei und in den Pflanzen nur eines. Ein Element zu töten, also Pflanzen, ermöglicht es dem Menschen zu leben, obgleich dies auch Sünde ist. Dieser Sünde kann aber keiner entkommen, es sei denn, er wird ein bewußter Mitarbeiter am göttlichen Plan.

Frage: Das ist eine sehr interessante Aussage. Wer ist ein bewußter Mitarbeiter am göttlichen Plan?
Antwort: Ein Mensch, der Gott als den Handelnden, als die alles kontrollierende Kraft erkennt. Er sieht diese Kraft überall wirken, überall sich offenbaren. Wenn er erkennt, daß er nur eine Marionette ist, dann ist er ein bewußter Mitarbeiter am Göttlichen Plan.

Frage: Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt. Um diese Kraft zu erkennen, müssen wir durch jenes Tor, über das wir sprachen.

Antwort: Sicherlich. Jeder erhält einen Auftrieb. Der Meister gibt ihn, damit der Schüler nach oben gehen und etwas erfahren kann, damit er beginnen kann. Will ein Mensch aber dort oben blieben, dann muß seine Entwicklung bereits dieser Ebene entsprechen. Jeder Mensch ist im Werden. Früher wurden die Menschen lange vorbereitet, und erst wenn sie bereit waren, gab ihnen der Meister etwas. Diese Zeiten sind vorbei. Heute kann niemand bei einem Meister jahrelang leben. Heute müssen die Menschen zuerst etwas erhalten, dann erst werden sie aufgefordert, sich durch Selbstbeobachtung auf das erforderliche Niveau zu erheben. Die Zeiten haben sich geändert.

Frage: Ich glaube, es gibt eine Geschichte von dir oder deinem Meister Baba Sawan Singh. Es heißt, jemand kam zu dir und sagte: „Bitte nimm mich hinauf.“ Dieser Mensch war jedoch noch nicht bereit. Er wurde erhoben und durch starkes Licht geblendet. Könntest du darüber etwas sagen?

Antwort: Nein, nein, es war nicht das Licht. In Meerut kam eines Tages ein Mann zur Initiation. Es wurde ihm eine Sitzung gewährt; er hatte keinerlei Erfahrung. Ich gab ihm eine zweite Sitzung, aber er konnte seinen Körper nicht verlassen. Er was sich des Atems stets bewußt, er konnte die äußeren Dinge nicht loslassen. Da sagte ich zu ihm: „Nun gut, du hast eine Sitzung gehabt und ich habe dir erklärt, was du tun mußt. Wenn du es tust, dann wirst du das Ziel erreichen, du wirst es sicher erreichen. Geh nach Hause, setz dich hin und tu, was ich dir gesagt habe.“ Am Morgen kam er wieder, er hatte nichts erreicht. Ich sagte ihm: „Schau her, wenn du nur einfach deinen Blick hierher richtest, wird es leichter für dich sein. Wenn du hochgezogen wirst, wirst du hinfallen und dich verletzen.“ Er sagte: „Das macht mir nichts aus. Zieh mich.“ Als er ein wenig gezogen wurde, schlug sein Kopf gegen die Wand und er fiel bewußtlos hin. So etwas kann geschehen, wenn jemand zu sehr gezogen wird. Man sollte einfach seinen Blick in die Mitte dessen richten, was man vor sich sieht und dabei nicht an die äußere Welt, nicht an den Körper, nicht an den Atem denken, der von selbst weitergeht. Das ist die einzige Methode. Konzentriere einfach deinen Blick hier in der Mitte zwischen und hinter den Augenbrauen, und du wirst das Ziel erreichen. Das ist leichter, denn dann wirkt keine Kraft dagegen. Wenn du zu stark außen verhaftet bist und jemand zieht dich, verursacht das natürlich Schmerz.

Frage: Was geschieht mit Initiierten, die die Initiation zwar erhielten, aber deine Instruktionen nicht befolgen und nicht mehr meditieren?

Antwort: Die Saat geht nicht verloren. Keine Macht kann sie vernichten. Sie wird wachsen und gedeihen, früher oder später, wenn die Umstände geeignet sind. Wenn jemand krank wird, in eine schwierige Situation gerät, sagt er natürlich: „O Gott, was habe ich getan?“ Kehrt ein Mensch um, dann findet er wieder zurück. Ich habe solche Fälle gesehen. Mein Meister sagte immer: „Ich habe eine lange Leine. Laßt uns sehen, wie weit er geht.“ Wenn die Leine dann ein wenig angezogen wird, kommt er und reagiert. Selbst wenn er in diesem Leben gar nichts tut, geht die Saat nicht verloren. Er wird wieder als Mensch geboren, nicht darunter, denn die Saat kann in keiner anderen Form gedeihen. Der Mensch entwickelt sich, wie ich schon sagte. Einige sind bereit, andere weniger. Wenn diese Saat in einen Menschen gelegt wurde, und er bereits in der Vergangenheit etwas geleistet hat, dann zählt das zu seinen Gunsten. Angenommen, jemand geht von einer Schule nach der ersten Klasse ab, dann beginnt er in einer anderen Schule nicht wieder mit der ersten Klasse, sondern dort, wo er aufgehört hat.

Eins ist ganz sicher: Liebe ist eine große Macht. Wenn ihr den Meister liebt, werdet ihr sehr stark gezogen, auch wenn ihr ein Sünder seid. Was ist Sünde? Sünde ist, die Aufmerksamkeit am Äußeren verhaftet zu lassen, mögen es gute oder schlechte Dinge sein. Entschuldigt, wenn ich das sage. Selbst wenn sie an rechten Dingen haftet, ist sie ein Hindernis. Ihr seid zu sehr verhaftet! Ihr müßt euch zurückziehen. Wohin wird der gehen, der den Meister liebt? Dorthin, wohin der Meister geht, doch nur wenn seine Liebe zum Meister die beherrschende Leidenschaft ist, wenn er voller Liebe und Vertrauen ist. Das ist natürlich selten. Wer nur wenig tut, ist wie das Holz eines Baumes, das von einer Brandkrankheit befallen ist, das innere Holz wird dabei zersetzt, während äußerlich alles in Ordnung zu sein scheint. Wer die Initiation erhalten hat, in dem arbeitet es vergleichsweise wie bei einer solchen Krankheit - äußerlich erscheint er weltlich, er wird jedoch vom Weltlichen ganz allmählich losgelöst. Am Ende sagt er: „O Gott, führe mich weiter.“ Hilfe kommt auch von innen, denn der Meister ist immer dort. Wir müssen ihm nur unseren Blick zuwenden, das ist alles. Je empfänglicher wir werden, desto schneller werden wir Erfolg haben.

Frage: Ich danke dir, meister.

Antwort: Gut, ich danke euch auch für eure Fragen.

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