SANT KIRPAL SINGH

 

 

Das Leben und die Lehren von Babaji Jaimal Singh

 

 

 

Dem Allmächtigen Gott gewidmet,

 

der durch alle Meister wirkt, die gekommen sind,

 

und Baba Sawan Singh Ji Maharaj,

 

zu dessen Lotosfüßen der Verfasser

 

das Heilige Naam - das Wort -

 

aufnahm

 

 

 

Diese Musik geht von einer transzendenten Ebene im Innern

aus

Und wird von einem Soldaten-Heiligen aufgefangen.

 

 

I

 

Die große Tradition

 

Der Gottespfad

 

Der Weg zurück zu Gott ist nicht des Menschen, sondern Gottes Werk und daher frei von allem Künstlichen und Unnatürlichen. Gott zieht den Menschen durch Seinen Auserwählten, den Gottmenschen, zu sich, dem das Geheimnis des Pfades (des Gottespfades) durch einen Sant Satguru zum Segen der Menschen direkt enthüllt und offenbart wird.

Die Meister, Erlöser, Lehrer und Propheten der ganzen Welt werden in zwei Gruppen eingeteilt, von denen jede eine gesonderte Mission zu erfüllen hat. Die einen haben allein zum Ziel, die Welt harmonisch in Gang zu halten, während die anderen beauftragt sind, die Seelen zurückzuführen, die reif sind heimzugehen und danach Verlangen tragen, bald zu der spirituellen Quelle zu kommen, von der sie sich vor langer Zeit getrennt hatten und nach unten, auf die materielle Ebene, abgetrieben wurden. Zur ersten Kategorie gehören alle Reformer, zur zweiten solche Sants und Sadhs, die kompetent sind, Wissen von Gott zu geben und die Kraft Gottes im Menschen zu offenbaren. Der Prozeß des Aufstiegs zurück zur Quelle ist die genaue Umkehrung des Abstiegs zur physischen Ebene. Man muß sich deshalb wieder vervollkommnen, seine umherschweifenden Sinne am stillen Punkt der Seele zwischen und hinter den beiden Augen, so sich Zeit und Zeitlosigkeit berühren, sammeln, ehe der Geist zu sich kommt und sich für die innere Heimreise auf das Meer des Lebens begibt. Dies ist in der Tat immer das Thema aller Weisen und Seher gewesen. Keiner von ihnen hatte jedoch den Wunsch, eine neue Glaubensrichtung oder religiöse Organisation zu gründen. Indem er auf die Existenz der vielen Religionen mit ihrer Fülle verwirrender Theorien und einander widersprechender Dogmen hinwies, pflegte Hazoor Baba Sawan Ji Maharaj zu bemerken: “ es gibt schon so viele Brunnen überall; warum sollte man noch mehr Fallgruben ausheben und die Verwirrung dadurch nur schlimmer machen? “ 

Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde; und der Mensch brachte die Religionen hervor, jede nach seinem eigenen Bilde, und machte in seinem Eifer aus allen einen Fetisch. Wahre Religion ist in ihren Anfängen rein und einfach wie ein neugeborenes Kind, das von Leben überschäumt; aber im Laufe der Zeit wird sie wie alles andere zu einer Institution und beginnt dadurch ihren Wert einzubüßen. Sie verliert ihre ursprüngliche, vitale Elastizität, die aus der lebendigen Verbindung mit dem Meister-Geist hervorging, und nimmt allmählich einen gesellschaftlich-ökonomischen Charakter an. Statt ein seidenes Band der Liebe zwischen den Menschen zu sein, wird sie zur Quelle beständigen Streits, der Erbitterung und Mißgunst und trennt Klassen, Länder und Völker. Wenn dann der Becher menschlichen Elends bis zum Rande gefüllt ist, kommt der Retter mit der Botschaft der Hoffnung, Erlösung und Erfüllung für die zerrissene Menschheit. Er sucht die schwärenden sozialen Wunden zu verbinden und lehrt den Menschen die Einheit und Ebenbürtigkeit, um das Gleichgewicht auf der Skala der menschlichen Werte wiederherzustellen. Darüber hinaus ist es sein Hauptziel, die menschlichen Seelen einem höheren Zweck zuzuführen, dem wahren Leben des Geistes, das sich von dem des Fleisches unterscheidet. Dies war in der Tat auch das Ziel von großen Meistern wie Zoroaster, Mahavira, Buddha, Christus, Mohammed, Kabir und Nanak zu ihrer jeweiligen Zeit, gemäß den damals vorherrschenden Bedingungen und dem Verlangen der Menschen; denn sie sind immer bemüht, sie auf dem Wege des geringsten Widerstandes zu leiten, und vermitteln die grundlegende Güte in Worten, die leicht auf ihren geistigen Entwicklungsstand Einfluß haben und geeignet sind, einen Schritt weiterzuhelfen im Entwicklungsprozeß oder der Entfaltung des Geistes. Dies tun sie für die Menschheit allgemein, indem sie ihre Inspiration aus der unerschöpflichen Quelle des Geistes im Innern ziehen, die für alle diesselbe ist.                                                                                                                                                         

                                                                                                                                                      

 

Das reiche Erbe

 

 

Im religiösen Denken des modernen Indien ist die Periode von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts von überragender Bedeutung. Es ist eine Ära, in welcher der Versuch gemacht wurde, die Religion den Bedürfnissen der Zeit neu anzupassen und sie in ihrer einfachsten Form, der Form wahren Glaubens, allumfassender Liebe und aufrichtiger Ergebenheit, zu lehren, im Gegensatz zur Strenge des priesterlichen Ritualismus und Fanatismus, die zu Intoleranz und Bigotterie führen. Zu den großen Lehrern dieser Epoche gehören Persönlichkeiten wie Ramananda und seine Hauptschüler, die verschiedener Herkunft waren (Raja Pipa; Ravidas, ein Schuster; Saina, ein Barbier; Kabir, eine Weber; Dhanna, ein Soldat; Narhari, Sukha Padmavati, Sursura und seine Frau usw.); Vallabhacharya, der bekannte Vertreter des Krishna-Kults; Chaitanya Mahaprabhu aus Nadia in Bengalen mit seiner charakteristischen Betonung von Hari-bhole (den Namen des Herrn preisen); Namdev,der Kattundrucker in Maharashtra, und die großen Heiligen Kabir und Nanak im Norden. Keiner von ihnen legte besonderen Wert auf Idol-Verehrung oder die Beachtung äußerer religiöser Formen und Symbole. Selbstreinigung, Liebe und inneres Verlangen waren ihre ständigen Themen.

 

 

Namdev sagte:

 

        Die Liebe für ihn, der mein Herz erfüllt,

        soll niemals enden;

        Nama hat sein Herz dem wahren Namen geweiht.

        Gleich der Liebe zwischen einem Kind

        und seiner Mutter

        ist meine Seele von Gott durchdrungen.

 

Ebenso sagt Kabir:

 

        Es ist unnötig, einen Heiligen zu fragen,

        welchem Stand er angehört;

        Der Barbier wie der Waschmann haben Gott gesucht

        und ebenso der Zimmermann;

        auch Ravidas suchte nach Ihm.

        Der Rishi Swapacha war Gerber von Beruf.

        Hindus und Moslems haben das Ziel

        erreicht, wo kein Merkmal eines Unterschiedes bleibt.

 

 

Ferner erklärt er:

 

        Nicht durch Fasten, Aufsagen von Gebeten und

        das Glaubensbekenntnis kommt man in den Himmel.

        Der innere Schleier des Tempels von Mekka

        ist im Herzen des Menschen, wenn die Wahrheit

        erkannt wird.

 

Und Guru Nanak sagte:

 

        Inmitten der Unreinheit der Welt halte am

        Reinen fest; so findest du den Weg zur Religion.

 

 

 

Diese Bewegung erlangte jedoch die höchsten Höhen unter der Führung Kabirs (1398-1518) und seines jüngeren Zeitgenossen Nanaks (1469-1539). Beide erhoben sich über die Fesseln der Welt, überschritten die religiösen Barrieren und wurden so von Hindus und Moslems gleicherweise verehrt. Mittelpunkt ihrer Lehren war Gott, der Mensch und die Beziehung zwischen beiden. Sie waren Vertreter des Surat Shabd Yoga (Yoga des Tonstroms oder der Verbindung mit dem Heiligen Wort), und ihre Schriften rühmen ihn als die Krone des Lebens. Wenn wir den Wesenskern einer der religiösen Lehren in ihrer ursprünglichen Reinheit und Wahrheit studieren würden, so wie er in den Aussprüchen der Meister dargelegt, von ihnen selbst tatsächlich praktiziert und ihren auserwählten Schülern - den Gurmukhs oder Aposteln - weitergegeben wurde, dann erkennen wir zweifellos, daß sie alle in der einen oder anderen Form Ergebene des transzendenten Hörens und Sehens waren, ganz gleich auf welcher Stufe.

Den Laien freilich vermitteln sie ihre subtilen Gedanken nur in Gleichnissen, da sie anders ihre subtilen Lehren gar nicht anhören, geschweige dann verstehen würden. Solche Weltlehrer dienen als Leitstern auf dem stürmischen Meer des Lebens, und sie suchen die Menschen aus der Mühsal im Treibsand der Zeit zu erretten. Als Kinder des Lichts kommen sie in die Welt, um die Finsternis der Seele zu vertreiben, und werden darum Guru genannt: der die Finsternis zerstreut, eine aus Unwissenheit über die wahren Werte des Lebens geborene Finsternis. Sie haben grenzenlose Liebe für alle Religionen und ihre Oberhäupter und gleiche Achtung für alle heiligen Schriften. Ihre Herde ist universaler Art; sie umfaßt in einem weiteren Rahmen die ganze Menschheit in all ihren mannigfaltigen Farben und Formen und sättigt sie gleichermaßen mit der Liebe Gottes. In diesem Zusammenhang sagt Kabir:

 

 

                         Alle unsere Weisen sind der Verehrung würdig,

                      doch meine Ergebenheit gehört einem,

                      der das Wort gemeistert hat.

 

 

Weiter sagt er uns, daß er sich mit seiner göttlichen Botschaft von Zeit zu Zeit zum Wohle der Menschheit inkarniert habe. Er kam in allen vier Yugas oder Zeitzyklen, zuerst als Sat Sukrat, dann als Karna Mai, danach als Maninder und schließlich als Kabir im Kali Yuga, der gegenwärtigen Zeitspanne.

Auch Guru Nanak läßt uns immer wieder wissen, welche große Bedeutung und überragende Wirksamkeit die Methode des Surat Shabd Yoga als Mittel zur Erlösung hat.

Wie sich die Lotosblume über den schlammigen Teich erhebt oder der königliche Schwan sich trocken aus dem Wasser emporschwingt, so überquert man durch die Verbindung mit dem Wort unversehrt das schreckliche Meer des Lebens.

Das ist kurz die erhabene Botschaft, die seit Beginn der Schöpfung zu uns herabkommt und den Pfad zu Gott rühmt. Alle indischen Heiligen und viele christliche Mystiker praktizierten die innere Wissenschaft und verbanden menschliche Seelen mit der rettenden Lebensschnur im Innern 1). Immer wieder, wenn die Menschen die Wirklichkeit vergessen, nimmt die Gnade Gottes einen menschlichen Körper an und wird dann Heiliger genannt, der die irrende Menschheit auf den altehrwürdigen, ewigen Pfad führt. 

Es ist ein Vorrecht, das vom Höchsten gewährt und Seinem Geheiß entsprechend weitergegeben wird.

“ Der Wind bläst, wo er will “, und niemand kann irgendwelche Regeln der Nachfolge, den Ort oder die Zeit festlegen oder vorhersagen. Diese reiche Erbschaft geht von Auge zu Auge und läßt sich weder an die üblichen  “Gaddis”, die sogenannten heiligen Stätten oder Orte, binden, noch ist sie von menschlicher Anerkennung, weltlicher oder geistiger Art, abhängig. Guru Nanak, der seinen Sitz in Kartarpur hatte, gab sein spirituelles Erbe an Bhai Lehna weiter, der als Guru Angad nach Khadur Sahib ging, während sein Nachfolger, Guru Amar Das, seinen Sitz nach Goindwal verlegen mußte. Durch Guru Amar Das entstand Amritsar und wurde später zum Zentrum von Guru Arjan.

 

 

 

So können wir sehen, daß den Orten an sich nichts Besonderes eigen ist. Sie verdanken ihre Heiligkeit dem heiligenden Einfluß der Gottmenschen, die sich während ihrer Lebenszeit an dem einen oder anderen Ort aufhielten. “ Alles ist heilig, wo man in Hingabe kniet. “ Nicht die Orte bringen den Menschen Ehre, sondern die Menschen den Orten.

 

 

Der Strom des Lebens fließt unaufhörlich weiter im endlosen Lauf der Zeit; die Kraft des Zeitlosen erscheint und schwindet im Bereich der Relativität.

Bevor wir mit der Lebensgeschichte von Baba Jaimal Singh fortfahren, lohnt es sich, einen Blick auf den Hintergrund zu tun, der ihn zu dem machte, der er war. Es ist in der Tat die Kraft von Soamiji, die ihn bei allem, was er tat, und wo immer er wirkte, durchströmte, denn er war gänzlich in sich vertieft und dem Göttlichen in sich hingegeben.

Um die Dinge in ihrer rechten Perspektive zu verstehen und die Geschichte unseres spirituellen Erbes damit zu verbinden, müssen wir bis Guru Gobind Singh zurückgehen, dem letzten der zehn Gurus in

der Nachfolge von Guru Nanak.

Die Rani (Königin) eines Ratan Rao Peshwa kam, von Bhai Nand Lal begleitet, zu den Füßen Guru Gobind Singhs, um bei ihm Zuflucht zu suchen.²)

Guru Gobind Singh reiste weit umher von den Himalayas im Norden bis zum Dekken im Süden.

Während seiner ausgedehnten Reisen begegnete er der Herrscherfamilie der Peshwas, lebte bei ihr und weihte einige ihrer Angehörigen in die innere Wissenschaft ein. Es heißt, daß ein Ratnagar Rao der Peshwa-Familie initiiert wurde und den Auftrag erhielt, das Werk Guru Gobind Singhs fortzusetzen.

Sham Rao Peshwa, der ältere Bruder von Baji Rao Peshwa, dem damaligen Regierungsoberhaupt, der mit Ratnagar Rao Verbindung aufgenommen haben muß, zeigt eine bemerkenswerte Eignung für den spirituellen Pfad und kam rasch vorwärts. Im Laufe der Zeit siedelte sich dieser junge Nachkomme der königlichen Familie in Hathras an, einer dreißig Meilen von Agra entfernten Stadt in Uttar Pradesh, und wurde dort als Tulsi Sahib (1763-1843) bekannt, der berühmte Verfasser des Ghat Ramayana, der Wissenschaft des inneren Lebensprinzips, das Mensch und Natur gleicherweise durchdringt. Die viva Lampada (das lebendige Licht) der Spriritualität wurde von Tulsi Sahib an Soami Shiv Dayal Singh Ji (1818-1878) weitergegeben.

Die Verbindung zwischen Tulsi Sahib und Soamiji von Agra wird leicht übersehen, aber es gibt kaum einen Zweifel daran. Aus dem handschriftlichen Bericht von Baba Surain Singh, dem Jivan Chariter Soamiji Maharaj von Chacha Partap Singh und dem Buch Correspondence with Certain Americans von Shri S.D. Maheshwari erfahren wir, daß Soamijis Eltern Schüler des Heiligen von Hathras waren, ihn häufig in seinem Heim aufsuchten, um seinen Darshan zu haben, und seine Reden hörten, wann immer er nach Agra kam. Er war es, der den Söhnen von Lala Dilwali Singh Seth ihre Namen gab, nämlich Shiv Dayal Singh, Brindaban und Partap Singh. Vor der Geburt des ältesten Kindes prophezeite er, daß sich in ihrem Haus ein großer Heiliger offenbaren werde; und nach der Geburt sagte er den Eltern, daß sie nicht länger nach Hathras zu kommen brauchten, da der Allmächtige Herr nun in ihrer Mitte sei.³)

Der Heilige von Hathras war eifrig und lebhaft daran interessiert, Soamijis Leben nach seiner eigenen Art zu formen. Er initiierte das Kind in sehr jungen Jahren, und Soamiji sagte seinen Schülern in den letzten Tagen seines Lebens, daß er die innere Wissenschaft mit seinem sechsten Lebensjahr ausübe.4)

                                                                                                                                          

 

 

Soamijis Verehrung für den Heiligen von Hathras geht aus seinem Leben klar und deutlich hervor.

Er achtete die Schüler Tulsi Sahibs sehr und ehrte unter ihnen besonders den Sadhu Girdhari Das, den er in seinen letzten Jahren unterstützte. Als der Sadhu einmal in Lucknow krank wurde, eilte Soamiji aus Agar herbei und half ihm, die Verbindung mit dem inneren Tonstrom, die er vermutlich aufgrund alten Karmas verloren hatte, vor seinem Ableben wiederzuerlangen.5)

Des weiteren nannte Soamiji seinen Anhängern häufig Beispiele aus dem Leben seines großen Vorgängers, um ihnen die Bedeutung von Tugenden wie Geduld, Nachsicht, Vergebung und Gottesfurcht nahezubringen.6)

Vor seinem Hinscheiden im Jahre 1843 hinterließ Tulsi Sahib sein spirituelles Erbe Soamiji.

Sechs Monate lang war Tulsi Sahib im Zustand des Samadhi (spirituelle Ekstase) in das göttliche Bewußtsein vertieft. Erst nachdem Soamiji ihn besucht hatte, verließ er seine sterbliche Hülle.

Baba Garib Das, einer der ersten Schüler Tulsi Sahibs, bestätigte, daß der spirituelle Mantel von seinem Meister an Munshi Ji (wie Soamiji damals wegen seiner umfassenden Kenntnis des Persischen genannt wurde) übergegangen sei.7) Soamiji verbrachte fünfzehn Jahre seines Lebens in einem kleinen Raum in nahezu unaufhörlichem Abhyasa (spirituelle Übung). Auch nachdem Tulsi Sahib nicht mehr war, besuchte Soamiji weiterhin Hathras, um das Andenken seines Lehrers zu ehren. Bei einem solchen Besuch in Hathras war, wie uns berichtet wird, die Hitze so groß, daß ihn seine Schüler Rai Saligram und Baba Jiwan Lal das letzte Stück der Reise zwischen sich nehmen mußten, da kein Transportmittel verfügbar und der Weg sehr uneben war.8)

Die Hochachtung, die Soamiji dem Granth Sahib entgegenbrachte, welcher die Lehren Guru Nanaks und seiner Nachfolger enthält, scheint letztlich auf einer Familientradition beruht zu haben.

Das Vorlesen aus den Sikh-Schriften war in der Familie eine Glaubenssache. Sein Vater, Lala Dilwali Singh (ein Sahejdhari khatri Sikh und Nanak Panti), liebte das Jap Ji, den Raho Ras und Sukhmani (Sikh-Schriften) sehr, die er täglich mit großer religiöser Inbrunst und tiefer Verehrung las. Eine Kopie des Sukhmani in persischer Schrift, aus der Hand von Soamijis Großvater, Seth Maluk Chand, dem zeitweiligen Diwan des Staates Dholpur, wird noch in den Archiven des Soamibagh aufbewahrt.9)

So durchdrang der Geist von Sant Mat Soamijis ganzes Sein. In späteren Jahren hat Soamiji zumindest bei einer Gelegenheit, als er in seinem Haus im Punni Gali des Jap Ji erörterte deutlich anerkannt, was er dem Punjab spirituell verdankte, und dabei auf Guru Nanak und seine Nachfolger als Quelle der Spiritualität hingewiesen wie auch auf Paltu Sahib und Tulsi Sahib, die späteren großen Vertreter der inneren Wissenschaft. Mit dieser Begebenheit werden wir uns befassen, wenn wir im folgenden Kapitel das Leben Baba Jaimal Singhs zurückverfolgen. Sein jüngerer Bruder, Rai Brindaban Singh, ein Postmeister in Ajodhia, war ein getreuer Schüler von Baba Madhodas aus Mahant Dera Rano Pali in Adjodhia. Wie sein älterer Bruder Shiv Dayal Singh glaubte er fest an den Gurbani und schätzte ihn sehr. Er war beständig in liebevolles Gedenken an den Herrn (Bishambar) vertieft und rühmte Ihn in schönen Versen, wie man aus seinen Werken unter dem Titel Wah-e-Guru-Nama in seinem Urdu-Buch Bahar-i-Brindaban ersehen kann.10)

 

 

                  O Brindaban, laß alles andere beiseite und

                        übe den Japa des großen Namens Wah-e-Guru !

                        Dies wird dir nicht nur Körper, Gemüt und Seele

                        reinigen, sondern auch Erlösung, Frieden und

                        Glückseligkeit bringen.

 

 

                                                                                                                                              

 

Wir erfahren außerdem, daß zu der Zeit, als Lala Dilwali Singhs Ende nahte, sein Sohn Shiv Dayal Singh (Soamiji) bei ihm saß und den Gurbani aufzusagen begann, um die Aufmerksamkeit seines Vaters in dieser entscheidenden Stunde darauf gerichtet zu halten.

Indem er sich auf Baba Bhola Singhs Radhasoami Mat Darpan stützt, berichtet uns Giani Partap Singh in seiner Abhandlung über die Weltreligionen 11), wie Soamiji im Laufe der Zeit ein häufiger Besucher des Sikh-Heiligtums von Mai Than in Agra wurde, zum Gedenken an den Besuch des neunten Gurus, Tegh Bahadur, wo Sant Mauj Parkash, ursprünglich als Didar Singh des Nirmala-Ordens und als großer Sanskrit-Gelehrter bekannt, den Sinn des Gurbani oder der Sikh-Schriften klar erläutert hat. Aufgrund seiner engen Verbindung Mit Sant Mauj Parkash studierte Soamiji den Gurbani und seine Bedeutung für den Surat Shabd Yoga und begann diese heilige Stätte für seine Vorträge über den  Gurbani zu nutzen. In seinem Lebensbild hat Chacha Partap Singh einen solchen Vortrag mit begeisterten Worten anschaulich beschrieben:

 

            Es war ungefähr 8 Uhr morgens, als Maharaj eines Tages

                zum Gurdawara in Mai Than ging. Nachdem er einen oder

                zwei Verse aus dem Granth Sahib vorgetragen hatte, fing er

                an, ihre Bedeutung zu klären. Mit einer vollen und sonoren

                Stimme schienen die erhabenen Gedanken aus ihm herauszu-

                fließen wie endlose Wogen einer unerschöpflichen inneren

                Quelle. Ich war so überwältigt durch die Kraft seiner Worte,

                daß ich mich plötzlich über den Körper und seine Umgebung

                hinausgehoben fühlte, allem verloren, was von dieser Welt

                war. Seit jenem Tag war ich ein ganz neuer Mensch und emp-

                fand ein starkes Verlangen nach dem Göttlichen, völlig über-

                zeugt von der Größe Soamijis und seiner heiligen Mission.12)

 

Nach einiger Zeit verlegte Soamiji den Treffpunkt für seine Lehrgespräche in seine Privatwohnung im Punni Gali und setzte seine Vorträge aus dem Granth Sahib fort (die Kopie des von ihm benutzten Buches brachte Hazoor Sawan Singh aus Agra mit, und sie wird weiter in den Archiven der Dera Baba Jaimal Singh in Beas, Punjab, aufbewahrt). Diese Einrichtung, private Versammlungen in seinem Heim abzuhalten, behielt er für lange Zeit bei, doch am Basant-Panchmi-Tag im Jahre 1861 wurden die Schleusentore des Surat Shabd Yoga, wie er in diesem Zeitalter von Kabir und seinem Zeitgenossen Guru Nanak neu belebt und von seinem Nachfolgern im Gurbani fest verankert wurde, für die Allgemeinheit aufgetan.

Damit nicht irgendein Zweifel in skeptischen Gemütern verblieb, machte Soamiji, der bis zuletzt die Initiation in das Geheimnis der fünftönigen Melodie (Panch Shabd Dhun-kar Dhun) gegeben hat, bedeutsamer Weise am letzten Tag vor seinem Weggang von der irdischen Ebene seinen Standpunkt über jeden Zweifel erhaben deutlich, indem er erklärte:

 

           Mein Pfad war der von Sat Naam und Anami Naam.

                Der Radhasoami-Glaube stammt von Saligram,

                doch laßt auch ihn gelten. Und laßt den Satsang

                wachsen und gedeihen.

 

 

 

Unter Soamijis vertrauten und ergebenen Schülern war Rai Saligram Sahib Bahadur - in späterer Zeit allgemein als Hazur Maharaj bekannt, nachdem er die spirituelle Leitung übernommen hatte.

Während Hazur Maharaj nach dem Hinscheiden von Soamiji die Vorträge im Pipal Mandi im Zuentrum Agras weiterführte, leitete Partap Singh, der jüngere Bruder Soamijis, der allgemein Chacha Sahib (verehrter Onkel) genannt wurde, das Werk im Radhasoami-Garten, drei Meilen von Agra entfernt.

Ein anderer Schüler, Baba Jaimal Singh Ji, einer der ersten und spirituell fortgeschrittensten Schüler Soamijis, ließ sich, wie es der große Meister selbst bestimmt hatte, in Beas im Punjab nieder, um das spirituelle Werk wiederzubeleben und bis zu einem gewissen Grad zu begleichen, was die Welt Guru Nanak schuldig war. Wir wollen nun Leben und Werk dieses hervorragenden spirituellen Sohnes von Soamiji einer genaueren Betrachtung unterziehen.

 

 

 

 

II

 

 

EINE KURZE BIOGRAPHIE VON BABAJI

 

 

 

Die frühen Jahre

 

Baba Jaimal Singh wurde 1838 in Ghuman, einem Dorf im Distrikt Gurdaspur des Punjab, in einer Bauernfamilie frommer Sikhs geboren. Ghuman war ein Dorf wie jedes andere in dieser Gegend.

Wenn es sich in irdendeiner Weise von den anderen unterschied, so nur durch eine heilige Stätte, die sich dort befand und die als Dera Baba Namdev, der vor vielen Jahrhunderten in diesem Dorf seine letzten Tage zugebracht hatte. Als der Heilige dorthin kam und in dem Tempel beten wollte, wurde ihm, wie die Legende berichtet, der Zutritt verwehrt, weil er nicht derselben Kaste angehörte. Davon unbeirrt, ging er zur Rückseite des Tempels, setzte sich nieder und war bald in Samadhi versunken. Der Herr, ungehalten über die Schmach, die seinem Jünger angetan wurde, wandte die Vorderseite des Tempels dem Platz zu, an dem sich Namdev niedergelassen hatte; worauf ihm alle Priester und Brahmanen zu Füßen fielen und um Vergebung baten. Seit jenem Tag soll das Dorf den Namen “Ghuman” erhalten haben, ein Punjabi-Wort, das “herumdrehen” bedeutet. Die Dorfbevölkerung besuchte die heilige Stätte, um ihre Ergebenheit zu bekunden, und viele wandernde Sadhus kamen zur Huldigung des großen Weisen dorthin. Bhai Jodh Singh und Bibi Daya Kaur, die Eltern Jaimals, waren ebenfalls häufige Besucher, und seine Mutter betete bei dieser Gelegenheit des öfteren um einen gottesfürchtigen Sohn. Große Seelen kommen selten unangekündigt, und eines Nachts hatte Bibi Daya Kaur im Traum den Besuch des großen Namdev, der sie wissen ließ, daß ihre Gebete erhört worden seien; und zehn Monate später wurde Jaimal zur großen Freude der Familie und unter häuslicher Festlichkeit geboren.

Die Geschichte eines Heiligen ist die Geschichte von der Pilgerfahrt einer Seele. Es ist ein Bericht, der, um spirituell vollständig zu sein, unzählige Jahre und zahllose Lebensläufe umfaßt. Die letzte Erleuchtung mag als eine plötzliche erscheinen, aber ihre vorbereitenden Stufen sind mühsam und ziehen sich lange hin. Wie Buddha und Jesus zeigte Jaimal von klein auf eine bemerkenswerte spirituelle Frühreife.

                                                                                                                                        

 

Wenn er mit seinen Eltern die Stätte Baba Namdevs besuchte, setzte er sich, ungleich anderen Kindern seines Alters, ruhig und aufmerksam hin, und schon mit drei Jahren konnte er viele Verse aufsagen, die er bei spirituellen Vorträgen gehört hatte. Die Dorfbewohner wunderten sich über seine erstaunliche Begabung. Bald erhielt er den Kosenamen Bal-Sadh oder “kleiner Heiliger”, und seine ländlichen Verehrer drängten die Eltern, ihm die Möglichkeit einer guten Bildung zu geben.

Als Jaimal fünf Jahre alt war, wurde er der Aufsicht von Bhai Khem Das anvertraut, einem in der Nähe lebenden gelehrten Vedantisten. Zu jener Zeit war die Erziehung in Indien keine Berufsausbildung.

Sie war vor allem eine geistige und spirituelle Schulung, die auf dem Studium der heiligen Schriften beruhte. Das Kind zeigte eine große Befähigung dafür und beherrschte bald die Gurmukhi-Schrift. Innerhalb eines Jahres hatte Jaimal den Punj Granthi, die fünf grundlegenden Sikh-Schriften, sorgfältig gelesen, darunter das Jap Ji, den Sukhmani Sahib und Raho Ras. In weiteren sechs Monaten kannte er die Hauptteile dieser spirituellen Schätze auswendig, und im Alter von sieben Jahren war er zu einem ausgezeichneten Pathi herangewachsen oder einem, der die Schriften auf melodische Weise mit berufener Meisterschaft vortragen konnte. Das Jahr darauf galt dem Studium des Dasam Granth, der vom letzten Sikh-Guru zusammengetragenen Schriften. Jaimal zeigte große Achtung für seinen Lehrer, der über den Fleiß und den raschen Fortschritt des Jungen sehr erfreut war. Die beiden verbrachten viele Stunden zusammen, und Jaimal hörte Bhai Khem Das mit großer Aufmerksamkeit zu. Sein Wissensdurst war nicht zu stillen, und das Lesen der Schriften  feuerte seine Vorstellungskraft noch mehr an. Eines Tages nahm er das Jap Ji zur Hand und begann daraus die zwanzigste Strophe vorzutragen. Nachdem er geendet hatte, wandete er sich an seinen Lehrer und fragte: “Herr, was bedeutet Naam, von dem Guru Nanak sagte: <Ist das Gemüt durch die Sünden unrein geworden, kann es nur durch die Verbindung mit Naam wieder rein werden> und das alle anderen Großen im übrigen Granth Sahib mit solchen Lobpreisungen besungen haben?” Khem Das war von dem forschenden und unterscheidenden Geist seines Schülers sehr beeindruckt, jedoch nicht in der Lage, ihm in diesem Punkt Auskunft zu geben, weil er selbst mit dem Geheimnis von Naam nicht vertraut war.

Einen Tag später, als Bhai Jodh Singh sah, daß sein nunmehr achtjähriger Sohn alt genug war, ihm zu helfen, ging er in der traditionellen Kleidung und mit einem Silberstück als Gabe zu seinem Lehrer. Nachdem er ihm dieses zu Füßen gelegt hatte, bat er darum, Jaimal von seinen Studien zu befreien, damit dieser seine Ziegenherde hüten könne. Khem Das erhob keinen Einspruch: “Er ist Euer Sohn, und ihr mögt über ihn verfügen, wie ihr es für richtig haltet.” Aber sein Schützling konnte ihm nicht so einfach Lebewohl sagen. “Herr”, versicherte er, “ich werde den ganzen Tag für meinen Vater arbeiten, aber abends werde ich zu Euch kommen, um die Studien fortzusetzen.”

Jaimal blieb seinem Wort treu und hielt die Gemeinschaft mit seinem kundigen Lehrer ununterbrochen aufrecht. Stolz auf die Beharrlichkeit und Frömmigkeit seines Schülers, führte ihn Khem Das in den Japa des Sohang ein, den er selbst übte. Lange vor Tagesanbruch stand der Junge auf, nahm ein Bad, las in den heiligen Schriften und setzte sich zur Meditation. Danach führte er seine Ziegen auf die Weide. Seine jungen Freunde bemerkten bald, daß er, während die Ziegen auf der Wiese grasten, nicht müßig war, sondern heilige Texte las und aufsagte und oftmals mit bekreuzten Beinen dasaß und meditierte. Bei Sonnenuntergang kehrte er mit seiner Herde zurück, nahm etwas Milch und andere Nahrung zu sich, um danach zu seinem Lehrer zu gehen. Dort saß er aufmerksam und lernte, wie die Schriften zu lesen und darzulegen waren. Als er den Granth Sahib gemeistert hatte, lernte er im Alter von neun Jahren Hindi und nahm das Studium der Hindu-Schriften auf. Nach dieser Arbeit besuchte er die heilige Stätte von Namdev und kehrte erst spät in der Nacht heim. Wenn er abends fort war, saß er oft in Meditation versunken, und dies so sehr, daß er einmal eine ganze Nacht meditierte und seine Eltern aufgeregt im ganzen Dorf nach ihm suchten. Dieses intensive Streben blieb nicht unbelohnt, und einmal erzählte der Junge seinem Lehrer, daß er Sterne und den Mond im Innern sehe und das Aufblitzen eines Lichts - die erste spirituelle Erfahrung der Mystiker-Seele.                                                                                                                                               

 

 

Bhai Jodh Singh war weit davon entfernt, mit den unweltlichen Wegen seines ältesten Sohnes zufrieden zu sein. Wie religiös gesinnt ein Mensch auch immer sein mag, so ist er doch selten glücklich, wenn er sieht, daß sich sein Sohn zu einem Entsagenden entwickelt. Jaimal wuchs heran, aber statt an den familiären Dingen Interesse zu haben, gingen seine Bestrebungen in die entgegengesetzte Richtung.

Er brachte nicht nur einen großen Teil seiner Zeit mit dem Studium der heiligen Schriften, dem Ausüben spiritueller Praktiken und den Besuchen bei seinem Lehrer Bhai Khem Das zu, sondern verweilte auch viele Stunden in der Gemeinschaft von Sadhus und frommen Menschen, die ins Dorf kamen, um die heilige Stätte von Namdev zu ehren. Da der Vater den Wunsch hatte, den unmäßigen religiösen Hang seines Sohnes einzudämmen, hielt er es für das Beste, ihn von Ghuman und den wandernden Sadhus wegzuschicken. So kam er im Alter von elf Jahren und acht Monaten in das Haus einer seiner beiden Schwestern namens Bibi Tabo, die in dem Dorf Sathyala wohnte.

Jaimal lebte weiter nach seiner alten Gewohnheit; er kam den religiösen Übungen nach und führte die Ziegen auf die Weide. Viele Monate vergingen auf diese Weise, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete. Doch eines Tages, als er seiner Herde folgte, begegnete er einem Yogi, der soeben in das Dorf gekommen war. Glücklich über die Gesellschaft des heiligen Mannes verneigte er sich ehrerbietig, melkte seine Ziegen und bot dem Yogi von der Milch an. Der Mann im safranfarbenen Kleid war berührt von der Frömmigkeit des Jungen und begann ihm Fragen zu stellen. Jaimal erzählte ihm von den Schriften, die er gelesen, und dem starken Verlangen nach Erleuchtung, das sie in ihm entfacht hatten.

Der Yogi war sehr erfreut über diesen Bericht und erbot sich, Jaimal zu schulen. Er sagte ihm offen, daß er über das Geheimnis von Naam wenig wisse, ihm aber gern vermitteln wolle, was er selbst praktiziere. So ging Jaimal, wie ihm geheißen wurde, am nächsten Morgen, ohne etwas gegessen zu haben, zu seinem neu entdeckten Lehrer, um von ihm eingeführt zu werden. Der Yogi war ein Adept in Pranayama und enthüllte dem jungen Schüler seine Geheimnisse.

Da er nun einen spirituellen Führer gefunden hatte, war Jaimal wieder für die Welt verloren. Seine alte heilige Gleichgültigkeit gegenüber Familienbanden und weltlichen Angelegenheiten zeigte sich nun eher doppelt so stark. Oft saß er drei Stunden hintereinander in Meditation. Der Yogi, dem seine Hingabe gefiel, blieb weiter im Dorf, und Jaimal war meist in seiner Gesellschaft zu finden. Diese Entwicklung der Dinge bereitete seiner Schwester viel Kummer, und von Sorge getrieben, gab sie dem Vater schließlich Nachricht, damit er den Jungen weghole. So kam Bhai Jodh Singh bald darauf selbst und beorderte seinen Sohn nach Hause zurück. Früh am nächsten Morgen machten sich die beiden auf den Heimweg; aber als sie am Ende des Dorfes angelangt waren, bat Jaimal mit Tränen in den Augen den Vater um die Erlaubnis, den Yogi ein letztes Mal sehen und ihm Lebewohl sagen zu dürfen. Sein Vater war einverstanden, und der Junge eilte mit etwas frischer Milch zu seinem Lehrer. Traurig erzählte er diesem von der Ankunft seines Vaters und ihrem beabsichtigten Weggang. Der Yogi lächelte, segnete ihn und hieß ihn guten Mutes sein. “Führe deine Übungen zu Hause fort wie bisher”, sagte er, “und alles wird gut sein. Eines Tages werde ich dich dort besuchen.” In Ghuman nahm Jaimal seine Verbindung mit Bhai Khem Das wieder auf und begrüßte die dorthin kommenden Sadhus wie ehedem. Er war nun im vierzehnten Lebensjahr und übte mit unvermindertem Eifer die Sadhans, die er gelernt hatte.

Aber bald hungerte ihn nach mehr. Die Yoga-Übungen, die er inzwischen beherrschte, vermochten ihn auf die Dauer nicht zufriedenzustellen, und beim Lesen des Granth Sahib kam er zu der Überzeugung, daß es eine höhere Wirklichkeit gebe, die es durch andere Mittel zu erlangen galt. Indem er auf dem Pfad fortschritt, löste er sich in zunehmendem Maße von der Welt. Er nahm alle esoterischen Hinweise und Fingerzeige, die sich in den Sikh-Schriften über das fünffältige Wort, den Panch Shabd, finden ließen, zur Kenntnis und dachte über sie nach. Jeden neuen Yogi oder Sadhu, dem er begegnete, fragte er, ob er sie ihm nicht erklären könne; aber alles war umsonst.                                                                                                                                            

 

 

Auf dieser Stufe seines Suchens erlitten er und seine Familie einen schmerzlichen Verlust. Er war noch nicht vierzehn alt, als sein Vater erkrankte und starb. Für die leidgeprüfte Familie wirkte Jaimals spirituelle Schulung als ein schützender Schild. Indem er die heiligen Schriften heranzog, tröstete er seine Mutter und seine beiden jüngeren Brüder und trat auf diese Weise allem Weinen und Wehklagen entgegen. Wenn die Seele unsterblich war und alles nach dem Willen des Herrn geschehe, wozu dann all diese Trauer?

 

 

 

Die große Suche

 

 

Wenn Jaimal Interesse an der Spiritualität nur eine auf Stein oder Sand gefallene Saat gewesen wäre oder eine in der Wurzel noch zarte, junge Pflanze, nicht mehr als das Ergebnis bloßer Neugier oder spontaner Frömmigkeit eines einfachen Dorfjungen, dann hätte beim Tod seines Vaters auch für sein Suchen die Totenglocke geläutet. Da er das älteste männliche Mitglied der Familie war, fiel nun die Last der häuslichen Verantwortlichkeit auf seine Schultern; und vielleicht sind dem Himmel schon mehr Seelen durch die irdische Pflichterfüllung verlorengegangen als durch direkte Sünde und Übeltat.

Jaimals Drang jedoch war eine Pflanze mit zäheren Wurzeln und von stärkerer Struktur. Unerschrocken und unbewegt teilte er die äußeren Pflichten unter seinen Brüdern auf, hielt weiter an seinen strengen Gewohnheiten fest und meisterte innerhalb von sechs Monaten den Yoga Vashishta und Vichar Sangreb, zwei Standardwerke der Hindu-Theologie.

Etwa zur selben Zeit kam ein Sadhu der Udasi Bewegung ins Dorf. Auch diesen suchte Jaimal auf und erkundigte sich nach der Bedeutung von Textstellen, die er sich aus dem Granth Sahib herausgeschrieben hatte. Der Sadhu ließ ihn wissen, daß er ihn zwar nicht in die Geheimnisse des Panch Shabd einweihen könne, wohl aber in die des Ghor Anhad oder des tief klingenden Tons, auf den in den Sikh-Schriften hingewiesen wird. Jaimal, der eifrig bestrebt war, alles zu lernen, was er nur konnte, bot sich als Schüler an. Doch das Diwali-Fest war nahe, das sein neuer Lehrer in Amritsar feiern wollte.

Da Jaimal diese Gelegenheit nur ungern versäumt hätte, ging er zu seiner Mutter und bat sie um die Erlaubnis, sich dem Sadhu anschließen zu dürfen, um so in seiner Suche nach der Wahrheit weiterzukommen. Aber Bibi Daya hatte für das Wohlergehen der Familie zu sorgen und wollte von dem Weggehen ihres ältesten Sohnes nichts hören. Sie erinnerte ihn an seine Pflichten und sagte: “Dein Vater ist nicht mehr, und du mußt alles an seiner Stelle weiterführen. Was soll aus uns werden, wenn du weggehst?”

“Ich bin nicht gleichgültig gegen das, was Ihr sagt, meine liebe Mutter”, erwiderte er, “aber der Herr ist über uns, und er, der seine Geschöpfe selbst auf den Felsen und im Meer erhält, wird auch unseren Bedarf nicht vergessen. Des Menschen erste Pflicht ist es, seinen Schöpfer zu suchen, alle äußeren Pflichten kommen erst an zweiter Stelle. Seid nicht bekümmert, sondern guten Mutes, und gebt mir Euren Segen.” Bibi Daya, selbst tief religiös, war berührt von dem, was Jaimal mit einer solchen Überzeugung aussprach. Sie sah seine Entschlossenheit und liebte ihn zu sehr, um sein Herz brechen zu wollen, und so ließ sie sich schließlich erweichen.

“Ich weiß, daß ich dich nicht halten kann, und ich will es auch nicht. Aber wenn du schon gehen mußt, versprich, nach Hause zurückzukommen, wenn dein Suchen beendet ist.”

Jaimal gab sein Ehrenwort, und so nahmen seine Mutter und seine Brüder tränenreichen Abschied von ihm.

 

 

Er war kaum fünfzehn Jahre alt und schon auf einer Suche, die ihn durch viele Städte führen sollte und für ihn große Mühe und Plage mit sich brachte. Es war zu einer Zeit, als es in Indien noch keine Eisenbahn gab, geschweige denn moderne Autostraßen und Luftwege. Die Reichen konnten natürlich auf Pferden reiten, aber das einfachere Volk war auf die Kraft und Festigkeit seiner Füße angewiesen.

Das Reisen war schwierig und mühsam. Es lag nicht lange zurück, daß die Briten den Punjab eroberten, und die Verhältnisse waren noch unsicher. Der große Aufstand hatte erst vor einem Jahrzehnt stattgefunden, aber das Volk zeigte sich widerspenstig, und durch die Unzufriedenheit begann es im Lande zu gären.

Unter solchen Verhältnissen machte sich Jaimal auf den Weg nach Amritsar. Dort angekommen, wurde er am dritten Tage seines Aufenthaltes in einem Park von dem Udasi-Sadhu in die Wissenschaft des Ghor Anhad eingeweiht. Wie seinem Zeitgenossen Shri Ramakrishna (1836-1886) war es Jaimal bestimmt, zu den Füßen vieler anderer Lehrer zu sitzen, ehe er seinem wahren Meister begegnete.

Wie dieser hatte er sich vielen Sadhans (Übungen) zu unterziehen und kam in jedem rasch voran.

Und gleich diesem war auch er dazu ausersehen, nicht wie andere Yogis an einen von ihnen gebunden zu sein, sondern immer weiter vorwärtszudrängen, einem immer höheren Ziel entgegen. Die frühzeitige Beherrschung des Granth Sahib kam ihm dabei sehr zustatten. Er diente ihm als unfehlbarer Prüfstein, mit dem er alles neu Erreichte untersuchen konnte, was ihn zugleich erkennen ließ, daß sein wahres Ziel noch weit entfernt lag. Nachdem er Japa und Pranayama geübt und die Ekstase des Ghor Anhad voll erfahren hatte, wurde die Suche nach dem Geheimnis des fünffältigen Wortes zu Jaimals vorherrschender Leidenschaft. Als er sich in Amritsar aufhielt, versäumte er nicht, mit anderen Yogis und Sadhus Verbindung aufzunehmen und sie nach Anhaltspunkten zu fragen für das, was er suchte. Einer von ihnen erwähnte, er könne den Gegenstand seines Suchens möglicherweise zu den Füßen von Baba Gulab Das ausfindig machen, der in dem Dorf Chatyala lebte. Der Junge bedurfte keiner weiteren Anregung, und bald versuchte er mit Hilfe der Schüler von Gulab Das zu ihrem Meister zu gelangen. Seine Bitte wurde erfüllt, und so erschien er eines Tages bei dem ehrwürdigen Sadhu. Es ergab sich eine lebhafte Unterhaltung, die einige der älteren Schüler, die dabeiwaren, gegen den Neuankömmling wegen seines jugendlichen Alters aufbrachte. Doch Gulab Das versicherte sie, daß Jaimali, wenn auch jung an Jahren, im Geiste reif und ein echter Gottsucher sei. Er bemühte sich, den Knaben zufriedenzustellen, so gut er es vermochte, und erklärte ihm, daß Naam nichts anderes sei als der Ton, der in den Pranas vibriere, und führte ihn noch weiter in die Geheimnisse des Pranva oder des Prana Yoga ein.

Jaimal, der wohl bereit war, alles zu lernen, was er nur konnte, war jedoch nicht überzeugt von der Erklärung des Sadhu, die, wie er ihm sagte, a) die Zahl “fünf”, die im Granth Sahib immer wieder im Zusammenhang mit dem inneren Shabd genannt werde, unberücksichtigt lasse und b) der Tatsache nicht gerecht werde, daß die Sikh-Gurus wiederholt erklärten, der Pfad von Naam sei ein anderer als der der übrigen Yoga-Formen, die nicht die höchste Befreiung geben könnten. Jaimals Suche führte ihn von Chatyala nach Lahore, wo es Hindu-Sadhus und Moslem-Ergebene aller Art gab. Der junge Sikh suchte immer ihre Gesellschaft und war ununterbrochen mit ihnen zusammen. Aber soviel er auch suchen mochte, er erhielt keinen weiteren Hinweis. Obgleich er sich in einer großen Stadt befand und viele Meilen gewandert war, keinen Heller in der Tasche hatte und kaum einmal seiner nächsten Mahlzeit sicher sein konnte, ließ er sich wegen seiner mißlichen Lage nicht im geringsten aus der Fassung bringen, hinter das Geheimnis zu kommen, das bislang keiner zu lösen wußte. Mit müden Füßen und schwerem Herzen begab er sich nach Nankana Sahib, dem Geburtshaus von Guru Nanak, einem Pilgerort der Sikhs.                                                                                                                                        

 

 

Aber auch in Nankana konnte er nicht finden, wonach er verlangte. Die Vorsehung ist oft voller Geheimnisse. Der Weg des Suchers kann mit unzähligen Hindernissen übersät sein, die ihm fast das Herz zu brechen scheinen. Doch in dem Augenblick, wo er dem Zusammenbruch nahe ist, kommt ein Wort der Ermutigung, ein Hoffnungsstrahl leuchtet auf, der ihn vor der großen Verzweiflung errettet und ihn auf den Weg zum neuen Jerusalem stellt. Und so traf der Junge,  nunmehr fünfzehn Jahre alt, in Nankana Sahib Bhai Jodha Singh der Namdhari-Schule, der ihn an Baba Balak Singh von Hazro verwies, einem westlich von Attock gelegenen Ort im Nordwestlichen Grenzland, wie es später genannt wurde. Mit unverminderter Entschlossenheit begann Jaimal die lange Reise. Zuerst hielt er in Aminabad an, von wo aus er nach Shah Daulah ging. Von dort ging es weiter über den Jhelum-Fluß nach Tila Balnath und dann in Richtung Rawalpindi.

 

In jeder dieser Stätte blieb er ein paar Tage und versäumte niemals, mit den heiligen Männern und Sadhus, die dort zu finden waren, Verbindung aufzunehmen. Da er nicht weit von Panja Sahib entfernt war, der berühmten Stätte, die von einem denkwürdigen Wunder Guru Nanaks kündet 13), besuchte er den heiligen Ort, obwohl er etwas abseits von seinem eigentlichen Weg las. Dort hielt er sich für eine Weile auf und erfreute sich der Landschaft und des klaren Wassers, das sich aus der heiligen Quelle ergoß. Von hier aus wandte er sich Attock zu und erreichte Hazro, seinen Bestimmungsort.

 

Er war sehr glücklich, den ehrwürdigen Baba Balak Singh zu sehen, der von dem Eifer und dem starken spirituellen Verlangen seines jungen Besuchers tief beeindruckt war. Sie lasen, rezitierten und erörterten den Granth Sahib und verbrachten so einige segensreiche Tage. Balak Singh war ein Mann von großer Weisheit und Frömmigkeit, aber was die Spiritualität anbetraf, war er wie Gulab Das nur mit dem Japa durch Prana vertraut und wußte kaum etwas über Panch Shabdi Naam, von dem Kabir und die großen Sikh-Gurus gesprochen hatten. Er machte seinem jungen Freund jedoch Hoffnung und sandte ihn nach Chikker zu einem Familienvater und Sikh von großem spirituellen Ansehen.

Jaimal traf, aus Hazro kommend, in Chikker ein und hörte sich nach dem Mann um, den er suchte.

Er konnte jedoch keinen Hinweis erhalten, bis er einem alten einsamen Sikh begegnete, der den jungen Fremden fragte, ob er ihm auf irgendeine Weise dienlich sein könne. Jaimal erzählte, woher er gekommen war, nannte ihm den Zweck seiner Suche und bat, zu dem am Ort wohnenden heiligen Mann geführt zu werden. Der alte Mann, der selbst der Gesuchte war, entgegnete freundlich, daß hier seines Wissens kein solcher Heiliger leben würde, erbot sich aber, ihm zu helfen, soweit es in seiner Macht läge.

 

Jaimals langes und eifriges Forschen begann endlich Frucht zu tragen. Der Mahatma, in dessen Haushalt er nun aufgenommen wurde, gab ihm die ersten bestimmten Anhaltspunkte für das, was er suchte, und stellte ihn auf die Anfangsstufe der spirituellen Leister. Bald nach seiner Ankunft erhielt der gotttrunkene Knabe die Initiation. Seine früheren Annahmen bestätigten sich, und es wurde ihm zur Gewißheit, daß der Pfad von Naam wenig mit anderen Yoga-Praktiken gemein hatte. Nach der Initiation wies er jedoch darauf hin, daß die Schriften von einem fünffältigen Wort sprachen, während er nur zwei erhalten hatte. Als dies sein Gastgeber und Lehrer hörte, erzählte er ihm die Geschichte seiner eigenen Initiation:

 

“Vor vielen Jahren ging ich nach Peshawar. Dort begegnete ich einem großen Mahatma und wollte von ihm initiiert werden. Er nahm mich als Schüler an, erschloß mir die Geheimnisse der ersten beiden Shabdas und hieß mich zurückkommen, sobald es mir möglich sei.

 

 

Ich ging in mein Dorf und beabsichtigte, dem Rat zu folgen. Aber so sind die Fallen von Maya: wegen unvorhergesehener Verpflichtungen war ich nicht in der Lage, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen. So vergingen zwei Monate, und als ich endlich Peshawar erreichte, war mein Meister nicht mehr am Leben und hatte den Schlüssel für die übrigen Stufen des heiligen Naam mit sich genommen.14)

Jaimal blieb keine Wahl. Er mußte sich mit dem zufrieden geben, was er bekam. So hielt er sich noch einige Zeit bei dem Sikh-Mahatma auf, erfreute sich seiner Gastfreundschaft und inspirierenden Gesellschaft und entwickelte fleißig die Gabe, die er erhalten hatte. Dann kam der Tag, an dem er von seinem gegenwärtigen Lehrer bewegt Abschied nahm und nach Peshawar aufbrach, um seine unerfüllte Suche fortzusetzen. Er hatte die Befriedigung, auf dem rechten Pfad zu sein, aber er war nicht der Mensch, der ruhte, solange er nicht sein Ziel erreicht hatte. In der uralten Grenzstadt hielt er, gleich einem leidenschaftlichen Jäger, erneut Ausschau nach einem Menschen mit voller Gottverwirklichung.

Peshawar war jedoch nicht der Ort, wo sein Suchen von Erfolg gekrönt und sein Durst gestillt werden sollte. Als er unter Pathans durch die vielen Straßen wanderte, hielt ihn ein Mastana-Sikh an, welcher durch die göttliche Trunkenheit der Alltagswelt des vernunftgeleiteten Verhaltens verloren war, und grüßte ihn mit den Worten: “Warum wendest du soviel Mühe im Norden auf, wo doch dein Tag vom Osten her dämmern wird?” Obwohl er nichts weiter von dem fremden Ratgeber herausbringen konnte, folgte er seinem Fingerzeig und machte sich auf den Weg zurück zum Punjab. Als er Rawalpindi erreichte, entschloß er sich, das wohlbekannte Kashmir-Tal und den beliebten Gebirgsort Murree zu besuchen. Da er die Schönheiten der Natur liebte, freute er sich sehr über diese Bergtour, und in Kashmir begegnete er vielen Sadhus. All dieser Besichtigungen müde, kehrte er schließlich heim. Zerlumpt und ohne Schuhe an den Füßen oder Geld in der Tasche kam er schließlich zur großen Freude seiner lieben Mutter und seiner Brüder, die ihm herzlich zugetan waren, nach Ghuman zurück.

Die Familie feierte seine Rückkehr im traditionellen Stil.

Sie brachte dem Allmächtigen Dankopfer dar, las aus den heiligen Schriften und sang Hymnen. Sie verteilte Süßigkeiten unter den Nachbarn und speiste die Armen. Jaimal Singh, der jetzt sechzehn Jahre alt war, nahm seine familiären Plichten wieder auf und widmete sich der Festigung dessen, was er auf seiner kürzlichen Reise gelernt hatte. Bald nach seiner Rückkehr kam der Sathyala-Yogi, der ihn drei Jahre vorher in den Pranayama eingeführt hatte, seinem Abschiedsversprechen getreu nach Ghuman, um seinen jungen Schüler zu sehen. Jaimal Singh empfing ihn in Demut und Verehrung, und der frühere Lehrer erbot sich, ihn mit anderen Praktiken des traditionellen Yoga bekannt zu machen. Aber der Jüngling war nun kein Kind mehr. Seine weiten Reisen und die verschiedenen Erfahrungen, von denen sie begleitet waren, hatten ihn gereift. Was ihm einst erstrebenswert schien, was für ihn nicht länger von besonderem Wert, denn seine Verbindung mit so vielen Yogis hatte ihn letztlich zu der Überzeugung kommen lassen, daß die Kriyas des Hatha-Yoga ihm zwar ungewöhnliche physische und geheime Kräfte verliehen, aber nicht vollkommenen inneren Frieden und innere Freiheit geben konnten. Jeder neue Tag bestärkte nur seine alte Überzeugung, daß der Pfad vollständiger Befreiung (Mukti) woanders lag, und alles was er nun suchte, war die Initiation in die Mystik des Panch Shabd.

Die Zeit eilt dahin auf ihrer flüchtigen Bahn, aber Jaimal Singh gehörte nicht zu den Menschen, die müßig herumsitzen oder sich mit dem Nächstbesten zufrieden geben. “Erwache, erhebe dich und ruhe nicht, bis das Ziel erreicht ist”, schärft ein alter Veden-Text ein, und sein Leben war eine lebendige Verkörperung dieses Leitsatzes. Knapp acht Monate waren seit seiner Rückkehr verstrichen, als das innere Drängen, seine Suche nach dem heiligen Naam von neuem  aufzunehmen, so mächtig wurde, daß er nicht widerstehen konnte und seine Mutter ein weiteres Mal um die Erlaubnis bat, gehen zu dürfen.

“Wie kannst du von mir erwarten, dich auch jetzt fortzulassen? Damals warst du ein Kind, aber heute bist du erwachsen und kennst deine Pflichten.

 

 

“Ach Mutter, bei meiner Geburt habt ihr gebetet, einen frommen Sohn zu bekommen. Warum soll ich nun zurückgehalten werden ?”

“Wie kannst du so sprechen?” entgegnete die Mutter. “Habe ich dich jemals an deinen religiösen Neigungen gehindert? Du kannst doch deine Andachtsübungen und der spirituellen Schulung zu Hause nachgehen.” Doch Jaimal meinte: “ Wie können ein frommes und ein weltliches Leben zusammenpassen?”   “Du hast doch selbst gesehen, wie nach dem Tod deines Vaters andere über unser Land verfügt haben. Wir hatten gerade genug zu essen, und was wird sie daran hindern, das übrige gewaltsam in Besitz zu nehmen, wenn du weg bist? Deine Brüder sind noch zu jung.”

“ Laßt sie nehmen, was immer sie wollen. Diese Welt ist nicht die unsere, und selbst, wenn uns dieses Land nicht weggenommen wird, müssen wir es eines Tages doch zurücklassen, wenn unsere Lebensspanne zu Ende ist. Wir haben nur für unsere Nahrung zu sorgen. Was tut es, wenn unser ganzer Besitz verlorengeht? Der Herr hat uns starke Arme gegeben, und mit seiner Gnade werden wir ehrlich unseren Lebensunterhalt verdienen.”

Ihn, den nichts von seinem Vorhaben abbringen konnte, als er noch ein Kind war, konnte auch jetzt nichts abschrecken, und Bibi Daya hatte keine andere Wahl, als ihn gehen zu lassen. So nahm Jaimal Singh im Alter von noch nicht siebzehn Jahren seine spirituelle Suche wieder auf. Nachdem er den Punjab und den Nordwesten nahezu ganz durchquert hatte, lenkte er, die Worte des Mannes aus Peshawar noch im Ohr, seine Schritte ostwärts. Die Zeiten waren unsicher, und die Briten hatten ihre Stellung in den eroberten Gebieten des Nordens noch nicht völlig gefestigt. Nächtliche Reisen waren daher verboten, und an den Hauptstraßen waren Wachposten stationiert, die jeden unterwegs anzuhalten hatten. Aber Jaimal Singh war zu eifrig, um sich auf diese Weise beschränken zu lassen. Die erste Hälfte der Nacht verbrachte er ruhend und schlafend, und in der zweiten, wenn die Posten eingenickt waren und schlummerten, setzte er seine Reise, so rasch es ging, fort.

In Varaich, einem Dorf an den Ufern des Beas, noch nicht weit von zu Hause entfernt, begegnete er einem Sadhu namens Kahan, der damit beschäftigt war, Ziegelsteine zusammenzutragen.

“Guten Tag, heiliger Mann”, sprach ihn der Junge an. “Womit seid ihr so sehr beschäftigt?”

“Nichts, mein Sohn, nichts, ich sammle nur Material für deine zukünftige Behausung”, antwortete Kahan lächelnd und vertiefte sich weiter in sein Werk. Wenn andere aus dem Dorf ihn danach fragten, erwiderte er mit charakteristischer Kürze: ”Hier wird sich eines Tages ein Tempel erheben” und verfiel in sein gewohntes Schweigen.

 

Jaimal, der nicht wußte, wohin er gehen sollte, wandte seine Schritte gen Hardwar an den Ufern des heiligen Ganges, das ein vielbesuchter Ort frommer Menschen war. Tag und Nacht unterwegs, legte er die Entfernung mit beachtlicher Geschwindigkeit zurück und erreichte so in zwölf Tagen den Ganges.

Er suchte die Ghats (Stufen zum Fluß) von Hardwar auf, das damals eine kleine, fast nur von Pandits und Sadhus bevölkerte Stadt war, hörte gelehrten Yogis zu, stellte ihnen Fragen und erörterte mit ihnen seine Probleme. Vom Zentrum der Stadt aus wanderte er den Fluß entlang und besuchte alle heiligen Orte in der näheren Umgebung. In Tappo Ban hörte er von einem sehr alten Sadhu, der

ungefähr 150 Jahre zählte, nicht weit entfernt mitten im Dschungel lebte und große Kräfte besaß, aber selten zu denen sprach, die zu ihm kamen.

Unbeirrt von dem, was er über das Schweigen des Yogi gehört hatte, nahm Jaimal Singh seinen Weg in Richtung des Waldes und fand schließlich die Behausung des Eremiten.

Der Sadhu war mit seinen spirituellen Übungen beschäftigt und zollte denen, die sich bei ihm einfanden, um ihn zu sehen und durch seinen Anblick gesegnet zu sein, keine Beachtung.

Es wurde Abend, und der Himmel und die Zweige oben erfüllten sich von dem Gezwitscher der

heimkehrenden Vögel mit Leben. Die Besucher gingen wieder, denn im Wald wird es rasch dunkel, und wer konnte sagen, ob nicht im Dickicht ein wildes Tier auf Beute lauerte. Allein Jaimal Singh blieb. Die Nacht brach herein, doch der Yogi nahm keine Notiz von ihm. Endlich stand er auf, ging zu einer Schaukel, die in der Nähe von einem Ast herabhing, stellt sich dort hin und ließ die Arme auf dem hölzernen Sitz ruhen. Stunde um Stunde verging, aber der Asket stand bewegungslos und zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Schließlich wich die Dunkelheit und machte seiner nächtlichen Geduldsprobe ein Ende. Er verließ den Platz, verschwand im Dschungel und kehrte nach einem Bad zurück. Jaimal hatte eine lange Nachtwache gehalten und beobachtete das ungewöhnliche Verhalten dieses seltsamen Mannes. Als der Sadhu vom Bad zurück kam, war endlich zu erkennen, daß er sich der Gegenwart seines Besuchers bewußt war. Er fragte ihn, wer er sei und was er wolle. Der Jüngling nannte seinen Namen und den Ort, woher er kam, und fügte hinzu: “ Heiliger! Seit vielen Jahren suche ich nach wahrer spiritueller Erleuchtung. Ich hörte von Eurem Ruhm und Euren großen Kräften und komme als Bittsteller zu Euch. Ich habe mit Interesse Eure mir unbekannten Übungen beobachtet, und wenn sie tatsächlich völlige Befreiung von der inneren Ruhelosigkeit bringen, dann weiht mich bitte in ihre Geheimnisse ein.”

Der Sadhu schwieg. Er saß still da und hielt die Augen geschlossen. Als er sie nach einer Weile öffnete, antwortete er: “Mein Sohn, meine Schulung ist schwer und verleiht viele Kräfte; aber was die innere spirituelle Freiheit betrifft, so muß ich leider sagen, daß sie mir diese nicht gebracht hat.”

 

Jaimal Singh wollte den Yogi noch mehr fragen, doch dieser blieb still und zog sich von der Welt des äußeren Bewußtseins in die Meditation zurück. Die Sonne stieg am Himmel empor, und wieder war ein Tag vorüber. Einige Fromme kamen, um den berühmten Yogi zu sehen, verneigten sich ehrfurchtsvoll zu seinen Füßen und ließen etwas Nahrung für Jaimal Singh und einige Gaben für den Asketen da. Dann gingen sie wie tags zuvor. Die Nacht kam, und abermals blieb der junge Mann aus Ghuman. Der Yogi erhob sich von seinem Platz und brachte die zweite Nacht auf dieselbe Weise zu wie die erste. Im Morgengrauen nahm er ein Bad, und bei seiner Rückkehr winkte er Jaimal an seine Seite. “Mein Sohn”, begann er, “ich kann dir nicht viel sagen. Aber in meiner Meditation sah ich, daß der Guru, den du suchst, mit seiner Frau in Agra lebt. Er ist wirklich eine große Seele und spricht über den Granth Sahib. Er wird dir die Schätze des Panch Shabd erschließen. Wende dich dorthin, und ich selbst will dir folgen, sobald ich an seinen Gaben teilhaben kann."

 

Welche Last fiel von Jaimal Singhs Schultern! Wie viele Nächte hatte er sich hin- und hergewälzt, gebetet und sich gefragt, ob Gott je seine Wünsche erfüllen würde. Der Fremde von Peshawar hatte seine Hoffnung genährt, aber seine Worte waren unklar, und nichts war gewiß. Jetzt endlich war ihm ein deutlicher Hinweis gegeben worden, und es schien Erfolg in Sicht.

 

 

Der Herr war in der Tat gnädig und übersah nicht die Bitte seines ergebenen Dieners.Mit neuem Mut und voller Zuversicht verneigte sich der Knabe vor dem Yogi, der sich nun in Schweigen hüllte, und nahm mit einem von unaussprechlicher Dankbarkeit überfließenden Herzen demütig Abschied.

 

 

Das Ziel

 

 

Es hatt kaum zehn Tage gedauert, bis Jaimal Singh über Hapur und die heilige Stadt Mathura die Tore von Agra erreichte. Agra ist berühmt seit den Tagen der großen Mogul-Kaiser, und viele Touristen aus nah und fern, von jenseits des Atlantik und des Pazifik, sahen ihren prächtigen Taj Mahal und andere historische Denkmäler und erlebten auch ihre schwüle Hitze und die staubigen Straßen. Aber der junge Mann aus dem Punjab war nicht gekommen, um ihre historische Pracht zu besichtigen; er hatte keinen Sinn für die prunkhaften und mächtigen Mausoleen, Forts und Paläste, die von Kaiser Akbar und seinen bekannten Nachfolgern erbaut wurden. Was er suchte, waren nicht die Erinnerungen an Zeit-

liches, sondern der belebende Odem des Ewigen. Statt sich den Taj anzusehen, forschte er nach den örtlichen Heiligtümern und Tempeln, auf der Suche nach der Gabe, die ihm zugesichert worden war.

Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine Erkundigungen schienen zu nichts zu führen. Er fand keinen Hinweis auf den Mann, den er suchte. War seine Hoffnung unbegründet? War die Verheißung von Peshawar, die ihm mitten im Dschungel an den Ufern des heiligen Ganges bestätigt wurde, nichts als ein Trugschluß und Täuschung? Möglicherweise war da ein Irrtum? Vielleicht war er noch nicht reif für diese Gabe? Viele Gedanken bedrängten Jaimals Singhs Herz, als er eines Morgens nachdenk-

lich am Ufer der Jumna saß, in deren Wassern er zuvor gebadet hatte. Während er so in seine Betrachtungen versunken war, näherten sich ihm zwei Männer, die persönliche Dinge erörterten.

Zunächst nahm er kaum Notiz, denn viele kamen täglich, um in dem heiligen Fluß ein Bad zu nehmen. Aber dann schoß ihm plötzlich ein Wort in die Ohren, das ihn voll aufhorchen ließ. Ja, sie unter-

hielten sich über einen Soamiji, einen großen Weisen, der in seinem Haus öfter vor einer kleinen Zuhörerschaft über die Sikh-Schriften sprach. Jaimal Singh sprang auf. Er wandte sich an die Fremden und erkundigte sich bei ihnen nach dem großen Mann, von dem sie gesprochen hatten, und bat sie, ihn zu seinem Haus zu führen. Sobald die beiden ihr Bad beendet hatten, gingen sie mit Jaimal Singh zum

Punni Gali, wo der große Soamiji lebte. Als die drei ihr Ziel erreichten, sprach der Meister gerade über das Jap Ji, erklärte seine tiefgründige Bedeutung und brachte die spirituellen Schätze ans Licht, die seine ekstasischen Verse bargen. Es waren nur wenige Zuhörer da, und Jaimal schlüpfte ganz still in eine Ecke. Er hörte die Rede mit gespannter Aufmerksamkeit und nahm jedes Wort von den Lippen des Heiligen begierig auf.

Als die morgendliche Zusammenkunft beendet war, begrüßte Soamiji seinen neuen Besucher und fragte ihn, was er wünsche.

“Ich bin auf der Suche nach der Gabe von Naam und einem Heiligen, der mir seine Segnungen verleihen kann",”antwortete Jaimal Singh. "Ich hörte von Eurer Größe und bin nun zu Eurer Tür geeilt.”

“Es tut mir leid, aber du wirst hier keinen Heiligen finden”, sagte der strahlende Soamiji lächelnd.

“Ich bin nur ein Diener der Heiligen. Selbst der große Nanak betrachtete sich nicht als einen Heiligen; wie könnte dann ein bloßes Nichts, wie ich es bin, von Bedeutung sein? “Er hieß Jaimal nochmals willkommen und versicherte ihm, daß er bleiben möge, solange es ihm beliebe, denn allen stehe frei, an der Fülle des Sahib, des Herrn oben, teilzuhaben.

Später an diesem Tag sprach Soamiji noch einmal mit Jaimal Singh.

 

 

Erfreut über sein tiefes Eindringen in den Granth Sahib, bat er ihn, eine der Hymnen, die er am meisten liebte, vozutragen. Mit melodischer Stimme sang der Jüngling den Teil, der begann:

 

                                                   Karam hovae Satguru milae

                                                Sewa Surat Shabd chit lae

 

                                                Durch Gottes Gnade findet einer den Meister,

                                                der ihn in den Dienst des Surat Shabd Yoga stellt.

                                                                                                                      Rag Magh M.3

 

 

Es war ein bewegender Vortrag, der deutlich erkennen ließ, daß der Vortragende selbst zutiefst empfunden hatte, was er sang. Als er geendet hatte, fragte ihn Soamiji, ob er die volle Bedeutung des von ihm wiedergegebenen Verses verstehe.

 

    “O Heiliger”, war die Antwort, “wenn ich den wahren Sinn verstanden hätte, warum sollte ich dann auf diese Weise verloren umherwandern?” Und als er diese Worte gesprochen hatte und sich seiner langen Reisen und der vielen Mühen erinnerte, füllten sich seine Augen mit Tränen, die ihm still über die Wange liefen.

Soamiji legte seine Hand liebevoll auf die Schulter des Jünglings und versicherte ihm: “Sei guten Mutes, wir sind alte Kameraden, und es gibt keinen Grund zur Sorge.” Dann nahm er die Hymne wieder auf, die gerade vorgetragen worden war, erklärte ihre spirituelle Bedeutung und verflocht sehr fein die Fäden der persönlichen Bemühung und der göttlichen Gnade, die beide für die Erlösung der menschlichen Seele wesentlich sind.

Am nächsten Morgen setzte Soamiji sein Gespräch über das Jap Ji fort. Als er geendet hatte, wandte er sich Jaimal Singh zu und meinte: “ Wenn du irgendwelche Zweifel oder Fragen hast, sollten die besser jetzt geklärt werden. Ich bin nur ein bescheidener Diener des Herrn, und zu einem Diener kann man alles sagen – alles – Hohes oder Niederes; so habe keine Bedenken, sondern sprich frei heraus.

Ich wäre sehr glücklich, wenn ich dir von Hilfe sein könnte, denn ich betrachte das als Dienst für meinen Meister.”

Später, am Nachmittag, bat Soamiji Jaimal wieder, eine Hymne aus den Sikh-Schriften vorzutragen, und der junge Mann begann:

 

                     Utpat, Parlae, Shabde hovae

                  Shabde he phir opat hovae

 

                      Schöpfung und Auflösung werden durch Shabd bewirkt,

                   und durch Shabd kommt die Schöpfung von neuem

                   ins Sein.

 

                                                                                          Ragh Magh M.3

 

 

Dieser Vers war Gegenstand des Nachmittagsgesprächs, und der Meister sprach ausführlich über das Thema von Shabd oder Naam und beantwortete ein um das andere Mal Jaimal Singhs unausgesprochene Fragen hierzu. Er veranschaulichte, wie das Wort die erste Ursache der Schöpfung als auch ihrer Auflösung ist, zugleich der Mittler des Absoluten und das Absolute selbst. Ohne seine Kraft wurde nichts geschaffen, und nur, wenn man sich mit ihr verbindet, kann man zur himmlischen Heimat zurückkehren.

Als alle gegangen waren und Jaimal so mit Soamiji allein blieb, kam er näher und befragte den Heiligen über den Weg zu Erlösung. Er war davon überzeugt, daß der Weise aus Agra ein wahrer Heiliger war, aber die Tatsache, daß er kein Sikh war und die Hookah (Wasserpfeife) rauchte, erzeugte in ihm einiges Unbehagen.

 

Als jedoch Soamiji das Thema der Erlösung erörterte und enthüllte, daß Shabd das einzige Mittel zur Erlösung (Mukti) sei, daß die Verbindung damit nur von einem Pooran Sant, einem vollendeten Meister, gegeben werden könnte, der Mensch ohne Shabd niemals völlig dem Netzwerk von Maya entkomme und seine Ausübung und Meisterung allen möglich sei, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Glaubensrichtungen, schwanden Jaimals Zweifel, und er bat darum, initiiert zu werden. Soamiji wies ihn in die Theorie und Praxis des Surat Shabd Yoga ein, und nachdem er ihm die Instruktionen gegeben hatte, forderte er den jetzt Siebzehnjährigen auf, sich zur Meditation hinzusetzen, und verließ den Raum. Sobald sich Jaimal niedergesetzt hatte, verlor er sich im Samadhi. Die Nacht kam und verging, und der Tag brach an, aber er meditierte bewegungslos weiter, versunken in die innere Glückseligkeit, die er jetzt gefunden hatte. Der nächste Tag wurde durch die Nacht verdrängt, und diese Nacht wich einem weiteren Tag, und der Junge saß da und hatte die Welt vergessen. Nachdem schon mehr als achtundvierzig Stunden vergangen waren, fragte Soamiji einige der Schüler, wo der Schüler aus dem Punjab geblieben sei. “Wir haben ihn vor zwei Tagen beim Satsang gesehen”, erwiderten sie, “aber seitdem nicht mehr.” Da lächelte Soamiji und ging geradewegs in den kleinen Raum, in dem er seinen jüngsten Schüler zurückgelassen hatte und er seitdem von niemandem betreten worden war. Er legte seine Hand auf Jaimal Singhs Kopf, und als dessen Seele zum normalen physischen Bewußtsein zurückkehrte und er seine Augen öffnete, sah er, wie sein Guru ihn anstrahlte.

“Bist du noch im Zweifel, mein Junge, ob dein Meister ein wahrer Sikh ist?” fragte er mit einem Zwinkern in den Augen. Der Junge wollte ihm zu Füßen fallen, aber die lange Zeit im Samadhi hatte seine Gelenke steif und bewegungslos gemacht. Soamiji riet ihm, seine Beine zu reiben, und als sich Jaimal bewegen konnte, geleitete er ihn hinaus. Dort gab er ihm mit seinen eigenen Händen Milch zu trinken, und indem er ihn liebevoll ansah, meinte er: “Auch du wirst eines Tages die Arbeit zu verrichten haben, die ich jetzt tue. Unser Pfad befaßt sich nicht mit äußeren Formen und Ritualen, und jeder von uns sollte in Einklang leben mit den besten Überlieferungen der Gemeinschaft, in die ihn der Herr nach seinem Wohlgefallen gestellt hat. ”Dann begann er die Lehren von Guru Nanak und den Sikh-Gurus zu preisen und sagte, daß jene, die ihnen nachfolgten, wenig Belehrung nötig hätten.

“Halte immer an den Vorschriften des Granth Sahib fest”, fuhr er fort. “Meide Fleisch und Alkohol.

Sei niemals von anderen abhängig, was deinen Lebensunterhalt betrifft, sondern lebe von deiner eigenen Hände Arbeit, und was du verdienst, teile freigiebig mit den Bedürftigen, und denke immer daran, den Gottesfürchtigen und Armen zu helfen. Sei vor allem niemals stolz auf deine guten Werke, noch kritisiere das Tun anderer; wisse dich vielmehr selbst im Irrtum, und weiche niemals von der Tugend innerer Demut ab”.

Mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit hörte Jaimal Singh den Rat seines Meisters und war von nun an immer bestrebt, sich danach zu formen. Hingebungsvoll besuchte er täglich den Satsang und half auf jede ihm mögliche Weise. Seine frühere Schulung hatte ihn gut für den spirituellen Sadhan gerüstet, und er widmete sich nun unermüdlich dem Bhajan (Meditation). Unter Soamijis Führung und durch seinen außergewöhnlichen inneren Fortschritt wurden ihm täglich neue Geheimnisse enthüllt, die Geheimnisse, von denen Nanak, Kabir und Tulsi so begeistert gesprochen hatten.

In jenen Tagen, Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, war die Anhängerschaft Soamijis nicht sehr groß. Er hatte noch nicht mit seinen öffentlichen Vorträgen begonnen, sondern beschränkte die Zusammenkünfte auf einen kleinen privaten Hörerkreis in seinem Haus im Punni Gali, nachdem er nicht mehr im Mai-Than-Gurdawara sprach. Sieben oder acht seiner Schüler waren ihm besonders ergeben. Sie suchten beständig seine Gemeinschaft, und es bestand eine große Zuneigung und Harmonie. Jeden Morgen hielt der Meister eine inspirierende Rede und führte seinen Zuhörern den spirituellen Reichtum vor Augen, der im Granth Sahib und den Schriften von Kabir und anderen großen Heiligen verborgen war. Nach dem morgendlichen Satsang nahmen die Anwesenden ihr Mahl ein. Soamijis Frau, Shrimati Narain Devi, die später, als Zeichen allgemeiner Achtung und Verehrung, mit Radhaji angesprochen wurde, bereitete die Speisen, während Soamiji persönlich alle mit liebevoller Aufmerksamtkeit bediente. Nachmittags und abends fanden oftmals zwanglose Unter-

haltungen und Erörterungen statt und zeitweise regelrechte Vorträge.

 

 

Eineinhalb Monate vergingen auf diese Weise. Jaimal Singh war glücklich, zu den Füßen seines gütigen Meisters leben zu können. In dieser Zeit, im Jahre 1856, war in Agra ein Regiment indischer Soldaten stationiert, darunter auch mehrere Sikhs. Auf Veranlassung Soamijis trat Jaimal Singh dort als Rekrut ein. Er nahm an der Morgenparade teil, eilte aber, sobald er von seinen Pflichten frei war, zum Hause seines Meisters. Dort wohnte er dem Satsang bei, hörte die Ausführungen Soamijis, saß in Meditation und kehrte des Abends in sein Quartier zurück. Seine Kameraden fragten ihn oft, wo er denn soviel Zeit verbringe. Als er ihnen von der Größe Soamiji erzählte, wollten einige seiner Sikh-Freunde dem berühmten Heiligen begegnen. So machte sich Jaimal Singh eines Tages mit sechs von ihnen nach dem Punni Gali auf.

Als die Gruppe ankam, sprach Soamiji gerade über einen Vers aus dem Granth Sahib.

Chacha Partap Singh bemerkte humorvoll, daß der Punjab an diesem Tage zu dominieren scheine. Daraufhin wandte sich Soamiji an ihn und erklärte: “Die Menschen dieses Landes haben vor allen anderen ein Anrecht auf die spirituellen Reichtümer, von denen ich spreche. Wer kann je dem Ruhm des Punjab gerecht werden, das eine Seele wie Guru Nanak hervorbrachte? Er hat uns vor allem gelehrt, daß Freiheit nicht in der Idolverehrung oder im Ritual liegt, und während wir in dieser Gegend, ungeachtet der Botschaft von Kabir und Nanak, noch der Zeremonie und dem Götzendienst verfallen sind, sind die Seelen des Punjab frei von diesem Übel, und es bedarf nur eines Funkens, sie zu entflammen. Achtet auf meine Worte, denn sie sind wert, daß man sich ihrer erinnert: Die Gabe, die mir vom Herrn verliehen wurde, wird eines Tages in der Ebene des Punjab blühen.” Dann wandte er sich seinen Besuchern zu, begrüßte und unterhielt sie, so gut er nur konnte, hieß Jaimal Singh, der sie hergeführt hatte, seinen Dienstpflichten auf die rechte Weise nachzukommen, und als es für sie Zeit zum Aufbruch war, sagte er ihnen Lebewohl.

Die leichten Dienstpflichten ließen Jaimal Singh reichlich Zeit für die Meditation. Wenn er keinen Nachtdienst hatte, stand er um zwei Uhr morgens auf, badete und setzte sich hin, um zu meditieren.Am Tage verbrachte er die Zeit, sobald die Parade und der andere Dienst vorüber waren, auf dieselbe Weise oder eilte zu Soamijis Haus. Er war dafür bekannt, daß er nicht einen einzigen Augenblick mit Zerstreuungen vergeudete, wie es seine Kameraden taten. Mit großer Regelmäßigkeit besuchte er den Punni Gali, wo er oft als Soamijis Pathi diente (der die Schriften vorträgt), und viele seiner Freunde wurden durch den Anstoß, den er gab, Schüler seines Meisters. Das Leben war friedvoll und glücklich und trug beständig Frucht. Doch eines Tages wurde das Regiment von Agra abkommandiert. Schweren Herzens ging Jaimal Singh zu seinem Meister und brachte ihm diese traurige Nachricht. “O Herr”, sagte er, “wie sehr verlange ich danach, mich der Segnungen des Satsang noch etwas länger zu erfreuen. “Soamiji lächelte und sagte: “Gut, laß uns abwarten und auf den Willen des Herrn achten.” Am nächsten Tag kamen neue Anweisungen, die den Abzug des Regiments rückgängig machten.

Jaimal Singh hatte einen raschen inneren Fortschritt. Oft erzählte er Soamiji von seinen verschiedenen spirituellen Erfahrungen, und sein Guru war über sein Vorwärtskommen erfreut. Als er ihm einmal erzählte, daß er leichten Zugang zu Daswan Dwar, dem zehnten Tor (der dritten Hauptstufe der mystischen Seele), habe, aber nicht fähig sei, darüber hinauszugelangen, rief Soamiji aus: “Oh, das ist ganz verständlich. Wir haben bei diesem spirituellen Unternehmen schon früher zusammengearbeitet, und in deinem letzten Leben hast du es bis zur dritten Stufe gebracht. Daher war es so leicht für dich, bis dorthin zu kommen, und aus demselben Grund bestehen die Schwierigkeiten im weiteren.

“Er beruhigte jedoch seinen jungen Schüler und ermutigte ihn, in seinem Bemühen fortzufahren.

Als dieser eines Tages von dem noch höheren Aufstieg berichtete, war Soamiji hocherfreut und erklärte begeistert: “Mache so weiter, dann wird es dir bald möglich sein, anderen Seelen zu Erlösung zu verhelfen. Du bist geboren, damit du der Menschheit hilfst, und zwischen mir und dir ist kein wirklicher Unterschied.”

 

 

 

“Ich bin solcher Ehrung nicht würdig. O laßt mich bescheiden zu Euren Füßen sein, fern vom Fangnetz des Stolzes.”

“Sorge dich nicht, ein wahrer Heiliger kann niemals stolz sein.”

    “O Herr, laßt mich zu Euren Füßen als Diener der Diener der Heiligen. Das ist alles, worum ich bitte.”

    “Du wirst in der Tat den Dienst eines Heiligen tun: die Menschheit erretten, sie zur Wahrheit und spirituellen Befreiung bringen. Was besagt es, selbst Millionen Kühe wegzugeben, gemessen an der Errettung einer einzigen Seele?”

    “Ihr mögt handeln, wie ihr es am besten findet, aber was mich betrifft, so bin ich mir meiner Unwürdigkeit und meiner Begrenzung nur zu gut bewußt.”

Die sechs Monate, um die man die Verlegung des Regiments verschoben hatte, waren zu Ende, und Jaimal Singh mußte gehen. Die letzten drei Tage nahm er Urlaub und verbrachte sie in der Gesellschaft seines Meisters. Als schließlich die Zeit des Abschieds näher kam, konnte es Jaimal Singh nicht länger ertragen.

    “Mir bricht das Herz bei dem Gedanken, daß ich gehen muß. Wenn ihr es wollt, kann ich meinen Namen aus dem Heeresverzeichnis streichen lassen.”

Aber Soamiji wollte so etwas nicht hören: “Baue deine Liebe auf den Shabd im Innern. Das ist dein wirklicher Guru, dir immer zur Seite. Alles andere ist vergänglich und muß zurückgelassen werden.

Du mußt deinen Lebensunterhalt verdienen, wenn du von der Arbeit anderer abhängig bist, mußt du dafür mit deinem geistigen Frieden bezahlen, und deine Erkenntnis würde getrübt. Warum die Armee verlassen, wenn du doch arbeiten mußt?”

Jaimal Singh hatte keine Wahl; er mußte sich der höheren Weisheit seines Meisters beugen.

Beim Abschied sprach Soamiji vom Wesen der Heiligkeit und der Handlungsweise der Heiligen.

Er erzählte Anekdoten über ihre große Demut, und zum Schluß sagte er: “dein Regiment geht jetzt.

Wenn immer du einem wahren Sucher begegnest, stelle ihn auf den inneren Pfad, aber bedenke immer, daß du nur ein bescheidenes Werkzeug der Heiligen bist.” Tränen füllten die Augen des jungen Soldaten, als er seinem Guru zu Füßen fiel und von ihm Abschied nahm.

 

 

Der Soldaten-Heilige

 

Das Regiment kam von Agra nach Delhi. Da Jaimal Singh nun die Gemeinschaft seines Meisters nicht mehr hatte, begann er nach einem spirituellen Sucher Ausschau zu halten, mit dem er sich zusammen-

tun konnte. Bald entdeckte er einen, Baba Karam Singh, der auch der Armee angehörte und dem Herrn sehr ergeben war. Er besuchte ihn häufig in seinem Quartier und hielt sich gern in der

Gemeinschaft des Älteren auf. Als Baba Karam Singh einmal fragte, was Jaimal Singh zu ihm hin-

ziehe, antwortete er schlicht: “Ich komme her, weil ich seit meiner Kindheit gern zu den Füßen derer sitze, die den Herrn lieben.” Baba Karam Singh freute sich, einen Gleichgesinnten, noch so jung an Jahren, gefunden zu haben, und es ergab sich eine lebhafte Unterhaltung über die Spiritualität.

Doch bald stellte sich heraus, daß Baba Karam Singh wie Baba Balak von Hazro den Prana-Rhythmus

mit dem Naam-Prinzip, das im Granth Sahib gerühmt wird, verwechselte. Der junge, nocht nicht voll-

jährige Soldat begann den Irrtum mit großer Bescheidenheit zu berichtigen. Er zitierte entsprechende

Stellen aus den Sikh-Schriften, um klarzustellen, daß der heilige Shabd die ursächliche Kraft sei, die überall am Werk ist, auch in den Pranas, die aber nicht mit den Pranas gleichgesetzt werden dürfte.

Er hob die Tatsache hervor, daß alle großen Vertreter von Sant Mat oder dem Pfad der Meister klar und eindeutig erklärten, daß in der jetzigen Zeit Pranayama und ähnliche Praktiken nicht die innere Befreiung bringen können.

 

 

 

Dann sprach er von seinem großen Meister in Agra, von dessen inspirierenden Lehren und half Baba Karam Singh, auf den rechten Pfad zu Gott zu kommen.

Nach dem großen Aufstand von 1857 wurde das Regiment, zu dem Jaimal Singh gehörte, aufgelöst; und weil er seit langem seine Familie nicht mehr besucht hatte, ging er unmittelbar nach Hause. Die Freude seiner Mutter kannte keine Grenzen, als sie ihn wiedersah. Aber es war ihm nicht bestimmt, lange bei ihr zu bleiben. Da ihn die Nachricht erreichte, daß man in Peshawar ein 24. Sikh-Regiment gebildet hatte, sagte er seiner Familie Lebewohl und trat diesem bei.

Nach einiger Zeit, im Januar 1858, wurde das Regiment aus dem nordwestlichen Grenzgebiet nach Ambala verlegt. Im September des folgenden Jahres kam es nach Sagar, einer Stadt am Ufer eines großen Sees in Zentralindien. Mittlerweile hatten sich Jaimal Singhs Kameraden an seine strenge spirituelle Disziplin gewöhnt; aber die Tage, an denen das Regiment marschieren sollte, sahen sie zu ihrer Überraschung, daß er einen kleinen Unterstand aushob, wo er hinterher, mit dem Rücken gegen den Erdwall, in zurückgelehnter Haltung die ganze Nacht in Meditation saß.

Während er in Sagar staioniert war, bat Jaimal Singh eines Nachts in der Meditation Soamiji, daß das Regiment in die Nähe von Agra verlegt werden möge, damit er den Vorteil haben könne, zu seinen heiligen Füßen zu sitzen. Ein Mensch der Gottverwirklichung kann seltene Wunder tun, da er eins ist mit dem Willen Gottes; und die Liebe eines Guru für einen wahren Schüler ist so groß, daß er ihm nichts abschlägt. 15)

Jaimal Singhs Gebete wurden erhört, und am nächsten Morgen sagte er beiläufig zu Bhagwan Singh, seinem Gefährten und ergebenen Bewunderer, daß das Regiment, wenn es einmal verlegt würde, nach Agra käme. Zu jener Zeit beachtete Bhagwan Singh kaum, was er ihm sagte, aber als die Nachricht von der nächsten Stationierung eintraf, verbreitete sich die Geschichte des prophetischen Soldaten wie ein Lauffeuer durch das Regiment.

Der Befehl zur Verlegung nach Agra war noch nicht ergangen, als Jaimal Singh um den Jahresurlaub nachsuchte. Er wurde ihm bewilligt. Doch als er sich vor der Abreise bei seinem Vorgesetzten meldete, unterrichtete ihn dieser davon, saß er sich nicht in Sagar, sondern in Agra zurückmelden solle. Der Soldat war von dieser Nachricht so überwältigt, daß er, anstatt nach Hause zu gehen, sich sofort nach Agra aufmachte. Soamiji empfing ihn mit großer Zuneigung, und Radhaji bereitete eigens Halwa (eine Art Pudding), um das Ereignis besonders hervorzuheben. Der große Guru betrachtete ihn als Pooran Gurmukh, einen wahren Schüler, und er trug ihm einige seiner mystischen Gedichte vor, die er während Jaimal Singhs Abwesenheit von Agra verfaßt hatte und die später von Rai Saligram Ji, einem anderen bekannten und ausgezeichneten Schüler, mit vielen seiner eigenen Verse in dem Band Sar Bachan gesammelt wurden. Einer der von ihm gelesenen Verse bezog sich direkt auf seinen Schüler:

 

               Yeh dhun hai dhur lok adhur ki

           Koyi pukre Sant sepahi.

 

              Diese Musik geht von einer transzendenten Ebene

           im Inneren aus und wird von einem Soldaten-

           Heiligen aufgefangen. 

                                                     Sar Bachan, Shabd 9 (S.94)

 

                                                    

Jaimal Singh zog den größten Nutzen aus der Zeit bei seinem Meister. Er besuchte regelmäßig den

Satsang und trug oft die Verse vor, über die Soamiji hinterher sprach. In der Zwischenzeit kam das

24. Regiment in die Stadt, er aber blieb weiter im Punni Gali, da er noch Urlaub hatte. Eines Abends bat ihn Soamiji, eine Anzahl Decken und Kleidungsstücke zu nehmen und ihn in eine Ortschaft zu begleiten, deren Bewohner arm waren.

 

 

Sie waren voller Dankbarkeit, die sie begeistert zum Ausdruck brachten, und segneten den groß-

zügigen Fremden. Aber es war nicht Soamijis Art, für sich Lob zu ernten, selbst wenn es ihm zustand.

“O belastet mich nicht mit Dank”, rief er denen zu, die sich um ihn geschart hatten.

“Ich handle nur im Auftrag meines großmütigen Meisters. Ihm allein gebührt alle Ehre.”

Nach der abendlichen Mission wandte sich der große Lehrer an seinen Schüler und sagte:

“Jaimal, mein Sohn, diene den Armen immer auf diese Weise, und schreibe nie dir selber etwas zu.”

Als sein Urlaub vorüber war, ging Jaimal Singh wieder seinem Dienst nach, aber er machte es sich zur Aufgabe, keine Gelegenheit zu versäumen, um seinen Meister zu besuchen.

Oft kam er mittags zum Punni Gali und blieb bis zum späten Abend. Eines Tages, als er ganz in Satsang und Bhajan vertieft war, vergaß er völlig, daß er Nachtdienst hatte. Am frühen Morgen erreichte er sein Quartier und ging direkt zu seinem Kameraden.

    “Hast du deinen Dienst beendet?” fragte Bhagwan Singh.

    “Wieso, hatte ich letzte Nacht Dienst?” wagte Jaimal Singh zu fragen.

    “O, du bist aber spaßig; wie wenn ich dich nicht gesehen hätte, als du gestern abend in Dienst-

kleidung hinausgegangen bist.”

Jaimal sagte nichts weiter. Er überdachte die unfehlbare Fürsorge seines Meisters und war erstaunt über das, was da geschehen war. Falls er noch irgendwelche Zweifel über dieses Wunder hatte, wurden sie rasch zerstreut. Der Aufseher, dem er bald danach begegnete und der ebenfalls auf seinen Nachtdienst zu sprechen kam, erwähnte, daß seine Anwesenheit korrekt im Nachtregister eingetragen sei. Sobald er nun weg konnte, eilte er zum Punni Gali und fiel zu seines Meisters Füßen.

“Wie wenig verdienen wir irrenden Sterblichen die Gnade, mit der Ihr uns überschüttet”, rief er aus und erzählte die seltsamen Begebenheiten der vergangenen Nacht.

    “Ich hoffe, du hast darüber nicht zu deinen Kameraden gesprochen.”

    “O Meister, ich war zu sprachlos, um auch nur ein Wort herauszubringen.”

    “ Sehr gut, sehr gut! Nun behalte es für dich, und merke dir, wenn sich so etwas in Zukunft je wieder ereignet, beherrsche dich, und mache kein Aufhebens davon.”

Dieses Wunder sollte sich wiederholen, als sich nicht lange danach eine ähnliche Situation ergab.

Die eineinhalb Jahre, die das Regiment in Agra blieb, vergingen wie ein glücklicher Traum.

Bevor es wieder den Standort wechselte, hielt sich Jaimal Singh drei Tage bei Soamiji auf.

Am letzten Tag, als er Abschied nehmen mußte, fiel er seinem Meister demütig zu Füßen, Soamiji hob ihn auf, zog ihn voller Liebe an sich und bemerkte: “Es gibt keinen Unterschied zwischen uns, denn wir sind gleicherweise von der Naam-Kraft durchdrungen.”

Wie es im Militärleben üblich ist, kam das Regiment nun nach Peshawar. Es wurde alle zwei oder drei Jahre verlegt. Neben vielen anderen Orten war es vor allem in Rawalpindi, Abbotabad, Mianmir bei Lahore und Jhansi stationiert. In Jhansi wurde Jaimal Singh zum Korporal befördert.

Zwei Jahre später, im Oktober, befand er sich wieder einmal auf dem Weg nach Agra, um den

Jahresurlaub bei seinem Meister zu verbringen. Wer kann die Seligkeit beschreiben, die zu den Füßen eines göttlichen Lehrers erfahren wird? Die Zeit ging dahin, und bevor er es richtig merkte, war für Jaimal Singh schon wieder der Tag der Abreise gekommen. Er ging zu Soamiji, um seinen Segen zu erhalten und sich zu verabschieden. “Dies wird unsere letzte Begegnung sein”, bemerkte der Meister,

“Meine Mission auf Erden ist nahezu erfüllt. Ich brauche wohl nicht zu wiederholen, daß ich dich nach meiner eigenen Art geformt habe und du von meinem Wesen bist.” Als Chanda Singh, der zu der Zeit auch im Punni Gali war, hörte, daß Soamiji die Absicht hatte, in Kürze die Welt zu verlassen, rief er aus: “Was soll dann aus uns werden?” und bat ihn, jemanden zurückzulassen, um sein Werk im Punjab weiterzuführen. Soamiji lächelte und sagte: “Deine Bitten sind schon vom Allmächtigen erhört worden, und Jaimal, den ich bereits ermächtigt habe zu initiieren, wurde mit der Aufgabe betraut.”

Dann sprach er wieder zu Jaimal: “Stelle alle Sucher, die zu dir kommen, auf den Pfad von Naam, aber sieh zu, daß du dich von den Glaubensbekenntnissen und Sekten fernhältst.

 

 

Unser Pfad ist von Nanak und Kabir. Wer immer in spirituellen Eifer entbrannt ist, ob in diesem oder jenem Glauben, hat ein Anrecht darauf. Arbeite weiter in aller Demut, und was immer du tust, tue als Diener der Heiligen.” Danach wandte er sich Radhaji zu und erklärte, indem er seine Hand auf Jaimals Schulter legte: “Er ist wahrhaft unser Gurmukh-Sohn”, nahm einen Saropa (Kopfbedeckung) und gab es seinem fähigen und getreuen Schüler als Abschiedsgeschenk. Diese große Liebe und Ehrung war zuviel für den bescheidenen Gurmukh; sie überwältigte ihn und füllte seine Augen mit Tränen.

Das Herz war ihm schwer, als er wegging und daran dachte, daß sich der irdische Aufenthalt seines Meisters dem Ende nahte, und an die schwere Last, die ihm auferlegt wurde.

Von Agra kehrte Jaimal zu seinem Regiment nach Jhansi zurück. Der letzte Teil seiner Soldatenlaufbahn ist bald erzählt, wobei es nicht nötig ist, die vielen Orte anzuführen, an denen das

24. Sikh-Regiment in der Folgezeit stationiert war. Was immer geschah, wohin immer er ging, Jaimal Singh ließ sich nie davon abhalten, seinen spirituellen Übungen regelmäßig nachzukommen. Wie ein Liebender, der von seiner Liebe trunken ist, war er immer in die Freude des inneren Lebens vertieft.

Selbst als sein Regiment 1879 während des englisch-afghanischen Krieges im nordwestlichen Grenzgebiet im Gefecht lag, verließ er nachts sein Quartier und ging in die Einsamkeit, wo er eine

Grube aushob und sich mit dem Gewehr unter den Knien der Meditation hingab. Oft spürten ihn

Feindliche Schützen auf, aber wenn sie seine strahlende Gestalt sahen, erkannten sie, daß er kein gewöhnlicher Soldat war, sondern ein großer Heiliger, und ließen ihn in Ruhe. Es kam vor, daß sie sich in Verehrung vor ihm verneigten, wenn er sich von der Meditation erhob. Als Jaimal Singh, der mit 18 Jahren in Agra in die Armee eingetreten war, von der Jugend ins mittlere Alter kam und zum reifen Mann wurde, gewann er langsam aber stetig die Herzen aller, die um ihn waren. Zunächst mochten ihn einige seiner Kameraden als einen strenggläubigen Einzelgänger abtun, der nicht zu leben verstand, sondern sich in der Lektüre heiliger Schriften und in langweiligen geistigen Übungen verlor. Aber im Laufe der Jahre erkannten sie, daß sie in ihm keinen gewöhnlichen Sterblichen unter sich hatten. Was er seinem Gefährten Bhagwan Singh in Sagar über den nächsten Standort ihres Regiments vorhergesagt hatte, zog weite Kreise und brachte ihm viele Bewunderer ein. Als sie während des afghanischen Krieges in Jamrud stationiert waren, wurde Bhagwan Singh, der in einem Geleitzug Dienst hatte, plötzlich krank und starb. Im selben Augenblick, wo sein Geist den physischen Körper verließ, rief Jaimal Singh viele Kilometer von ihm entfernt ganz unvermittelt aus: “Wah Wah nipat gaye” – “Gut, gut, endlich ist es vorbei.”

Inder Singh, der dem Regiment in Jhansi beigetreten war, eine tiefe Zuneigung zu seinem Vorgesetzten empfand, und sein erster Initiierter wurde, saß neben ihm. Er war keineswegs erstaunt über diesen lebhaften Ausruf und fragte seinen Lehrer, was er bedeute. Jaimal Singh war nicht bereit, darüber zu sprechen. “Warum kümmerst du dich um etwas, womit du nichts zu tun hast?” fragte er.

Da Inder Singh darauf beharrte, sagte er ihm, daß Bhagwan Singh gestorben sei. Der junge Soldat notierte den Tag und die genaue Zeit, und als die Nachricht vom Tode seines Kameraden eintraf, sah er die Übereinstimmung.

Ähnliche merkwürdige Begebenheiten kamen bei Jaimal Singh häufiger vor, und mit der Zeit wurde er im ganzen Regiment bekannt. Jedermann achtete ihn, und selbst die englischen Offiziere bezeigten ihm große Verehrung und nannten ihn “Lord Bischof”. Alle, die eine Neigung für spirituelle Dinge hatten, suchten seine Gemeinschaft; nicht weniger solche, die unter weltlicher Betrübnis zu leiden hatten. So kam der Bezirkskommissar Kharak Singh, der seit vielen Jahren kinderlos verheiratet war, und bat, mit einem Kind gesegnet zu werden. Jaimal Singh machte die Bemerkung, daß es ihm nicht bestimmt sei, ein Kind zu haben, aber als Kharak Singh ihn weiter drängte, wurde seine Bitte gewährt.

Das Kind wurde geboren; aber der glückliche Vater versäumte, einen Betrag von 500 Rupien für Wohltätigkeitszwecke zu verteilen, was ihm Jaimal Singh nachdrücklich eingeschärft hatte. Nicht lange darauf wurde der Kommissar ernstlich krank. Man rief nach Jaimal Singh, doch der sagte, daß es nun zu spät sei und dem Übel nicht mehr abgeholfen werden könne.

Ein paar Tage später starb Kharak Singh.

 

 

War es bloßer Zufdall, oder lag es an Jaimal Singh, daß die Angehörigen dieses 24. Sikh-Regiments

ein so außerordentliches Interesse für spirituelle Dinge an den Tag legten? Es ist keine seltene

Erscheinung, daß wirkliche Heilige überall eine Atmosphäre des Friedens verbreiten, welche die Ergebenen des Herrn zu ihnen hinzieht und auf jene einwirkt, die um sie sind. Jedenfalls war dieses Regiment bekannt für seine religiösen Neigungen, und viele Sadhus besuchten es, wo immer es auch stationiert war. Jaimal Singh wurde stets eingeladen, wenn Sadhus zum Regiment kamen oder einer der Soldaten mit ihnen zusammentreffen wollte. Als eines Tages einige der jungen Sikh-Soldaten als Erwachsene in ihrem Glauben getauft werden sollten, bat man ihn ohne Zögern, die Zeremonie zu leiten, und er hielt bei einem solchen Anlaß eine erleuchtende Rede über die innere spirituelle Bedeutung des Rituals. An seinen Vorträgern aus den Schriften nahmen nach und nach immer mehr Menschen teil, und in späteren Jahren hat Jaimal Singh, der unterdessen allgemein “Baba Ji”,

“Bhai Ji” oder “Sant Sepahi” genannt wurde, des öfteren kurz über ihren wahren Sinn gesprochen.

Durch seine anziehende Persönlichkeit, seinen untadeligen Charakter, seine spirituelle Meisterschaft und sein wachsendes Ansehen hatte er bald einen kleinen Kreis sehr ergebener Anhänger aus dem Regiment um sich, darunter Männer wie Inder Singh, Bagga Singh, Bhagwan Singh und andere, die seine ersten Initiierten wurden.

Aber Jaimal Singhs militärische Laufbahn fiel nicht nur auf, weil er streng an einem hohen spirituellen Ideal festhielt, sondern auch wegen seiner ebenso bemerkenswerten Leistungen im Bereich der dienstlichen Pflichten. Getreu dem Geheiß seines Meisters war Jaimal Singh in der Erfüllung seiner Aufgaben äußerst genau. Nichts vermochte ihn seiner Arbeit fernzuhalten, ausgenommen vielleicht, wenn er in das Göttliche versunken war, bei welcher Gelegenheit Soamiji auf wunderbare Weise die Lücke füllte. Er war bekannt für seine  Ehrbarkeit und Unparteilichkeit und obgleich selbst ein strenger Vegetarier, zögerte er nicht, an seine Kameraden Fleisch auszuteilen, wenn er dies einmal pflichtgemäß zu tun hatte. Einmal erklärte ein Offizier, daß sein Vegetarismus aller Wahrscheinlich-

keit nach seine Fähigkeiten als Soldat untergraben würde, und riet ihm zu einer anderen Kost, damit seine Widerstandsfähigkeit und seine Muskeln gestärkt würden. Jaimal Singh war jedoch nicht zu überzeugen und forderte alle “Fleisch essenden starken Männer” heraus, ihn im Felde zu überbieten.

Später baten sie ihn, die Gründe für seine Abstinenz zu erklären, und so hielt er einen ausführlichen Vortrag an das gesamte Regiment, worin er eingehend darlegte, warum Fleisch gemieden werden sollte, und die landläufige Meinung widerlegte, daß die vegetarische Ernährung die Lebenskraft ver-

mindere. Seine Diensturkunde, die 34 Jahre aktiven Dienst ausweist, bestätigt die Wahrheit seiner Behauptung, denn sie berichtet nicht von einem einzigen Krankheitsfall.

Wie sein großer Meister, so war auch Jaimal Singh in Swartha und Parmartha – weltlicher Gesinnung und Frömmigkeit – gleicherweise unangreifbar. Seine vorbildliche Ordnung, Nüchternheit und Tapferkeit, seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und die gelassene und bescheidene, ehrenhafte Erfüllung all seiner Pflichten blieben nicht unbemerkt. Während seiner Stationierung in Jhansi wurde er 1869 mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet, die ihn in den Rang eines Naik (Korporal) erhob. Genau drei Jahre später wurde er zum Havildar (Sergeant) befördert, und als das Regiment von 1880 an in Multan lag, erhielt er eine zweite Auszeichnung für getreue und anerkennenswerte Pflichterfüllung. Am 15. August 1889 trat er in den Ruhestand, nachdem er

34 Jahre ergebenen und ehrenvollen Dienst geleistet hatte. Als er von seinem Regiment Abschied nahm, war allen das Herz schwer, den Kollegen, Vorgesetzten und Untergebenen, denn sie verloren in ihm nicht nur einen fleißigen und zuverlässigen Kameraden, sondern einen Freund und Lehrer ( er unterrichtete die Offiziere in Gurmukhi), und was viel seltener ist, einen inspirierenden, moralisch und spirituell unfehlbaren Führer.

Die von seinen Kameraden und anderen hinterlassenen Berichte über Babaji stimmen mit seinem übrigen Leben und seinem Charakter voll überein. Bei ihrer Lektüre begegnet man einem Menschen, der trotz seiner Vertiefung in die göttlichen Mysterien nicht für die Welt verloren war.

 

 

Einen Regimentskameraden, der ihm während seines Dienstes als Havildar unterstellt war, verwunderte es, daß der ihn in drei Jahren ihres Zusammenseins nicht ein einziges Mal ungehalten sah und auch von anderen nichts dergleichen hörte. Immer freundlich, vermied er einen groben oder ge-

wöhnlichen Umgangston. Er war zeit seines Lebens strenger Vegetarier und gleicherweise Abstinenzler. Dem läßt sich seine ebenso unbeugsame Festigkeit in Brahmacharya (Keuschheit) hinzufügen, denn er blieb ehelos. Durch die Hingabe an Gott gebunden, drängte es ihn nie zu heiraten, und er widerstand entschlossen jedem Versuch, ihn zum Ehestand zu überreden. Als sein jüngster Bruder Jiwan Singh ebenfalls in die Armee eintrat und seinen Wunsch äußerte zu heiraten, sprach sich Jaimal Singh nicht dagegen aus, sondern sagte nur: “Warum willst du in dieses Gewebe eindringen, wenn es unserer Familie nicht bestimmt ist weiterzubestehen?” Jiwan Singh heiratete, und ein Jahr später wurde ihm ein Sohn geboren, der nach kurzer Zeit starb und dem seine Mutter bald folgte.

Dan Singh, der zweite Bruder, der den Hof führte, war ebenfalls kinderlos, und so hatte sich Jaimals Vorhersage erfüllt.

Andere Eigenschaften, die Jaimal Singh von den meisten Menschen unterschied, waren seine unermüdliche Bereitschaft zu dienen; seine ebenso große Nächstenliebe und Großzügigkeit. Genau wie Soamiji verteilte er des öfteren Kleidung und andere unentbehrliche Dinge an Arme und Bedürftige. Er hatte keine Feinde und betrachtete alle als seine Freunde. Seine besondere Liebe galt jedoch den Armen und vor allem den Sadhus und Ergebenen des Herrn. Während andere müßig waren oder Sport trieben, suchte er die Gesellschaft solcher gottesfürchtiger Menschen, sorgte für ihre Bedürfnisse und erörterte mit ihnen spirituelle Fragen. Weder in seiner Militärzeit noch danach machte er Unterschiede zwischen den einzelnen Glaubensanschauungen, sondern behandelte alle – Moslems, Christen, Sikhs oder Hindus – als ebenbürtig. Obwohl er jederzeit Willens war zu helfen, materiell oder spirituell, hat er es immer vermieden, im Mittelpunkt zu stehen.

Schon als Kind war er für seine Bescheidenheit bekannt, wobei sich die Leute zuweilen über seine Schüchternheit lustig machten. Wenn er Sadhus begegnete, gab er sich damit zufrieden, ihnen zuzuhören; selten widersprach oder kritisierte er. Traf er einen wahren Sucher, war er gerne bereit, Probleme zu erörtern und zu klären; doch was immer er wußte, schrieb er nie seinen eigenen Fähigkeiten zu, sondern der Gnade seines unvergleichlichen Meisters.

Seine Kleidung und Erscheinung waren einfach, aber fein wie er selbst. Er war von mittlerer Größe, etwa 1,60 m, und kräftig gebaut. Seine Stirn zeigte über dem rechten Auge eine knotige Erhöhung, und an der Sohle des rechten Fußes hatte er ein Lotoszeichen, das Symbol wahrer Spiritualität.

Er besaß feine Gesichtszüge und eine helle Haut, ein strahlendes Antlitz, dessen frische Farbe durch einen langen Vollbart betont wurde, der sein leuchtend schwarzes Haar, abgesehen von ein paar vereinzelten weißen Fäden, bis zum Ende beibehielt. Wenn er nicht in Dienstuniform war, trug er einen weißen Turban nach Art der Jats (Landleute), einen weißen Muslin-Kurta (loses Hemd) und eng anliegende Beinkleider der gleichen Farbe. Hielt er sich mit seinen Gefährten im Quartier auf, hüllte er sich meist ganz zwanglos in einen handgewebten, an der linken Seite befestigten Umhang, wickelte sein Haar (das ihm lose bis zum Bund herunterfiel) in ein Handtuch und ging in Kharaon (Holz-

sandalen) oder Jooti (indischen Schuhen). Er war einfach in seinen Gewohnheiten und genügsam hinsichtlich seiner Bedürfnisse. Milch war sein bevorzugtes Nahrungsmittel, und besonders gern trank er Ziegenmilch. Für sich selbst brauchte er nur wenig; seinen Verdienst gab er größtenteils für wohltätige Zwecke oder zur finanziellen Unterstützung seines Bruders.

 

 

Der Fackelträger

 

Nachdem Baba Jaimal Singh als Pensionär der Militärverwltung in den Ruhestand getreten war, beschloß er, das Heim seines einzigartigen Meisters zu besuchen. Soamiji hatte im Jahre 1878, wie er es vorausgesagt hatte, die Welt verlassen; aber Babaji fühlte sich seiner Familie und seinen Schülern sehr verbunden. So nahm er 1890 den Zug nach der alten Mogul-Hauptstadt und ging von dort geradewegs zum Punni Gali.Radhaji war voller Freude, Soamijis geliebten Schüler wiederzusehen.

Chacha Partap Singh, Soamijis jüngster Bruder, war ebenso erfreut und hieß ihn herzlich willkommen.

Auch Baba Gharib Das, der damals offensichtlich in Agra war, erhielt Nachricht und eilte herbei, um mit der großen Seele aus dem Punjab zusammenzusein. Wer vermag die große Freude zu beschreiben, als sie sich begrüßten, einander umarmten und des großen Meisters gedachten, der zwar nicht mehr auf der physischen Ebene, wohl aber geistig immer bei ihnen war? Als sich diese alten spirituellen Kameraden wiedersahen, strahlten sie Liebe aus, und diese Begegnung zu erleben war in sich eine Lektion aus der Wahrheit, daß Gott Liebe ist. Radhaji brachte einen roten Turban und einen Aasan oder Gebetsteppich, den ihr Soamiji vor seinem Weggang als letztes Geschenk an seinen Gurmukh-

Schüler zurückgelassen hatte. Chacha Partap Singh holte dann noch einen Gaddi (eine Art Polstersitz), in den sich Babaji setzen sollte. Er wollte aber nichts davon wissen und meinte: “Ich bin nur ein Hund dieses Hauses, gesegnet, in seinen Mauern verweilen zu dürfen” und blieb stehen. Da protestierte Chacha Partap Singh und bestand auf seiner Bitee, doch ohne Erfolg. Schließlich schritt Radhaji ein und beendete den Wortwechsel, indem sie erklärte: “Jaimal Singh ist wirklich ein würdiger Sohn Soamijis, der das meiste aus dem ihm anvertrauten Kapitel gemacht hat. Ihm wurde die Herrschaft über Sat Lok gegeben, warum sollte er sich da um irdische Gaddis kümmern? Nach dem Mahl bestand Babaji darauf, das Geschirr sauberzumachen. "Dieses Heim ist für mich ein Tempel, denn hier kam ich zur Erleuchtung. Mein einziger Ergeiz ist, diesem Haus zu dienen.” Aber Radhaji wollte das nicht.

“Du magst an jedem anderen Tag tun, was dir gefällt, aber heute mußt du dich dem fügen, was ich sage.”

Tags darauf ging Babaji in Begleitung von Chacha Partap Singh und Baba Gharib Das zu Rai Saligram, einem geliebten Schüler Soamijis, der nach ihm betraut wurde, das Werk in Agra fortzuführen, und weiter Vorträge im Pipal Mandi hielt, wo er allgemein als Hazur Maharaj bekannt war. Er freute sich sehr über diesen Besuch und empfing den hochgeschätzten Gast aus Ghuman voller Achtung und Zuneigung.Sie umarmten sich, wobei Hazur Maharaj Babaji zu dem Gaddi zog, auf welchem er gesessen hatte, um ihn neben sich zu haben. Aber mit der für ihn charakteristischen Be-

scheidenheit lehnte Baba Jaimal Singh diese Ehre ab und setzte sich auf den Boden.

Am dritten Tag überreichte Hazur Maharaj Babaji eine prächtige, mit Gold verbrämte Seidenrobe, doch er wollte sie nicht nehmen. “Wie könnte sich ein einfacher Landsmann wie ich in ein so kostbares Gewebe kleiden? Ein Khadi (handgewebtes Tuch) paßt viel besser zu mir.” – “Wie kannst du so etwas sagen”, wandte der Gastgeber ein, “wo Soamiji dich zum König der Spiritualität machte und dich mit seiner Mission im Punjab betraute?” Als er sah, daß Babaji nicht nachgab, machte er den Vorschlag: “Nun gut, wenn du das Gewand nicht annehmen willst, so erweise mir die Ehre, es wenigstens einmal anzuziehen, wonach ich es als kostbares Andenken behalten will.” Bei diesen Worten erklärte Chacha Partap Singh, daß er ein älteres Recht darauf habe und es darum ihm zugesprochen werden möge, nachdem es Baba Jaimal Singh abgelegt hatte. Zuletzt kam auch Radhaji herein und verwandte sich dafür. Wie konnte Jaimal Singh bei einer solchen Liebe und Ehrung noch länger Widerstand leisten? Welcher Sterbliche verdiente das? Es war alles die Gnade seines Meisters. Mit Tränen in den Augen nahm er das Gewand aus Radhajis Händen, legte es ehrfürchtig auf seinen Kopf und trug die Verse aus dem Granth Sahib vor, die beginnen:

 

                     Maen av-ghun, gun nahin koi ...

 

                          Ich bin unwürdig, und keine Tugend ist in mir ...

 

 

So verging eine Woche, und nachdem Jaimal Singh dem Ort seiner spirituellen Erleuchtung alle Liebe und Achtung erwiesen hatte, bereitete er sich auf den Abschied vor. Er lud Baba Gharib Das ein, mit ihm zu kommen, und dieser nahm die Einladung dankbar an. Dann machten sie sich auf die Reise nach dem Punjab. Als sie in Ghuman angekommen waren, wurden ihnen zu Ehre Ansprachen gehalten und Texte aus den heiligen Schriften gelesen. Zudem stand Jiwan Singhs Hochzeit bevor -–man feierte Feste und freute sich. Die Dorfbewohner nahmen regen Anteil an den Vorträgen der beiden spiri-

tuellen Freunde, und die Tage gingen dahin, bis Baba Gharib Das wieder zurück mußte.

Jaimal Singh begleitete ihn zur Bahnstation von Beas, und als der Zug abfuhr, sagte er ihm herzlich Lebewohl.

Babaji blieb weiterhin in freundschaftlicher Verbindung mit Soamijis Schülern und seiner Familie.

Es bestand eine große gegenseitige Achtung und Verehrung, und Babajis Besuch in Murree im Jahre 1894 kam durch die Einladung einiger Satsangis aus Agra zustande. Doch nach dem Tode von Hazur Maharaj Rai Saligramji begannen sich die Dinge zu ändern. Es wurden Maßnahmen getroffen, um alle Tätigkeiten unter die Kontrolle von Pandit Brahm Shankar Misra (alias Maharaj Sahib) zu bringen, indem ein zentraler Verwaltungsrat des Soamibagh ins Leben gerufen wurde. Babaji wurde zusammen mit neun anderen für den ersten Ratsausschuß nominiert. Der Brief, den Chacha Partap Singh bei dieser Gelegenheit am 4. August 1902 aus Allahabad an Baba Jaimal Singh sandte und der diese Ernennung bestätigt, liegt vor. 16) Babaji widerstrebte es jedoch, dem Rat beizutreten, da er spürte, daß die Veränderungen, die man damals unter den Satsangis von Agra feststellen konnte, nicht zu Soamijis Lehren paßten. Er war auch nicht mit Maharaj Sahibs Plan einverstanden, zum Gedenken an Soamiji einen prächtigen Samadh (Gedenkstein) zu errichten, sondern sprach sich dagegen aus, weil er glaubte, daß ein so demütiger Geist, wie sein Meister es war, ein derartiges Vorhaben niemals gebilligt hätte. Als er zu dieser Zeit nach Agra kam, erklärte er offen seine Ansichten, doch ließ sich Maharaj Sahib nicht davon abbringen. Er wurde dort nicht mehr so wohl aufgenommen wie ehedem, und seine Worte waren nutzlos. So kehrte er nach Beas zurück und entschloß sich, der Tätigkeit des Soamibagh-

Rates fernzubleiben.

Während seiner Militärzeit verbrachte Baba Jaimal Singh jedesmal einen Teil seines Urlaubs in Ghuman. Obgleich frei von weltlichen Bindungen, liebte er doch seine Mutter sehr.

Bei einer Gelegenheit erzählte er einem Schüler, daß er und seine Mutter sich in den vergangenen drei Lebensläufen derselben verwandtschaftlichen Beziehung erfreut hätten. Wenn er nun in seine Heimat kam, pflegte er seine Zeit nicht mit unnützem Geschwätz und Nichtstun zu vergeuden, sondern ging ans Ufer des Beas-Flusses und setze sich verborgen in einen der Gräben, die der eigenwillige Fluß durch den launischen Wechsel seines Laufs geschaffen hatte, und blieb tagelang in spiritueller Hingabe versunken, indem er nur von ein paar trockenen Chapatis (indische Brote) lebte, die er von zu Hause mitgebracht und an einen Kikarbaum gehängt hatte. Manchmal ging er auch, wenn er in Ghuman war, zu Dera Baba Namdev und setzte dort seine Meditationen fort. Oder er benutzte für den gleichen Zweck einen Unterstand im Hof des elterlichen Hauses. Diese Haus und der Unterstand wurden noch lange nach Babajis Tod erhalten. Sein Nachfolger Hazoor Baba Sawan Singh Ji nahm manchmal seine engsten Schüler mit nach Ghuman und zeigte ihnen die Stelle, wo sein großer Meister zur Meditation zu sitzen pflegte. Insbesondere wies er auf den Pflock an der Wand des Unterstandes hin, an dem Babaji sein Haar festgebunden hatte, um den Schlaf abzuwehren.

Genau wie seine Kameraden Baba Jaimal Singh mit der Zeit zu achten und verehren lernten, haben nach und nach auch die Bewohner von Ghuman seine spirituelle Größe erkannt. Seine Hingabe in früher Kindheit war dort schon zur Legende geworden, und wann immer der Sant Sepahi kam, eilten die Leute aus der Umgebung herbei, um ihn zu grüßen. Jung und alt – jeder, der für spirituelle Dinge aufgeschlossen war, suchte ihn auf. Seine Jugendfreunde Mistri Elahi Baksh und Bhai Lena baten als erste um spirituelle Führung. Er lobte ihren Eifer, sagte aber, daß die Zeit für ihre Einweisung noch nicht da sei. Viele Jahre später, als er die rechte Stunde für gekommen hielt, stellte er sie auf den inneren Pfad; sie gehörten zu seinen ersten Schülern in Ghuman.

 

 

Nachdem sich Babaji von seinen dienstlichen Pflichten zurückgezogen hatte und wieder in sein Heimatdorf kam, ging er nach alter Gewohnheit zum Ufer des Beas, um sich den spirituellen Übungen zu widmen. Die Jahre unmittelbar nach seiner Militärzeit brachte er größtenteils auf diese Weise zu.

Als er einmal mit Hakim Nand Lal in Amritsar war, erwähnte er, daß er einen ruhigen Ort in der Einsamkeit suche, wo er sich niederlassen und weiter seinen Meditationen nachgehen könne. Lala Khazana Mal, ein Geldverleiher, der auch dabei war, meinte, daß man einen solchen Ort am Beas-Ufer zwischen Vairach und Balsarai finden würde, wo er sein Geschäft betreibe. Babaji, der sich von dieser Gegend ohnehin angezogen fühlte, nahm diesen Vorschlag an. Es war der Ort, wo Kahan, eine gottberauschte Seele, Babaji in früheren Jahren begegnet war und gesagt hatte, daß er ihm hier für später eine Stätte bereite. In der Zwischenzeit war Baba Chanda Singh, der die Unterweisungen ebenfalls zu den Füßen Soamijis erhalten hatte, verstorben. In seinem letzten Augenblick fragte ihn

Bibi Rukko, eine sehr ergebene Schülerin, was nun aus ihr werden solle. “Fürchte nichts, mein Kind”, erwiderte der Weise, “ein anderer, größer als ich, wird für dich Sorge tragen.” – “Wo werde ich ihn finden?” fragte sie. “Ihn finden? Nein, das brauchst du nicht, denn er selbst wird dich ausfindig machen.” Kurz bevor sich Babaji am Beas-Ufer niederließ, erzählte Bibi Rukko, die damals in Vairach lebte und spirituell gut vorangekommen war, den Dorfbewohnern, daß ihr Beschützer in diese Gegend kommen und dort leben werde. Bei seiner Ankunft fand Baba Jaimal Singh eine kleine Hütte von etwa zwei mal zwei Metern vor, die aus Stroh und Zweigen für ihn gebaut worden war und in der er von nun an wohnte. Bald danach erreichte auch Khazana Mal den Ort. Als er hörte, daß Babaji gekommen sei, ging er zu ihm. Er ließ die Hütte mit Lehm verputzen und eine Mulde ausheben. Man schrieb nun das Jahr 1891, und Baba Ji gab sich mit doppeltem Eifer seinen spirituellen Übungen hin. Er ging in diese Höhlung und blieb dort tagelang, manchmal sogar zwei Wochen ununterbrochen im inneren Samadhi vertieft, ohne einen Gedanken an Nahrung.

Babaji vermied zwar, öffentlich Aufsehen zu erregen, aber Moschus kann auch im Dunkeln nicht verborgen bleiben. Er kümmerte sich nicht um weltlichen Namen und Ruhm, und dennoch fiel ihm beides zu. Der Ruf seiner spirituellen Größe war bereits von Ghuman in die benachbarten Dörfer gedrungen, und daß man zu einem Heiligen geht, um seinen Darshan zu haben, ist in diesem Land der Weisen eine alte Gepflogenheit. Wo erst Einöde war, erschienen die Menschen in immer größerer Zahl, und bald wurden regelmäßig Satsangs abgehalten. Wie konnte Babaji jene wegschicken, die zu ihm gekommen waren? In aller Einfachheit und Demut lehrte er sie die spirituelle Botschaft, die er zu den Füßen Soamijis erhalten hatte. Viele begüterte Menschen baten um die Erlaubnis, für ihn ein festes Haus zu bauen; aber reich in seiner Anspruchlosigkeit, setzte er die einfache, strenge Lebensweise fort.

Die Biographie eines Heiligen zu schreiben bedeutet, etwas beinahe Unmögliches zu versuchen.

Wenn sie ihrem Gegenstand wirklich gerecht werden soll, muß sie den inneren Bewegungen folgen, die sich der Beobachtung, Analyse und Beschreibung entziehen. Man mag das Leben eines großen Künstlers, Schriftstellers, Soldaten oder Staatsmannes untersuchen, und wenn einer mit tiefem Ver-

ständnis und Vorstellungskraft begabt ist, kann er es in Worten wiederaufleben lassen und ein an-

schauliches Bild der seelischen Kämpfe und Entscheidungen geben. Aber die Heiligen haben sich mit einem Mal von dieser in die andere Welt erhoben und ihre Zelte in unzulänglichen Bereichen aufgeschlagen. Nur wenige Menschen sind dort hingelangt, und die, welche Zugang hatten, hüllten sich in Schweigen.

 

                             Als die Feder ansetzte, diesen Ort zu beschreiben,

                              brach sie in Stücke, und das Papier zerriß.

 

 

 

Den Fortschritt der mystischen Seele zu studieren ist gewöhnlichen Sterblichen nicht möglich, und wer die innere Reise kennt, kann nur in Bildern und Gleichnissen sprechen; denn wie anders sollte man in der menschlichen Sprache Erfahrungen ausdrücken, für die sie niemals gedacht war?

Darum muß die Geschichte einer von rastlosem Eifer entflammten Meisterseele, die sich von Ebene zu Ebene begibt, ungeschrieben bleiben. Sie vermittelt bestenfalls nur die Schale äußerer Geschehnisse und Begebenheiten, wodurch die ungewöhnliche Natur der spirituellen Erfahrungen, die sie um-

schließt, angedeutet wird. Wenn eine solche Seele zu voller Erleuchtung gekommen war und mit dem Unendlichen eins wurde, geht es nicht länger um ihren eigenen Werdegang, sondern um den all jener, die in ihren Bannkreis kamen und von der Knechtschaft der Welt befreit wurden.

Nachdem Babajis große Suche von Erfolg gekrönt war, ist seine Lebensgeschichte nicht mehr so sehr die Aufzeichnung seiner eigenen Entwicklung, sondern der vieler Seelen, die durch ihn Vorteil hatten.

So erzählte Mian Chirag Din die Geschichte seines Großvaters mütterlicherseits, Mistri Elahi Baksh, von dem wir schon gesprochen haben.

Elahi, ein Jugendfreund Babajis, zeigte großes Interesse für spirituelle Dinge und erörterte sie mit ihm, wenn er Urlaub hatte und von seinem Regiment nach Hause kam. Als sich Babaji, in seinem Heimatort als “Bhai” bekannt, wieder einmal in Ghuman aufhielt, sah ihn Elahi in Begleitung eines Sadhu des Weges kommen. Sie führten eine lebhafte Unterhaltung. Elahi wollte gern das Thema wissen und erfuhr, daß der Sadhu darauf beharrte, Brahmand sei der höchste aller himmlischen Bereiche, obwohl ihm Babaji versicherte, daß es noch höhere Regionen gebe. Kaum hatte Elahi das gehört, wandte er sich dem Sadhu zu und sagte mit feierlicher Überzeugung: “Ehrwürdiger, Babaji hat vollkommen recht, es gibt wirklich Regionen, die höher sind, als Ihr sie kennt.”

Dies brachte den Sadhu zum Schweigen, und er ging weg.

Als nun die beiden allein waren, dankte Babaji Elahi für sein freundliches Eingreifen und fügte hinzu:

“Doch es ist seltsam, daß du mir nie etwas über deinen Zugang zu den inneren spirituellen Reichen gesagt hast.”

“Wer sagt denn, daß ich Zugang zu ihnen habe?”

 

“Aber wie konntest du dann mit einer solchen Überzeugung sprechen?”

 

“O Bhai, ich weiß nur, daß ein Mensch der Verwirklichung niemals etwas Falsches sagen kann.

Wie könnte ich somit an dem zweifeln, was ihr sagt?”

Babaji war über den spontanen, tief wurzelnden Glauben seines Freundes so gerührt, daß er zu ihm sagte: “Ich werde dir Schätze erschließen, die wenige je erträumen und weniger erlangen werden.”

Er nahm ihn geradewegs ans Ufer eines nahe gelegen Teiches mit und gab ihm dort die Initation in den Surat Shabd Yoga. Aber Elahi mußte den Wert der erhaltenen Gabe erst noch kennenlernen.

Sehr interessiert an spirituellen Dingen, setze er die Praktiken fort, die er einmal von einem Moslem-Heiligen gelernt hatte, und versäumte, den Anweisungen seines Freundes nachzukommen.

Als nun Babaji wieder einmal nach Ghuman kam, schickte er nach Elahi und erkundigte sich, was er mit dem inneren Schlüssel, der ihm gegeben worden war, gemacht habe, und da ihm Elahi erzählte, daß er nichts getan und sogar vergessen habe, was ihm gesagt wurde, war Babaji ungehalten: "Ich gebe dir den größten Reichtum, den je ein Mensch erhoffen kann, und du zollst ihm eine solch un-

genügende Beachtung?” Er schalt ihn aus und schlug ihm dreimal ins Gesicht.

Sobald seine Hand Elahis reumütiges Gesicht getroffen hatte, öffnete sich sein inneres Auge, und sein Geist erhob sich in höhere Welten. Von diesem Tag an gab sich Elahi Baksh ausschließlich dem Surat Shabd Yoga hin, besuchte täglich seinen Pir oder Meister und verneigte sich ehrfurchtsvoll vor ihm.

Wenn ein großer Meister eine wandernde Seele unter seine Fittiche nimmt, ist seine Gnade nicht nur auf seinen unmittelbaren Schüler begrenzt, sondern strahlt auch auf die nächsten Verwandten aus und jene, die ihm nahestehen. Die Familie von Elahi Baksh kam unter einen solch mächtigen spirituellen Einfluß, daß trotz Spott und Verachtung seitens ihrer Moslem-Verwandten und Glaubensbrüder viele ihrer Angehörigen Unterweisung zu Babajis Füßen suchten.

 

Elahis Schwiegersohn, Hussain Baksh, war unter den ersten, die den Pfad aufnahmen. Er war Babaji sehr ergeben und bezeigte ihm große Liebe und Verehrung. Sein Meister war mit ihm zufrieden und behandelte ihn und seine Söhne Ghulam Qadir und Chirag Din voller Zuneigung. Mian Chirag Din erzählt in seinem handgeschriebenen Bericht, wie der große Lehrer in ihrer Kinderzeit mit ihnen gespielt und sie immer zu sich gelassen habe. Als er einmal wieder nach Ghuman gekommen war und gerade ruhte, spürten die Knaben ihn auch dort auf. Bibi Daya nahm sie an der Tür in Empfang und war ein wenig ungehalten darüber, daß sie zu ihrem Sohn wollten. “Ach, wenn ihr einmal erwachsen seid und selbst Kinder habt, macht nicht den Fehler und laßt sie ausbilden”, erklärte sie.

“Ich bin eine Mutter und weiß nur zu gut aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, damit fertig zu werden, wenn der Sohn ein Gott wird.” In diesem Augenblick rief Babaji die Knaben zu sich, und sie gingen hinein. Er klopfte ihnen liebevoll auf die Schulter und sagte: “Ihr seid immer willkommen.

Denkt euch nichts dabei, was Mutter sagt.”

Ein wahrer Meister ist immer mit seinem Schüler und beschützt ihn nicht nur während des Lebens, sondern auch im Tode:

 

                            O Nanak, mache dich frei von deinen weltlichen

                        Gefährten, und suche die Freundschaft eines

                        wahren Heiligen.

                        Jene werden dich schon im Leben verlassen,

                        doch er wird selbst nach dem Tode bei dir sein.

                                                                                                              Nanak

 

 

                             Halte dich, o Seele, an einen, der alle

                        inneren Bereiche kennt, denn er wird dir im

                        Leben wie auch im Tode ein Freund sein.

                                                                                                Maulana Rumi

 

 

Die letzten Augenblicke eines Schülers von Babaji mitzuerleben, hieß, sich von seiner wahren Größe

zu überzeugen. Unzählige Geschichten werden über die seltsamen Begebenheiten erzählt, die das Ende jener kennzeichneten, die von dem Beas-Heiligen initiiert waren. Als hervorstechendes Beispiel sei der Augenzeugenbericht angeführt, den Chirag Din vom Tod seines Vaters hinterlassen hat.

Wir übersetzen einen Auszug aus diesem in Urdu geschriebenen Manuskript, in er die Beziehungen seiner Familie zu Babaji schildert und einige Anekdoten wiedergibt, die er von dem großen Meister über seine frühere Jugend gehört hatte.

“Einmal war Babaji, nachdem er seine Pension geholt hatte, nach Ghuman gegangen. Unser Vater war gerade gestorben. So machten wir uns auf den Weg, um dem Erhabenen die traurige Nachricht zu bringen. Er tröstete uns und begab sich sogleich dahin, wo der Leichnam lag. Als er angelangt war, sagte er: <O Hussain Baksh, warum hattest du solche Eile? Ich wäre gekommen, und du hättest meinen Darshan haben können.> Bei diesen Worten öffnete unser toter Vater die Augen und setzte sich auf. Unsere Mutter erschrak und fragte, was das zu bedeuten habe. <Nichts>, sagte er, <der Meister ist gekommen, und ich gehe.> Dann legte er sich hin und verschied.”

Eine andere bemerkenswerte Geschichte erzählt, wie Attar Singh, ein Bewohner des Dorfes Dhaliwal, das Babaji besuchte, ihn über einen nahe gelegenen Fluß und wieder zurück brachte, als dieser nach starken Regenfällen Hochwasser führte. Der Weise war über den selbstlosen Dienst des Bauern so erfreut, daß er zu ihm sagte: “O Attar, du hast mich über diesen kleinen Fluß gebracht. Dafür werde ich dich über das Meer des Lebens bringen.” Er initiierte ihn in die heilige Wissenschaft, und von dem Tag an war dieser ein anderer Mensch. Zwar ging er wie sonst mit seinem Vieh auf die Weide, aber sobald er dort war, ließ er es frei umherlaufen und wandte sich selbst seinen spirituellen Übungen zu.

Er benutzte auch keinen Stock mehr, um die Herde zusammenzuhalten, sondern kam mit einem Stück Stoff aus und wurde bald bekannt für seine ungewöhnlich gütige Art, das Vieh zu behandeln.

 

Eines Tages kehrte er ziemlich früh heim. Als er in sein Haus trat, sagte er zu seiner Schwieger-

tochter, die dort war: “Kind, besorge alles rasch, denn bald wird ein Sturm aufkommen.”

Er nahm ein Bad, dann richtete er auf dem Fußboden ein Bett und rief alle, die im Haus waren, zu sich, um von ihnen Abschied zu nehmen, indem er erklärte: “Meine Zeit ist abgelaufen, ich muß gleich gehen.” Die Anwesenden waren alle bestürzt über diese seltsamen Worte. Wie konnte er vom Sterben sprechen, da er doch offensichtlich bei guter Gesundheit war. Schließlich bat seine

Schwiegertochter, die sich zuerst gefaßt hatte, um die Erlaubnis, nach seinem Sohn zu schicken.

“Das ist nicht nötig”, antwortete er. “Mein Meister ist gekommen, und ich kann ihn nicht warten lassen.” Nachdem er das gesagt hatte, legte er sich nieder, schloß die Augen, und sein Geist ging in seine himmlische Heimat.

Babaji war nicht nur selbst sehr zurückhaltend damit, seine spirituellen Schätze zu offenbaren, sondern schärfte auch seinen Schülern mit Strenge ein, dieselbe Zurückhaltung zu beachten. Wenn sie sein Gebot übertreten hatten, entgingen sie nie der Strafe. So erzählt Chirag Din die Geschichte eines blinden Hafiz (Gelehrter) aus Dhariwal. Er wohnte einmal einem Vortrag Babajis in Kapurthale bei, und als dieser zu Ende war und sie miteinander sprachen, bemerkte er: “Die Weisen haben gesagt, daß der welcher die Heilige Schrift dreimal gelesen hat, in den Himmel kommt.”

“Der Himmel ist sehr weit weg, mein Lieber”, entgegnete Babaji. “Nur wer darin gewesen ist, kann darüber etwas sagen.”

Die Gewißheit in der Äußerung des Weisen bewog den Hafiz, um die Instruktionen nachzusuchen.

Sein Wunsch wurde erfüllt, und er übte eifrig die ihm erteilte Lektion, bis sie Frucht trug.

Sodann ging er zu seinem ehemaligen Lehrer Mian Sahib in Batala und hielt ihm vor, daß alles, was er ihn gelehrt habe, Täuschung und Lüge sei. Er besuchte häufig die Moschee, konnte aber den frommen Schein, der dort zur Schau gestellt wurde, nicht mit ansehen; er zerbrach darum heimlich die irdenen Töpfe und verbrannte die Gebetsteppiche. Doch bald entdeckten seine Gefährten den Elenden und beklagten sich bei seinem Guru.

Man rief den blinden Mann, und Babaji tadelte ihn.

“Herr”, erwiderte der Schüler, “ich kann die Heuchelei nicht ertragen, und außerdem bin ich im Recht.” Sein Meister sagte ihm jedoch, daß er in Zukunft lernen müsse, sich zu mäßigen und zu beherrschen. Aber der Rat blieb unbeachtet, und bald gab der Hafiz wieder seiner wunderlichen Laune nach. So wurde der Weise von einer Gruppe Moslems aufgesucht, die bitterlich protestierten und darüber klagten, daß er seinen Schüler gelehrt habe, heidnisch zu werden. Darauf fragte Babaji: “Beharrt der Mann immer noch in seiner Torheit? Nun, wenn er nicht aufhört, euch zu stören, seid nicht böse, ihr werdet bald von ihm erlöst sein.” Tatsächlich starb der Hafiz ein paar Tage später.

Ähnliche Erzählungen hört man über andere fortgeschrittene Schüler. Ein Sadhu, der nach Beas kam, machte rasche Fortschritte, und seine Seele erhob sich beliebig bis Daswan Dwar. Er konnte es aber nicht lassen, zu jedem, der ihm in den Weg kam, von der inneren Herrlichkeit zu sprechen.

Babaji war darüber bestürzt und sagte ihm, daß er lernen müsse, seine Zunge im Zaum zu halten.

Doch der selbstsichere Sadhu fuhr leichtfertig damit fort. So wurde der innere Vorhang herunter-

gelassen, und für volle sechzehn Jahre war ihm der Zugang nach innen verwehrt, bis ihn in seinen letzten Tagen Babajis weithin bekannter Nachfolger Baba Sawan Singh wieder damit segnete.

Baba Nizam-du-din sollte in gleicher Situation einen ähnlichen Rückschlag erfahren. In dem sehr schön geschriebenen Urdu-Bericht seines Sohnes ist zu lesen, wie sein Vater, der nach den Aufzeichnungen von Beas der sechzehnte Initiierte Babajis war, innerlich sehr rasch fortschritt.

In wenigen Monaten verfügte er bereits über große Kräfte und hatte eine bemerkenswerte Hellsich-

tigkeit entwickelt. Anstatt aber seine Gaben in sich zu verschließen, wie ihn sein Lehrer geheißen hatte, begann er seine spirituellen Güter zur Schau zu stellen, und erzählte freimütig allen Leuten zukünftige Ereignisse oder Dinge, die sich gerade in entfernten Städten zutrugen. Als Babaji davon erfuhr, wandte er sich an Bibi Rukko und sagte: “Dieser Mann ist wirklich sehr rasch vorwärtsgekommen, konnte aber das, was er bekam, nicht verkraften.” 

 

Von dem Tag an war vor das innere Auge Nizam-du-dins der Vorhang gezogen, weil er nicht hatte schweigen können. Sein Kummer war groß, aber im Vertrauen auf die Gnade seines Meisters widmete er sich den spirituellen Übungen mit doppelter Kraft. Auch seine Frau wurde initiiert, und im Laufe der Zeit wurden ihnen große Segnungen zuteil. Allen, die mit ihnen zusammenkamen, war ersichtlich, daß sie keine gewöhnlichen Sterblichen waren. Doch nie wieder hat Nizam-du-din mit seinen spiri-

tuellen Kräften geprahlt.

Das ganze Leben Nizam-du-dins und seiner Familie, wie es von seinem Sohn beschrieben wurde, ist eine lange Geschichte über die Segnungen, die man durch einen wahren Meister erlangt. Aber die Welt ist einem lebenden Heiligen nicht wohlgesonnen und auch denen nicht, die von Liebe zu ihm erfüllt sind. Nizam-du-dins Ergebenheit für seinen Sikh-Meister brachte ihm bald die Feindseligkeit seiner Verwandten und Moslem-Brüder ein.”Er ist ein Ungläubiger geworden”, sagten sie und ver-

säumten keine Gelegenheit, ihn zu beschimpfen und zu verfolgen. Er selbst ließ sich dadurch nicht beirren, und wenn immer von "Moslems" ”der “Nicht-Moslems” die Rede war, sprach er die persischen Verse:

 

                              Ishk ra ba kafir-o-moman, na bashad imtyaj

                          Ein Sukhan bar mamber-o-mehrab mae bayad nivisht.

 

                              Liebe kennt keinen Unterschied zwischen

                          dem Gläubigen und dem Ungläubigen.

                          Mögen diese Worte auf jeder Kanzel

                          und an jedem Gewölbebogen zu lesen sein.

 

                              Mard-e-hujji Mard-e-hajji ra talab

                           Khah Hindu, Khah Turk-o-Khah Arab.

 

                           Willst du auf innere Pilgerreise gehen,

                           suche einen inneren Führer,

                           sei er ein Hindu, ein Türke oder

                           ein Araber.

 

 

Aber trotz all seiner Geduld wurden die Dinge immer schlimmer, und als sie nicht mehr zu ertragen waren, riet Babaji seinem geliebten Schüler, sein Heim nach Multan zu verlegen. So verbrachte er dort das Ende seines langen Lebens. Er kam häufig nach Beas, um seinen Meister zu sehen. Nachdem dieser im Jahre 1903 gegangen war, besuchte er Baba Sawan Singh, seinen spirituellen Nachfolger, bei dem er in großem Ansehen stand. Doch wir wollen nicht im einzelenen bei den vielen Segnungen verweilen, die ihm, seinen Söhnen, Enkeln und Urenkeln gewährt wurden. Der Hinweis mag genügen, daß die ganze Familie Babaji sehr verehrt hat. Wie von ihm nahegelegt, behielten sie alle Traditionen ihres Glaubens bei, während sie sich den Übungen widmeten, die er sie gelehrt hatte. Als die letzte Stunde seiner Frau näher rückte, nannte sie den genauen Tag ihres bevorstehenden Endes vier Wochen vorher. Zu dieser Zeit befand sie sich bei guter Gesundheit. Als der Tag gekommen war, nahm sie von ihrem Gatten rührenden Abschied: “ Ich habe dir sechzig Jahre nach meinem besten Vermögen gedient. Jetzt erlaube mir bitte zu gehen. Mein Meister und Maharaj Sawan Singh warten auf mich.”

Nizam-du-din bat sie, seinen Arm zu nehmen, und richtete seine Aufmerksamkeit nach innen.

Die ganze Familie blickte auf die beiden alten Leute, die in Meditation vertieft waren. Zwanzig Minuten später öffnete der Ehemann die Augen. “Nun magst du gehen”, sagte er, und seine Frau ging voller Frieden. Als sie am nächsten Morgen zur Begräbnisstätte gebracht werden sollte, weigerten sich einige der Verwandten, die Bahre mit anzuheben, weil die Frau eine Ungläubige gewesen sei. Aber die Nachbarn kannten sie als gütig und großmütig, wahrhaft ein Kind Gottes, und halfen den Sarg zur Begräbnisstätte zu bringen.

 

 

Baba Nizam-du-din folgte ihr nicht lange danach. Auch ihm war das Ende vorher bekannt; als seine Bahre weggetragen werden sollte, war das Herz seiner Brüder weich geworden, und sie begleiteten den Sarg. Auch viele Sadhus und gottesfürchtige Moslems waren zugegen, und als seine sterbliche Hülle hinabgelassen wurde, sangen sie die Verse:

 

                 Hum nashini saat-e ba aulia

               Behter az sad-sala taat be-ria.

 

               Ein Augenblick der Verbindung mit einem

               Heiligen ist mehr wert als Millionen Bußübungen.

 

 

Trotz der Teilung des Landes, die die Unabhängigkeit mit sich brachte, und des kommunalen Hasses, der als Folge davon entfesselt wurde, haben die Nachkommen Baba Nizam-du-dins bis auf den heutigen Tag ihren Glauben bewahrt, und sie besuchen oft den Sawan Ashram in Delhi, um die Verbindung mit dem Pfad der Meister oder Sultan-ul-Azkar, wie ihn ihr erleuchteter Vorfahre in der Terminologie der Sufi-Heiligen nannte, lebendig zu halten.

Babajis Gnade floß allen zu! Nicht nur seine Schüler hatten Vorteil durch ihn, sondern auch viele andere, die manchmal nur durch ihre Einfachheit, Reinheit und ihr selbstloses Dienen seinen Blick auf sich lenkten. Er hatte in seiner Kindheit und Jugend viele Schriften gelesen, aber er sprach nicht von diesem Wissen, sondern aus der direkten inneren Erfahrung. Es lag eine unerklärliche Süße und etwas Bezauberndes in dem, was er sagte, dazu eine unwiderstehliche Überzeugungskraft und Gewißheit.

Einmal kamen vier große Pandits, die sich mit verschiedenen Yoga-Praktiken befaßt hatten und über die Art der inneren Ebenen zu streiten und debattieren begannen. Sie stützten sich auf ihr spirituelles Studium und führten darum eine wirklich lebhafte Auseinandersetzung.Da sie von dem Soldaten-

Heiligen und seiner großen Verwirklichung erfuhren, suchten sie Babaji auf. Er hörte sie an und erklärte ihnen dann einleuchtend die Beschaffenheit der spirituellen Regionen, brachte die scheinbar widersprüchlichen Gesichtspunkte miteinander in Einklang und zerstreute zu ihrer Zufriedenheit alle Zweifel. Die Pandits gingen wieder, doch einer von ihnen, ein wahrer Sucher, der sich zu dem Heiligen unwiderstehlich hinzugezogen fühlte, kehrte zurück und bat um die Initiation. Sie wurde ihm gewährt, und er befolgte seine Übungen regelmäßig, jedoch mit geringem Nutzen.

“O Herr, segnet mich mit einer inneren Schau”, bat er.

“Glaubst du, daß ich dir nicht wohl will?” kam die Antwort.

“Wollte der Herr, daß du heute noch Sat Lok erreichst, aber du bist noch nicht reif dafür und wärest nicht imstande, die Anspannung zu ertragen.”

Die Bitte wurde oft wiederholt, aber Babaji gab immer dieselbe Antwort. Als er eines Tages alleine wegging, um seine Pension zu holen, begegnete ihm der Pandit an einer einsamen Stelle.

“Herr, hier ist eine öde Gegend, und niemand sieht uns. Segnet mich jetzt, oder laßt mich zumindest einen Schimmer der inneren Bereiche haben – nicht mehr – damit ich sicher sein kann.”

“Du wirst es nicht aushalten, und die Anspannung ist zu groß für dich.”

“Was bedeutet es, selbst mein Leben zu verlieren, wenn ich nur sehen kann, was innen ist!”

Babaji konnte es ihm nicht länger abschlagen. Er forderte den Pandit auf, sich zur Meditation zu setzen, und richtete seinen Blick auf ihn. Die Seele des Pandits wurde gewaltsam in den höheren Bereich gezogen. Als Babaji sie durch seinen Willen wieder zum physischen Bewußtsein zurückbrachte, fiel ihm der Pandit schluchzend zu Füßen. “Ich glaubte, mein Leben würde aus mir herausgerissen, und eine Million Blitze träfen meinen Kopf. O Herr, vergebt mir meine Torheit. Wir Sterblichen sind in der Tat unwürdig.”

“Was habe ich zu vergeben?” erwiderte der Weise. “Du mußt dir selbst vergeben; nicht ich habe gelitten. Nun geh und mache das Beste aus deiner Zeit, denn du hast nur noch drei Jahre zu leben."

 

 

Von dem Tag an war der Pandit mit ganzer Aufmerksamkeit bei seinen Meditationen, und starb, wie vorhergesagt, drei Jahre später.

Es gibt eine Fülle solcher Erzählungen, und ganze Bände würden nicht ausreichen, die Erhabenheit und Gnade eines wahren Heiligen zu preisen. So wollen wir uns abschließend mit der wichtigsten

Begebenheit aus den Annalen von Babajis heiligem Amt befassen: der Initiation von Sawan Singh Ji, der später seine Mission weiterzuführen hatte. Die Geschichte wird von dem großen Schüler selbst erzählt, und wir führen Stellen aus seinen Briefen an, die in den Spiritual Gems (Beas, 1959) veröffentlicht wurden.

“Ich hatte von Kind auf eine Liebe für Satsang und Parmath (Spiritualität). Oft war ich mit Sadhus und religiösen Menschen zusammen, zum Teil deshalb, weil mein Vater den Sadhus gerne diente. Während meiner Militärzeit studierte ich den Vedanta und sprach mit den anderen Leuten darüber, besonders mit Sadhus, die sich auf ihrem Weg nach Kaschmir in einem Dharamsala (Rasthaus) auf-

hielten, in dessen Nähe ich wohnte.

Später wurde ich nach Murree Hills versetzt. Als ich eines Tages meine Arbeit überprüfte, bemerkte ich einen alten Sahib, der mit einer Frau mittleren Alters einen Berghang hinaufging. Ich nahm an, daß er in einer Sache des Kommissariats gekommen war. Kaum hätte ich gedacht, daß er mein Meister sein würde. Es war aber kein anderer als Babaji, und die Frau war Bibi Rukko. Das wußte ich zu der Zeit noch nicht. Erst später erfuhr ich, daß Babaji, indem er sich auf mich bezog, zu Bibi Rukko sagte:

“Es ist um seinetwillen, daß wir hierher gekommen sind”. Worauf Bibi Rukko entgegnete: “ Aber er hat Euch nicht einmal gegrüßt.” Babaji erwiderte: “Was weiß der arme Bursche davon? In vier Tagen wird er zu uns kommen.”

Am vierten Tag ging ich hin, um den Satsang zu besuchen. Babaji war gerade dabei, die Bedeutung des Jap Ji Sahib zu erklären. Da begann ich mit einem Schwall von Fragen, die so zahlreich waren, daß die Zuhörerschaft allmählich ermüdete und darüber unruhig wurde. Das heilige Buch Sar Bachan lag da, und ich erhob Einspruch gegen den Namen <Radhasoami>. So erklärte mir Babaji aus dem Buch selbst, was <Radhasoami> bedeutete:

 

                               Radha ad surat ka nam

                               Soami ad Shabd nij dham.

 

                             

                               Radha ist der Name des ersten oder

                               uranfänglichen Strahles von Surat

                               (Bewußtsein) .

                               Soami ist die Urquelle des Shabd-Stromes.

 

 

Nun wollte er den Weg darlegen, aber ich hatte den Vedanta gelesen. Als ich den Gurbani las, war meine Meinung eine andere. Nachdem ich mich mit der Gita beschäftigt hatte, änderte sie sich erneut.

Ich war einfach nicht in der Lage, zu einem Schluß zu kommen. Schließlich bat ich um acht Tage Urlaub, damit ich die Lehren Babajis studieren konnte. Er riet mir, Kabir Sahibs Anurag Sagar zu lesen. Sofort bestellte ich aus Bombay acht Exemplare dieses Buches, um es auch einigen meiner Freunde, Baba Hari Ram, Gulab Singh und anderen, zum Lesen zu geben und mit ihnen darüber zu sprechen.

Nach mehreren Unterhaltungen mit Babaji war ich völlig überzeugt und erhielt von ihm am 15.Oktober 1894 die Initiation.”

Das folgende ist eine ergreifende Geschichte von Ergebenheit und Gehorsam auf der einen und unaussprechlicher Liebe und Gnade auf der anderen Seite. Der Briefwechsel zwischen dem Meister und seinem Schüler gibt etwas von der esoterischen Schönheit dieses Berichtes wieder. Babajis Briefe wurden in dem schon erwähnten Band der Spiritual Gems abgedruckt.

 

Wir erfahren darin von der schrittweisen Führung, die der Guru dem Schüler gewährt, der sich vollkommen seinem Willen unterworfen hat, und auf welch ungewöhnliche und wunderbare Weise ihm seine schützende Hand in allen Dingen hilft. Besonders zwei Begebenheiten hat Baba Sawan Singh seinen Zuhörern sehr gerne erzählt, um die Größe Babajis zu veranschaulichen und den Segen, der einem zuteil wird, wenn man einen Pooran Guru oder wahren Meister hat. Wir führen wieder aus seinen Briefen an: “Es war meine Gewohnheit, die Mähne meines Pferdes festzuhalten und aufzuspringen, wenn es herbeikam. Doch als ich einmal nicht da war, hatte mein Diener die Mähne des Tieres abgeschnitten, ohne daß ich davon wußte. Ich bemerkte es nicht, und wie ich nach ihr griff, fand ich keinen Halt, fiel und brach mir das Bein. Der Bruch war zweifellos schmerzhaft, aber noch viel schmerzhafter der Umstand, daß ich weder Darm noch Blase entleeren konnte. Die Ärzte glaubten sogar, daß es schwierig für mich sei, mit dem Leben davonzukommen.

Ein mohammedanischer Aufseher, der zu meinem Bezirk gehörte, erfuhr von dem Unfall, kam zu mir und sagte <Ich bin der Eure, eine Art Familienmitglied. Bitte sagt mir, wie ich Euch helfen kann.>

Ich erwiderte: <Meine Kinder sind in einem Internat, etwa acht Meilen von hier. Ich möchte nicht, daß sie etwas davon erfahren. Ich würde sie aber bitten, ein Telegramm an Maharaj Ji (Babaji) zu senden.>

Er tat es. Als es Babaji erhielt, sagte er: <Nun, wenn ihn der Meister wegnehmen will, so mag er es tun, hat er doch wenigstens Naam bekommen.> Aber meine Glaubensschwester Bibi Rukko setzte sich bei Babaji für mich ein.

Babaji pflegte in Meditation zu sitzen oder in Meditation zu gehen, wenn etwas Besonderes zu erwarten war, und danach zu sagen, welche Informationen er im Innern erhalten hatte. So saß er seit ungefähr acht Uhr abends oder noch früher (sobald er das Telegramm erhalten hatte) in Meditation.

Um etwa drei Uhr morgens rief er Bibi Rukko, und sie fragte: <Soll ich nun das Mal bringen?> (Er hatte kein Abendbrot zu sich genommen.) Babaji antwortete: <Nein, aber du fragtest etwas wegen Bhai Sawan Singh. Du kannst ihn nun benachrichtigen, daß er nicht gehen wird, das Karma jedoch sehr schwer war. Es war ihm bestimmt, fünf Jahre zu leiden, aber nun wollen wir es in fünf Monaten zu Ende bringen. Ist das nichts? Wir werden nicht jetzt zu ihm gehen, sondern erst, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist. Inzwischen kannst du ihm bestätigen, daß wir sein Telegramm bekommen haben.> Im Augenblick, als ich Babajis Telegramm erhielt, konnte ich Darm und Blase leeren...

Heilige zeigen ihre Barmherzigkeit, aber sie sprechen nie darüber. Während ich nun in dieser mißlichen Lage war, hatte ich auch finanzielle Schwierigkeiten. Ich verlor meine Stellung in der Unterabteilung, mein Pferd und auch die Hälfte meiner Bezüge. Der leitende Ingenieur war jedoch sehr freundlich zu mir. Er sagte: <Wenn Sie nur jeden Tag in einer Sänfte zum Büro kommen könnten, würde ich Sie als im Dienst betrachten.> Ich hatte aber starke Bedenken und fürchtete, daß ich mit meinem noch schwachen Bein ausgleiten und einen weiteren Unfall haben könnte.  Daraufhin genehmigte er mir einen einmonatigen Urlaub. Ich fragte mich, ob ich wohl nach einem Monat wieder zu Arbeit fähig sei. Am nächsten Morgen kam der vorgesetzte Ingenieur zu mir und bemerkte: <Sie gehen jetzt nur für einen Monat.> Kurz zuvor hatte mich Babaji besucht und mir gesagt, daß ich nur noch für einen weiteren Monat vom Dienst befreit würde. Ich konnte es kaum glauben.

Schließlich war der Monat vergangen, und ich erhielt einen Brief von Babaji, in dem es hieß: <Wir sind nicht in die Welt gekommen, um unsere eigene Arbeit zu tun; wir sind auf Veranlassung von

Maharaj Ji (Soamiji) hier. Wenn er es will, wird die Arbeit durch uns getan.> Es ist unmöglich, die Reichweite der Macht und der Heiligen zu beschreiben. Ich bin sicher, daß der Meister sein Werk selbst durch Steine ausführen kann, wenn er es will.”

“Babaji war immer sehr gütig zu mir, und so oft ich ihn besuchte, gab er mir einen Platz in seinem eigenen Raum. Einmal stieg ich um zwölf Uhr mittags an der Bahnstation in Beas aus. Da es sehr heiß war, setzt ich mich eine Weile unter einen Baum. Dann sagte ich mir jedoch, daß ich gekommen war, um Babajis Darshan zu haben; statt dessen suchte ich hier Bequemlichkeit und verzögerte die Zusammenkunft mit dem geliebten Meister. Selbst weltliche Liebhaber hielten das weit besser.

Der Gedanke beunruhigte mich. So machte ich mich auf den Weg vom Bahnhof zur Dera.

  

 

Dort kam unterdessen Babaji Maharaj aus dem Haus und ging im offenen Hof vor seinem Raum umher, obwohl er sehr empfindlich gegen Hitze war. Bibi Rukko protestierte und bat ihn, sich nicht der heißen Sonne auszusetzen, sondern wieder ins Haus zu gehen, aber er blieb. Erst wenige Minuten vor meiner Ankunft ging er hinein. Als mich dann Bibi Rukko kommen sah, rief sie aus: <Oh, jetzt weiß ich, warum Babaji in der heißen Sonne geblieben ist.< (Er hatte selbst einen Teil der größten Hitze auf sich genommen, damit ich nicht unterwegs von ihr übermannt würde.) Es gibt so viele wunderbare Dinge über Babaji zu sagen, daß hundert Jahre nicht ausreichten, wollte ich alles erzählen.”

In der Tat wären “hundert Jahre” nicht genug, und darum wollen wir die Geschichte von Babajis irdischem Aufenthalt so rasch wie möglich zu Ende bringen. Die Zahl der Besucher, die zu seiner Hütte in Beas strömten, nahm ständig zu. Und seine Worte zu Bibi Rukko: “Hier wird eines Tages eine immer größer werdende Stadt mit vielen Häusern und Bungalows entstehen” wie auch der Hinweis des gottberauschten Kahan, über den die Leute gelacht hatten: “Ich sammle diese Steine für die Stadt, die hier einmal erbaut wird” schienen sich schließlich zu bewahrheiten. Babaji verbrachte den größten Teil seiner Zeit in Beas, begab sich aber auch des öfteren in nahegelegene Gebiete oder weiter entfernte Städte, um für die spirituellen Bedürfnisse seiner Anhänger zu sorgen. Als er einmal auf Wunsch einiger Schüler in Ambala war, bat Hukam Singh, ein Freund seines ergebenen Schülers

Moti Ram, der als Schneider für das dort stationierte britische Regiment arbeitete, um die Initiation.

Babaji lehnte es ab, seine Bitte zu erfüllen. Hukam Singh hielt sich an seinen Freund, der sich dann bei Babaji dafür einsetzte, jedoch ohne Erfolg. “Er ist für den Pfad noch nicht geeignet”, bemerkte der Weise. Aber Moti Ram ließ nicht nach, Immer wieder bat er für seinen Freund.

“Ich habe dir doch gesagt, daß sein Karma es nicht erlaubt. Was kann ich da machen?”

“O Heiliger, umso mehr solltet Ihr Mitleid mit ihm haben, denn wer sonst hätte es, wenn nicht Ihr?”

“Moti Ram, dringe nicht weiter in mich. Ich würde lieber vierhundert andere initiieren als deinen Freund.” Ein Heiliger kann einem ergebenen Schüler nicht lange etwas abschlagen und würde für ihn selbst durchs Feuer gehen. Als ihn Moti Ram wiederholt bedrängte, gab er nach und fügte hinzu:

“Doch sobald ich deinen Freund initiiert habe, werde ich keinen Augenblick länger hierbleiben, sondern sofort nach Hause fahren.” Getreu seinem Wort packte er, gleich nachdem er die Initiations-

anweisungen gegeben hatte, seine wenigen Sachen zusammen und fuhr wieder nach Beas.

Allen, die den Wunsch äußerten, ihm dorthin zu folgen, wurde gesagt, daß sie zwei Wochen später kommen sollten. Bei seiner Heimkehr ging Babaji sofort zu Bett. Als ihn Leute aus Beas aufsuchten, waren sie bestürzt, ihn von einem tödlichen Fieber befallen zu sehen. Man schickte nach Ärzten und nach Medizin, aber Babaji nahm nichts. Etwa nach vierzehn Tagen ging das Fieber zurück.

Kaum hatte Moti Ram davon gehört, eilte er zu ihm und bat um Vergebung: “Herr, wenn ich nur gewußt hätte, was es für Euch bedeutet, würde ich Euch niemals, nicht einmal für das Reich der drei Welten, gedrängt haben, meinen Freund zu initiieren.” Babaji war in mitteilsamer Stimmung und erzählte: Das Karma von Hukam Singh war so schwer, daß er ohne diese Fürbitte in den nächsten sieben Lebensläufen die schwersten Leiden und Prüfungen hätte erdulden müssen.” Moti Ram dankte ihm demütig für diese unermeßliche Gnade, aber Babaji entgegnete mit der ihm eigenen Bescheidenheit: “Es war der Wille des Herrn.”

Die Güte Babajis strahlte wie die lebensspendende Sonne auf alle aus, die mit ihm in Berührung kamen. Seine besondere Zuneigung aber galt, wie wir schon gesehen haben, Baba Sawan Singh.

Die Jahre 1894 bis 1903 waren durch regelmäßige Besuche von Baba Sawan Singh Ji Maharaj in Beas gekennzeichnet, die gelegentlich von Babaji erwidert wurden. Der Weise nannte seinen Lieblingsschüler “Babuji”. Er hatte Bibi Rukko erzählt, daß der stattliche Regierungsbeamte eines Tages sein Nachfolger würde. Als er einmal in besonders gütiger Stimmung war, wandte er sich an seinen Gurmukh mit der Bemerkung: “Du und ich, wir sind zum Wohl der Menschheit gekommen.”

Sawan Singh entgegnete: “Sicher seid Ihr für die Erhebung der Menschheit gekommen, aber ich bin nur ein irrender Sterblicher.”

 

 

“Babaji wiederholte seine Worte, und Sawan Singh gab die gleiche Antwort. Da hob Babaji die Augenbrauen und sagte in lauterem Tonfall: “Babuji, ich spreche zu dir. Wir sind beide zum Wohl der Menschheit gekommen.” Sawan Singh saß da und schwieg. Ein andermal sagte der Heilige von Beas zu seinen Schülern: “Ich mußte für das, was ich erreichte, schwer arbeiten, habe aber nie meine Schätze zur Schau gestellt, sondern sie verschlossen gehalten. Doch meine Mühen sollen Frucht tragen, und der, welcher meinen Mantel erbt, wird weit und breit bekannt werden.”

Die Tage gingen dahin, und Beas wurde zu einem strahlenden Zentrum auf der spirituellen Weltkarte.

Er, der niemals zugestimmt hatte, daß man Hallen und Häuser baute, gab schließlich den Bitten seines geliebten Babuji nach, und so wurde während seiner letzten Jahre ein Brunnen gegraben und eine Satsanghalle erbaut. “Wozu hier Gebäude errichten, wenn sie der Fluß wegschwemmen kann”, hatte er

protestiert, aber Sawan Singh war nicht davon abzubringen.

“Selbst wenn Ihr hier nur einen einzigen Vortrag halten könnt und der Bau sofort danach zusammen-

bricht, werde ich mein Mühen reichlich belohnt finden.” Unterdessen waren die letzten Tage des

Jat-Guru, wie er sich selbst humorvoll nannte, nähergerückt. Sechs Monate vor seinem Tode sprach er zu seinen Schülern von dem nahen Ende. Als er hörte, daß Karam Singh aus Attock die Welt verlassen hatte, bemerkte er: “Ich traf ihn immer in Delhi. Er war wirklich eine große Seele! Aber er wird noch-

mals geboren werden müssen, um volle Befreiung zu erlangen, da er in diesem Leben nicht Naam praktiziert hat. Ja, ja, mein Werk geht auch zu Ende, und ich werde ebenfalls bald gehen.”

In seinen letzten Tagen kamen viele Pilger nach Beas. Der Weise, der einst Tag und Nacht in Meditation vertieft war, diente nun Tag und Nacht seinen Ergebenen. Er gönnte sich kaum drei oder vier Stunden Ruhe und widmete die übrige Zeit jenen, die ihn aufsuchten, kümmerte sich um ihre Probleme und spornte sie zu immer größerem spirituellem Streben an. Die Schleusentore der göttlichen Gnade waren weit geöffnet, und die, welche während der Tage unmittelbar vor seinem Hinscheiden mit ihm zusammen in seinem Raum saßen, wurden innerlich emporgehoben und gingen im Samadhi auf.

Der Bau der Satsanghalle war inzwischen fertiggestellt, und jedermann drängte Babaji, einen Vortrag zu halten. Aber er war dagegen und sagte: “Nein, nein, Gott will es anders. Mein Nachfolger wird sich dort an euch wenden.” Bibi Rukko war ebenso unnachgiebig: “Wir werden ihn natürlich anhören, wenn seine Zeit gekommen ist, aber solange Ihr hier seid, laßt uns den Vorteil Eurer Gegenwart haben.” Babaji bestand darauf: “Es ist nicht Gottes Wille. Außerdem möchte ich, daß Babuji zu allen Anwesenden spricht, während ich noch lebe, damit es später nicht zu Streitigkeiten kommt.”

Die Zuhörerschaft hatte sich versammelt und bat, er möge selbst sprechen. Auch Bibi Rukko bat und flehte, so daß er schließlich nach vorne ging. Als er aber eine oder zwei Stufen hinaufgestiegen war, hielt er erneut inne und wiederholte, was er zuvor gesagt hatte. Zum Erstaunen aller, die die Satsang-

Halle betraten, sah man Babajis Gurmukh-Sohn, Hazoor Sawan Singh, auf der Empore sitzen.

Schließlich kam der letzte Tag. Alle engeren Schüler standen in banger Erwartung beisammen.

Es war der 29. Dezember 1903. Vom Beas-Fluß wehte ein scharfer, kalter Wind herüber. Babaji schien zu warten und warf unruhige Blicke nach der Tür. Da kam ein Polizeibeamter herein, der um die Initiation nachsuchte. “Auf Sie habe ich gewartet”, sagte der große Heilige, und ohne weitere Um-

stände begann er Theorie und Praxis des Surat Shabd Yoga zu erklären. Kurz nachdem er die Unter-

weisung gegeben hatte, legte er sich hin, schloß die Augen und streifte dieses irdische und verwesliche Kleid ab.

So ging einer der größten Heiligen der Neuzeit, dessen Leben eine einzige Lektion der Demut und Liebe war. Er hatte nicht an Schulen und Universitäten studiert, wohl aber das Buch des Lebens tief erforscht. Als Kind hatte er die heiligen Schriften vieler Glaubensrichtungen gelesen und sich frühzeitig vielen Sadhans oder spirituellen Übungen hingegeben. Im Alter von achtzehn Jahren, in dem andere Menschen kaum eine geistige Reife erlangt haben, hatte er bereits die Krone des Lebens erworden, die selbst den strengsten Yogis und eifrigsten Gelehrten versagt bleibt. Und dennoch brachte er seine übrigen Jahre in vollkommenster Demut zu. Sein einziges Streben war, seinem Meister zu dienen und dessen Botschaft nach besten Kräften weiterzutragen.   

 

 

Die letzten aufgezeichneten Worte von ihm sollen gewesen sein: “Mein ganzes Leben suchte ich nur meinem Meister zu dienen, und nun ist alle Arbeit, die er durch diese armselige Hülle zu vollbringen hatte, getan." Noch seine allerletzte Stunde war diesem Dienst geweiht. Er war mehr als ein Beispiel dessen, was er einmal an seinen zukünftigen Nachfolger geschrieben hatte: “Heilige werden nicht für sich selbst geboren, sondern für die Befreiung der Menschheit.” Er sprach aus innerer Erfahrung, nicht aufgrund von Buchwissen. Er hat ungefähr dreitausend Seelen initiiert, während die Zahl jener, die unbewußt durch seinen Einfluß begünstigt waren, nicht zu benennen ist. Konnte man einen anderen finden, der so selbstlos war, so bereit stellvertretend für die Sünden anderer zu büßen, so grenzenlos in seiner Liebe und so unberührt von den äußeren Unterschieden einzelner Glaubensgemeinschaften und Bekenntnisse? Wenn man in der Erinnerung nachforschte, mochte es einen Namen geben, der einem sogleich in den Sinn kam: der Guru Nanak. Und war es bloßer Zufall, daß der Soldaten-Heilige von Beas in demselben Bezirk (Gurdaspur) geboren wurde, in welchem der große Heilige des Mittelalters nach dem Zeugnis seines ständigen Begleiters und Biographen Bhai Bala vorhersagte, daß er in künftiger Zeit im Hause eines Jat wiederkommen würde? Babajis Schüler bermerkten die Ähnlichkeiten schon zu seinen Lebzeiten und befragten ihn einmal darüber. Der Weise lächelte geheimnisvoll und ging nicht auf die Frage ein. Doch einige Minuten später bemerkte er beiläufig:

“Wenn Seelen wie wir unsere Gedanken äußern wollten, wer würde uns dann einen Augenblick Ruhe lassen und wer unsere Haut schonen?”

 

 

 

III

 

BABAJI UND DIE SPIRITUELLE WISSENSCHAFT

 

 

Es ist keine leichte Aufgabe, die Lehren eines früheren Heiligen darzulegen, der keine Aufzeichnungen hinterlassen hat, sei es in Versen oder Prosa, und zu dessen Zeit Kurzschrift oder Tonbänder noch unbekannt waren. Das Bündel Briefe jedoch, das Babaji an seinen geliebten “Babu” Sawan Singh gerichtet hat, blieb erhalten und ist sehr aufschlußreich.17) Ferner haben einige von denen, die mit ihm in Verbindung kamen, bedeutsame Berichte über seine Vorträge zurückgelassen.

Aber das Wichtigste von allem ist, daß Hazoor Sawan Singh Ji Maharaj, dem er die spirituelle Fackel übertrug, die Botschaft seines großen Gurus in ihrem Wesensgehalt aus der lebendigen Erinnerung erklärt hat. Indem wir dies alles zusammenstellen, gewinnen wir ein klares Bild von der Art und Reichweite seiner Lehren.

 

 

Die Schöpfung

 

Die absolute Wirklichkeit war in ihrer ursprünglichen Form Nirankar, Nirgun und Anami – formlos, ohne Attribute und namenlos – und konnte somit nur in Verneinungen ausgedrückt werden: “weder Licht noch Dunkel”, “weder Ton noch Stille” usw. Sie war unbegreiflich, unaussprechlich, unendlich und unbeschreiblich. Diese höchste Wirklichkeit war für alles verantwortlich. Als sie sich selbst in die Form brachte, schuf sie die rein spirituellen Reiche von Agam, Alakh, Sat Naam usw.: und Licht und Ton, Ausdruck ihrer ersten Offenbarung, traten ins Sein. Daraus schuf sie, indem sie sich nach unten ausdehnte, den materiellen Strom oder Kal, der im Verlauf des immer weiteren Abstiegs die Vorherrschaft gewann. Die zahllosen Regionen, die unterhalb der rein spirituellen Bereiche von Sat Desh geschaffen wurden, kann man in drei große Aufteilungen zusammenfassen: Brahmand, And und Pind – den kausalen, astralen und physischen oder den spirituell-materiellen, den materiell-spirituellen

und den materiellen Bereich.

Solange man auf der Ebene der Relativität lebt, ist man im Netzwerk von Maya gefangen. Ein Wunsch folgt dem anderen, und Freude wechselt mit Leid. Es kann da keine dauerhafte Ruhe, keine beständige Freude geben. Als Gott dem Menschen den Becher der irdischen Segnungen füllte, hat er Glück und Zufriedenheit weggelassen, um sicher zu sein, daß das Geschöpf nicht ganz vergißt. Der einzige Weg, Glückseligkeit zu erlangen, besteht darin, sich über den Bereich der Relativität hinaus zu den Regionen des reinen Geistes zu erheben, wo die Seele im Absoluten aufgeht und sich, von allen Mängeln und Wünschen befreit, im Meer der Bewußtheit verliert.

 

 

Der Pfad der Befreiung

 

Wie kann man zu diesen geistigen Höhen gelangen? Gleich Kabir, Guru Nanak und Soamiji hat Babaji immer wieder nachdrücklich erklärt, daß äußere Praktiken von geringem Nutzen sind. Das Lesen der Schriften kann ein Interesse für die Spiritualität wecken, nicht aber an sich schon Befreiung sichern.

Mystische Literatur und religiöses Ritual sind in vieler Hinsicht nützlich: sie halten im Menschen das Bewußtsein aufrecht, daß es eine tiefere Wirklichkeit gibt als die im alltäglichen Leben gewohnte.

Aber dieser Wirklichkeit muß man durch praktische Wege näherkommen; sich in verstandesmäßige Probleme und Streitgespräche zu verlieren zieht nur die Kräfte vom wirklichen Pfad ab.

 

 

 

 

                Khasam na chinae bawr, ka karat barai,

              Batan bhagat na hohingay, chhoado chaturai.

 

 

                   “O Mensch, warum prahlst du mit deiner Größe,

               wenn du den Allmächtigen nicht erkannt hast?

               Gib deine intellektuellen Spitzfindigkeiten auf.”

 

                                                                                                     Kabir

 

 

                    Sakhi Shabd Sandes parh mat bhoolo ghai,

                Sant mata kuchh aur hai, khopa so pai.

 

 

                     Täusche dich nicht, indem du dich nur auf

                 das Lesen und Verfassen von Schriften be-

                 schränkst. Der Pfad der Meister ist anders.

                 Wer ihn wirklich erstrebt, der wird ihn finden.

 

                                                                                                      Kabir

 

 

Auch der Teufel kann Schriften zitieren, und Babaji erklärte, daß “religiöse Debatten und Auseinandersetzungen, Kastenstolz (Varnashram), äußere Verehrung, Wallfahrten, bloßes Vortragen aus den Schriften, Hingabe an Persönlichkeiten, die früher lebten, und andere Handlungen oder Schulungen” dieser Art alle “eine große Täuschung” seien, eine von Kal gestellte Falle, um die Seele in den Bereichen der Relativität festzuhalten. In gleicher Weise sind die äußeren Kriyas oder traditionellen Yoga-Praktiken – Pranayama, die verschiedenen Mudras und Asanas – ungeeignet, um zum wirklichen Ziel zu bringen. Wie sein Leben immer wieder bezeugt, hatte Babaji große Achtung vor gottergebenen Menschen jeden Standes und jeder Glaubensrichtung, aber er verlor nie das höchste Ideal des menschlichen Lebens aus den Augen und lebte nach der von Kabir verkündeten Einsicht:

 

 

                 Sadh hamare sab barae apni apni thor,

               Shabd parkhu jo milae tis aagae sir mor.

 

                

                    Alle Heiligen sind der Verehrung würdig,

                aber ich verehre nur einen, der das Wort

                gemeistert hat.

 

                                                                                                         Kabir

 

 

 

Er hatte in sehr frühen Jahren viele Yoga-Methoden erprobt, und immer wenn er über dieses Thema sprach, tat er es nicht auf der Grundlage akademischer Gelehrsamkeit, sondern als einer, der das, was er sagt, aus eigener praktischer Erfahrung weiß. Seine Worte hatten Überzeugungskraft, denn sie waren frei von jeglicher Voreingenommenheit.

                                                                                                                                                    

 

Er erklärte einfach, daß er selbst alle diese Wege erkundet und den Pfad von Sant Mat oder den Surat Shabd Yoga als den höchsten herausgefunden habe. Er wußte viel von den übernatürlichen Kräften zu sagen, die durch Yoga-Übungen zu erlangen waren, aber sein einziger Prüfstein war: führten sie zur Beherrschung des Gemüts durch Befreiung von der Tyrannerei der Wünsche? Wenn ja, konnte man nichts dagegen sagen, wenn aber nicht (wie es gewöhnlich der Fall war), hatten sie kaum irgendeinen Nutzen. Als er sich 1894 in Murree aufhielt, ging er in Beantwortung vieler Fragen, die ihm Sawan Singh Ji gestellt hatte, ausführlich auf das Thema des vergleichenden Yoga ein und legte schließlich dar, wie Kabir und Nanak das Beste von ihren Vorgängern angenommen hatten, daß sie weit höher auf dem mystischen Pfad vorgedrungen waren und eine Methode zur Einswerdung mit dem Formlosen Absoluten entwickelt hatten, die in jedermanns Reichweite lag. Er zitierte des öfteren frühere Meister, um seinen Standpunkt zu erhärten, und führte insbesondere an, was sein eigener großer Guru dazu gesagt hatte:

 

                         Sant Mata sab se bara yeh nische kar jan

                         Sufi aur Vedanti donon neeche, man,

                         Sant Diwali nit karen Sat Lok ke mahin

                         Aur mate sab Kal ke yun he dhur urain.

 

 

                            Der Pfad der Meister ist allen anderen

                         weit überlegen; glaubt es in vollem Vertrauen.

                         Sufismus und Vedanta können euch bis zu

                         einer gewissen Stufe bringen, doch nicht

                         bis an das letzte Ziel.

                         Die Heiligen leben für ewig in der

                         Herrlichkeit des Höchsten.

                         Allen anderen Glaubensrichtungen und

                         Gemeinschaften gelingt es nicht, die

                         Bereiche der Relativität zu übersteigen.

                                                                                  Sar Bachan (Verfassung)

 

 

Was ist die Wissenschaft des Surat Shabd Yoga, welche die Krone mystischer Vollendung darstellt?

Es ist der Pfad, sagt Babaji, der die wenigsten Mühen erfordert und sich am meisten lohnt, will man zur Quelle allen Lebens und Lichts zurückgelangen. Sein Geheimnis liegt in der Erkenntnis, daß der Weg des Aufstiegs derselbe sein muß wie der des Abstiegs, wenn die Seele wieder eins werden soll mit dem Ursprung, von dem sie ausgegangen ist. Als der Namenlose Namen und Form annahm, offenbarte er sich in Shabd, Naam, Kalma oder dem Wort. Dieser spirituelle Strom, dessen erste Attribute Musik und Strahlung waren, ist für die ganze Schöpfung verantwortlich. In einem Brief vom 21. April 1903 schreibt Babaji:

 

                Alles hat sich durch Shabd offenbart – Ishwar

              (Gott als Erhalter der Welt), Jiva (die individuelle

              Seele), Maya (das Feinstoffliche und das Grob-

              stoffliche) und Brahmand (die physische, astrale und

              kausale Ebene) – durch seine Bewegung kam alles in Sein.

 

Alle Weisen haben, wenn auch nach ihrer jeweiligen Art verschieden, vom Wirken des Wortes oder

der Kraft von Naam Zeugnis abgelegt:

 

 

              Kun kae kehnae sae hoowa alam bapa.

 

              Durch den Ausdruck des Wortes

          kamen alle Dinge ins Sein. 

 

    Ebenso heißt es:

 

              Am Anfang war das Wort, und das Wort

           war bei Gott, und Gott war das Wort.

 

                                                                                                Joh. 1,1

 

Was die Meister des Surat Shabd Yoga über dieses Thema sagten, war nichts Neues. Sie legten nur besonderen Nachdruck auf den Gedanken, daß Shabd, wenn durch sein Wirken alles – selbst der Jiva Atman – offenbart wurde, das beste und einzige Mittel ist, um unseren Ausgangspunkt – Nirankar,

Nirgun, Anami und das Absolute – wiederzuerlangen.

Die Musik und die Glorie des Wortes breiten sich in der ganzen Schöpfung aus und durchdringen

unser Sein. Wenn der Atman nur mit ihm verbunden werden könnte, wäre er imstande, durch dieses “Band des namenlosen Herrn” seine Pforte zu erreichen. Aber bei ihrem Abstieg hat die Seele das Bindeglied gelöst und ihre wirkliche Natur vergessen. In die grobstofflichen Umhüllungen des Körpers und Gemüts verstrickt, hat sie ihre wahre Heimat aus den Augen verloren und sich mit ihrem Kerker identifiziert.

 

     In seinem Brief vom 15. Mai 1900 sagt Babaji:

 

              Seit sich der Jiva Atman von Sach Khand (der wahren Heimat)

           und von Shabd Dhun trennte, hat er seinen Glauben in den

           Sat Purush (den Wahren Einen) und Shabd Dhun verloren.

           Aber Shabd gibt ständig auf ihn acht, wenn er auch nichts davon

           weiß, da er sich an Gemüt und Maya, die äußerst trügerischen

           Objekte Mayas und der Sinne, fest gebunden hat. Er liebt sie so sehr,

           daß er nicht erkennt, welcher Nachteil ihm daraus entsteht,

           indem er für gut und zuträglich hält, was ihm in Wirklichkeit Schaden

           bringt. Die Liebe zum Gemüt hat ihn unbewußt gemacht, und das Gemüt

           wiederum ist durch die Sinnesfreuden empfindungslos geworden;

           schließlich hat Maya einen solchen Zauber auf ihn ausgeübt, daß er sich nicht

           mehr von seiner Ohnmacht erholen kann.

 

Der vollendete Meister

 

Unsere spirituellen Kräfte sind durch die groben Hüllen von Gemüt und Maya so umnebelt und ver-

borgen, daß wir Shabd, obwohl seine Musik ewig in und uns her ertönt, nicht hören und seine Glorie nicht sehen können.

 

            Nanak sae ankhriyan bae-an jini disindo mapiri.

 

            Die Augen, mit denen mein Geliebter zu sehen ist,

            sind anders.                                                  Rag Wandhans 577    

 

 

 

Wie können diese Fesseln gesprengt werden? Wie kann der Mensch die Verbindung mit seinem Schöpfer wiederbeleben? Babaji erklärt, daß man dafür unbedingt die Hilfe eines kompetenten Meisters braucht:

 

               Dhur Khasmae ka hukam paya

               Vin Satguru chaitya na jai.

 

                  Dies ist der Wille des Herrn-

                nur durch einen lebenden Satguru

                kann man ihn erkennen.

                                                                                                Var Bihagra  556

 

Ohne die belebende Berührung mit ihm kann die Seele nicht aus ihrem Schlummer erwachen und mit Naam in Einklang kommen. Die Jiva Atman ist zu sehr in der grobstofflichen Materie verirrt, als daß er sich aus eigener Kraft mit Shabd verbinden könnte. Außerdem ist der innere Weg nicht leicht; selbst wenn sich die Seele über das Körperbewußtsein erheben und in die inneren Bereiche gelangen kann, vermag sie von sich aus nicht sehr weit zu kommen. Die Regionen And und Brahmand sind beinahe unendlich, und ohne einen spirituellen Führer würde sie sich in deren Wunderwerk verlieren. Ferner gibt es auf der mystischen Reise, besonders beim Übergang von einer Ebene zur anderen, so schwierige Punkte, daß die Seele ohne einen Adepten dort für immer aufgehalten würde.18)

Babaji betonte unermüdlich die Notwendigkeit eines lebenden Meisters, um auf diesem Gebiet Erfolg zu haben. Frühere Heilige mögen alle Geheimnisse der mystischen Reise erforscht und auch Berichte über ihre Erfahrungen hinterlassen haben. Aber die inneren Welten sind nicht in Begriffen der menschlichen Sprache zu beschreiben, und so vermochten sie darüber nur in Andeutungen und Gleichnissen zu sprechen. Da sich diese aber auf einen Erfahrungsbereich beziehen, der gänzlich über dem gewohnten menschlichen Gesichtskreis liegt, können sie ohne die Hilfe von einem, der selbst direkten Zugang zu den beschriebenen Erfahrungen hat, nicht verstanden werden. Darum braucht man, allein um die Botschaft früherer Meister richtig zu erfassen, einen lebenden Meister. Erst als Babaji seinen Meister Soamiji gefunden hatte, erschloß sich ihm die volle Bedeutung des Granth Sahib und der Schriften Kabirs und anderer großer Heiliger.

Die spirituelle Reise ist keine Sache intellektueller Erörterungen, sondern eine Frage des praktischen Aufstiegs. Selbst im Bereich akademischen Wissens kann ein Buch nicht die Schulung durch einen scharfsichtigen Lehrer ersetzen. Wieviel mehr gilt das auf spirituellem Gebiet! Nach Babaji ist der Jiva Atman so sehr in Maya verloren, daß er aus eigenem Antrieb des Shabd Dhun nicht erreichen kann.

Nur durch einen Gnadenakt wird er mit dem Licht und der Musik im Innern verbunden, und diese Gnade ist das Geschenk eines lebenden Meisters:

 

                          Radhasoami, der Herr der Seele, kam voller Mitleid

                        und Erbarmen in der Gestalt eines Heiligen selbst

                        herab, gab uns Hinweise auf die spirituellen Regionen

                        und zeigte uns den Weg, um Sach Khand (die wahre

                        Wohnstatt) durch Shabd Dhun zu erreichen.

 

Die früheren Heiligen sind der Verehrung würdig. Ihr Leben ist ein leuchtendes Vorbild, das uns ständig auffordert, in unsere himmlische Heimat zurückzukehren. Aber es ist das Gesetz der Natur, daß der lebendige Impuls nur vom Lebenden kommen kann; und die Aufgabe, die sie für ihre eigene Zeit erfüllten, muß in unserer Zeit einer tun, der unter uns weilt und den Weg, den sie gemeistert hatten, selbst geangen ist. 

 

 

In der Tat kann man durch kritisches Studium ihrer Schriften feststellen, daß diese eine einzige Bestätigung für die Notwendigkeit eines lebenden Meisters sind.

Wer ist nun ein kompetenter lebender Meister, und wie ist er zu erkennen? Babaji wußte, daß es zahllose Wölfe im Schafspelz gibt, und da alles darauf ankommt, einen wahren Führer zu finden, hob er immer wieder hervor, daß Wachsamkeit und Unterscheidungsfähigkeit sehr wesentlich sind.

Seine früheren Erfahrungen hatten ihm nur zu gut gezeigt, wie selten man solche große Geistwesen findet, von denen es vielleicht nur eines während eines Menschenalters gibt, manchmal mehrere (wie bei Guru Nanak und Kabir, bei Maulana Rumi und Shams-i-Tabrez, bei Tulsi Sahib und Soamiji, die jeweils Zeitgenossen waren), aber leider immer zu wenige, und ein Mensch ist wirklich gesegnet, wenn er einer solchen Persönlichkeit begegnet. Man kann die Aufzeichnungen der früheren Heiligen zum Prüfstein nehmen, wie es Babaji während seiner Suche getan hat. Wenn einer ein wahrer Meister und außerdem ein Mystiker der höchsten Ordnung ist, werden durch die Verbindung mit ihm alle Un-

klarheiten und Widersprüche, die einen bei der Lektüre der Schriften verwirrten, beseitigt. Er weiß die Schriften nicht nur einer, sondern aller Mystikerschulen eindrucksvoll darzulegen, weil er zu allen inneren Bereichen Zugang hat, nicht lediglich zu einem. Als Knabe war Babaji vielen Sadhus begegnet, aber erst zu den Füßen Soamijis begann er all die Schätze, die im Granth Sahib zu finden sind, richtig zu begreifen. Mystiker einer niedrigeren Ordnung können nur Berichte von Erfahrungen darlegen, die sie selbst gemacht haben; aber einer, der zu den höchsten Höhen aufgestiegen ist, kann alles erklären – eine Tatsache, die Babajis Begegnung mit den vier Pandits deutlich machte.

Ein weiteres Merkmal des wahren Heiligen ist seine ungewöhnliche Demut. Es scheint eine der größten Widersinnigkeiten des menschlichen Lebens zu sein, daß die, welche sich als Heilige ausgeben, keine sind, und jene, die es wirklich sind, es niemals von sich behaupten. Guru Nanak sagte von sich, daß er nichts weiter als der Sklave von den Dienern der Heiligen sei, und auch Soamiji trug unerschüttert das Kleid der Bescheidenheit. Nicht durch das, was ein Mensch zu sein vorgibt, sollte er anerkannt werden, sondern durch das, was er getan hat. Einen Baum erkennt man nicht an seinem Namen, sondern an seinen Früchten, und ein Heiliger erweist sich durch seine Vollkommenheit als Mensch, sein Freisein von weltlichen Wünschen, seine Liebe und Güte, seine anspruchlose Lebens-

weise, seine Sorge für das Wohlergehen anderer und seine Gleichgültigkeit gegenüber Name und Ruhm. Er verteilt seine spirituellen Gaben frei, so wie jede andere Gabe frei gegeben wird, und verdient seinen Lebensunterhalt durch seiner eigenen Hände Arbeit.

 

                             Gur, Pir sadai mangan jayae

                         Ta ke mool na lagya payae.

 

                              Beuge dich nicht vor einem, der sich

                          selbst einen Guru nennt, aber von der

                       Mildtätigkeit anderer abhängig ist.

                                                                                                         Sarang Var,  1245

 

Wenn es auf der menschlichen Ebene seine Vollendung als Mensch ist, die einen wahren Heiligen von allen anderen unterscheidet, erkennt man ihn auf der spirituellen Ebene durch die inneren Erfahrungen und die Führung, die er geben kann. Die Fähigkeit, seinen Schülern bei der Initiation eine unmittelbare spirituelle Erfahrung zu geben, wie gering sie auch immer sein mag, so betont Babaji, der letzte Prüfstein für einen wahren Meister. Er verheißt die spirituelle Verwirklichung nicht erst für ein künftiges Leben nach dem Tod, sondern gibt hier und jetzt einen Vorgeschmack davon. Er verbindet die Seele mit dem inneren Licht und Ton, und es ist Aufgabe des Schülers, diese Saat zu nähren und zu voller Blüte und Frucht zu entwickeln. Die Gabe von Naam ist das alleinige Vorrecht des Satguru, und seine lenkende Hand reicht überallhin, in die inneren Ebenen nicht minder als in die äußere Welt.

So groß ist seine Liebe und Fürsorge, daß keine irdischen Bande jemals damit verglichen werden können. Seine strahlende Form begleitet die Seele, nachdem sie sich über das Körperbewußtsein erhoben hat, und führt sie von Ebene zu Ebene, ihrer himmlischen Heimat entgegen, und der empfäng-

liche Schüler erkennt seine Gnade auf Schritt und Tritt. 

 

 

Der Meister kann natürliche Wunder tun, da er eins mit dem göttlichen Willen ist, aber es widerstrebt ihm, in den festgelegten Plan einzugreifen. Selbst wenn seine Gnade die Oberhand gewinnt, läßt er sie im verborgenen wirken und nimmt nichts für sich in Anspruch, sondern handelt einzig im Namen seines Meisters. Er gibt sich nicht mit Streitigkeiten und Wortgefechten ab. Seine ständige Mahnung ist: “Geht nach innen und seht selbst”, wobei die Betonung stets auf dem Inneren liegt, nicht auf den äußeren Formen und Ritualen.

 

 

Glaube, Liebe und Selbsthingabe

 

Es ist in der Tat der größte Segen, einen wahren Satguru zu finden. Um einen kompetenten Meister zu begegnen, muß ein Sucher große Ausdauer und Unterscheidungskraft haben. Wurde sein Bemühen mit Erfolg belohnt, sind die Eigenschaften, deren er am meisten bedarf, Glaube, Liebe und vollständige Selbsthingabe. Erst als König Janaka Körper, Gemüt und Besitz – tan, man und dhan – entsagt hatte, kam er zur Erleuchtung. Einen wahren Meister gefunden zu haben, bedeutet, daß man sich seiner eigenen Begrenztheit bewußt wird und sieht, was für ein großes Glück es ist, zu seinen Füßen angenommen zu werden. Es heißt auch zu erkennen, daß seine Liebe und Weisheit unendlich und ermeßlich sind. Eine solche Erkenntnis muß von Demut, Glauben und der Annahme seines Willens als des höchsten begleitet sein, wenn einer aus dieser günstigen Gelegenheit das Beste machen möchte.

Babaji bekräftigte in seinen Reden und auch in Briefen immer wieder, wie wichtig Liebe und Vertrauen für den Schüler sind. Am 16. Mai 1901 schrieb er an Baba Sawan Singh:

 

                  Shabd ist die wirkliche Form des Satguru. Durch die Verbindung mit ihm

                  wirst du dein Ziel erreichen. Vorbedingung ist jedoch, daß du zuerst Liebe

                  und Hingabe für die Person des Meisters entwickelst, denn ohne dies ist

                  nichts möglich. Der Satguru ist eines mit Anami-Radhasoami, der alles

                  gewährt und zur Erhebung der Jivas eine menschliche Form angenommen

                  hat. Wer immer große Liebe und Hingabe für ihn entwickelt und ihn als den

                  höchsten Herrn betrachtet, wird mit Shabd Dhun in Verbindung kommen und errettet.

 

Bei anderer Gelegenheit schrieb er:

 

                Selbst nach 100 Jahren Bhajan wird man nicht so rein wie durch das brennende Verlangen

                  nach dem Darshan (Begegnung mit dem Meister), vorausgesetzt, daß das Verlangen echt

                  und wahr ist und die Liebe für den Satguru aus dem innersten Herzen kommt..

 

Selbsthingabe ist die natürliche Folge solchen Glaubens und einer solchen Liebe, und in seinen Briefen kommt Babaji immer wieder darauf zu sprechen:

 

                   Verliere dich nicht in dich selbst. Halte diesen Gedanken beständig und unerschütterlich in

                   dir fest: Körper, Gemüt und Besitz, Nirat und Surat, Augen, Ohren, Nase, Mund, Hände und

                   Füße – ja alles, was es auf der Welt gibt, gehört dem Satguru. Ich selbst bin nichts.

                   Was immer du tust, tu es als des Satgurus Sache, und suche immer das Beste zu tun.

                   Vergiß das nicht für einen einzigen Augenblick, sondern nimm es als ein Hidayat, ein Gebot.

                                                                                                                                                     (24. Mai 1901)

 

                   Laß den Gedanken “mein” niemals einen Platz in deinem Herzen finden. Selbst wenn du die

                   Herrschaft über Brahmand erlangst, denke nicht, du habest irgendeinen Anteil daran: “Ich bin nur

                   ein Werkzeug.” Alles gehört dem Satguru. Halte dir immer des Meisters Gebot vor Augen: Ich bin

                   nichts, ich bin nichts, ich bin nichts.” Laß die Erinnerung an den Herrn dein ständiger Gedanke sein,

                   und bewahre das Bild des Satguru immer in deinem Herzen. (7. September 1900)              

 

 

                  Merze alle weltlichen Wünsche aus deinem Innern aus und lege sie deinem Meister zu Füßen.

                    Beanspruche nichts für dich selbst, und suche dich auf seinen Willen abzustimmen, der in deinem

                    Herzen an erster Stelle stehen sollte. Selbst wenn er verlangt, den Rasen umzugraben, tue es;

                    Denn dem Satguru zu gehorchen ist die höchste Tat. Wenn du dein Herz auf diese Weise formen

                    kannst, werden dir alle Dinge dazugegeben.

                                                                                                                                    (18. September 1902)

 

Als Baba Sawan Singh Ji schrieb, daß er nicht einmal nach Sach Khand Verlangen habe, sondern um Liebe und Glauben zu den heiligen Füßen des Satguru bitte, war Babaji höchst erfreut und erwiderte, daß eine solche Hingabe “in der Tat die höchste Selbstzucht (Karni) sei, und versicherte ihm, daß

“der, welcher solche Liebe für den Meister habe, ganz gewiß Sach Khand erreichen werde und, indem er durch Alakh, Agam und Anami-Radhasoami geht, mit der Region des Wunderbaren eins wird.”

                                                                                                                        (11. September 1897)

 

 

Das äußere Leben

 

Der Sucher, der einen wahren Führer gefunden hat und beginnt, die rechte Art von Liebe und Vertrauen in ihn zu entwickeln, wird natürlich versuchen, sein Leben dem Willen des Satguru anzugleichen. Babaji hat mit großem Nachdruck erklärt, daß wir unser Leben umformen müssen.

Man braucht jedoch nicht die Welt zu verlassen, um den inneren Weg zu gehen. Entscheidend für den spirituellen Fortschritt ist die innere Loslösung. Wer sich seinem Guru vollständig übergeben hat, ist von allen weltlichen Bindungen frei. Einige seiner Schüler äußerten bisweilen den Wunsch nach völliger Entsagung, aber er hat solche Neigungen immer in Schranken gehalten:

 

                     Du sagst, daß du dein Heim und deinen Dienst aufgeben willst, um dich ausschließlich der  

                     Meditation zu widmen. Sind Heim, Dienst und Besitz wirklich dein eigen? Denke gründlich

                     darüber nach. Es ist alles das Spiel eines Zauberers, und die Welt ist ein Traum. Warum sich

                     also den Kopf zerbrechen über ein Festhalten oder Aufgeben dieser Dinge?

                                                                                                                                     (18. September 1902)

 

Er hielt seinen Schülern immer das Ideal des königlichen Schwans vor Augen, der zwar im Wasser zu Hause ist, sich aber, ohne naß zu werden, frei und ungehindert daraus erhebt. Er wollte nicht, daß sie der Welt verhaftet waren, hieß es aber ebensowenig gut, wenn sie ihre weltlichen Pflichten vernach-

lässigten. Als Baba Sawan Singh einmal schrieb, daß er einen zehntätigen Urlaub nehmen und ihn in Beas verbringen wolle, schrieb Babaji zurück: 

 

                    Wenn du auf einen zehntätigen Urlaub kommst, solltest du in jedem Fall zuerst nach Hause gehen.

                      Auf dem Rückweg magst du dann am Samstag nachmittag gegen fünf Uhr zur Dera kommen, von

                      wo aus du am darauffolgenden Tag nach dem Sonntag-Satsang wieder zum Dienst gehen kannst.

                      Du mußt nach Hause, denn es sind dort viele Dinge, die seit den letzten zwei oder drei Jahren deine

                      Aufmerksamkeit erfordern. Gehe darum bitte gleich dorthin. Ich werde mich sehr freuen, wenn du

                      dies als erstes tust und dann hierher kommst.

 

Als bei anderer Gelegenheit sein geliebter Schüler keinen Urlaub erhielt, um ihn besuchen zu können, aber dennoch vor hatte zu kommen, war Babaji alles andere als erfreut darüber und verbot ihm streng, einen solchen Schritt zu tun, indem er zur Antwort gab: “Schreibe bitte nie wieder, daß du kommen wirst, ohne Urlaub zu haben”, und er fügte hinzu: “Die Arbeit, die du verrichtest, ist auch die Arbeit von Radhasoami, die Arbeit des Herrn.”

                   

 

Während man in der Welt lebt, muß man sich jedoch einer sehr strengen Disziplin unterziehen.

Der Weg zum Neuen Jerusalem ist eng und schwierig. “Eure Lebensweise”, sagte der Weise von Beas zu seinen Schülern muß sich von der anderer Menschen unterscheiden.” Und wie streng diese von ihm verlangte Disziplin war, macht einer seiner Briefe deutlich:

 

           Du scheinst nicht zu verstehen, daß du dich mit niemandem unterhalten sollst, wenn deine dienstlichen

           Pflichten vorüber sind. Am Abend zwischen sechs und acht solltest du dich so lange wie möglich zur

           Meditation setzen, sei es eine halbe Stunde oder eine ganze, fünfzehn Minuten oder anderthalb Stunden,

           und solltest mit deiner Aufmerksamkeit (Surat) auf den inneren Ebenen sein. Von acht bis zehn Uhr

           halte Satsang. Dann magst du schlafen gehen oder noch etwas reden. Um 4.30 Uhr morgens setze dich

           wieder zur Meditation bis 5.30 Uhr. Während des Tages hast du deinen dienstlichen Pflichten nachzu-

           kommen und kannst, wenn du willst, in dieser Zeit reden. Aber sobald der Dienst beendet ist, vergeude 

         keine Zeit mit leerem Geschwätz oder in Gesellschaft von Nichtsatsangis. Lasse in deiner Küche niemals

           Speisen von Nichtsatsangis bereiten, besonders wenn sie Fleisch und Alkohol zu sich nehmen. Wenn du

           mit Nichtsatsangis zusammen bist, wirst du unter den Auswirkungen ihrer Gesellschaft zu leiden haben.

                                                                                                                                               (17. Oktober 1902)

 

Enthaltsamkeit von nichtvegetarischer Nahrung und Berauschungsmitteln ist eine Vorbedingung für die Aufnahme des spirituellen Pfades. Ebenso betonte Babaji die Notwendigkeit eines ehrbaren Lebens. In demselben Brief, der oben angeführt wurde, schrieb er:

 

          Wenn man dir etwas frei anbietet, nimm es niemals an, denn wie willst du es zurückgeben? Wenn du

          nicht streng an dieser Regel festhälst, wirst du nie die höchste Spiritualität erlangen. 

 

Man darf sich von der Welt nicht forttragen lassen, sondern muß bei allen Dingen die Unter-

scheidungskraft gebrauchen. “Die ganze Welt ist in den Banden der Liebe von Eltern, Kindern, Weib und irdischen Beziehungen gefesselt” , und man muß sich aus dieser Sklaverei befreien. Es hilft nicht, in die Wälder zu gehen. Die Loslösung muß eine innere sein, und sie kann nur durch die Liebe zu einem wahren Meister zustande kommen. Daher auch der große Wert des Satsang; denn nur durch die Verbindung mit dem Meister kann man sich die wahren Werte des Lebens zu eigen machen, die Täuschung von Maya kennenlernen und eine Liebe entwickeln, welche die Liebe der Welt ersetzt.

Liebe und Segen strahlen von der Persönlichkeit eines Heiligen aus, und wer immer in seinen Bann-

kreis kommt, wird von weltlichen Spannungen, ehrgeizigem Streben und Eifersüchteleien frei.

Er sieht sich mit allen Geschöpfen wesenseins und weiß, daß alle weltlichen Ziele vorüberziehende Schatten sind. Nur ein solcher Mensch kann die Netze von Maya zerreißen und in den Welten des Jenseits Einlaß finden.

 

Das innere Leben

 

Die Vervollkommnung der äußeren Lebensführung ist sehr wesentlich, denn ohne sie kann man das innere Ziel nicht erreichen. Liebe und Vertrauen in den Satguru, Selbsthingabe und ein ethisch untadeliges Leben müssen sich zu diesem Zweck ergänzen. Die höchste Bestimmung des Menschen ist das Einssein mit dem Absoluten. Wird das nicht erreicht, ist alles andere von geringem Wert.

Der Frage des wirklichen geistigen Aufstiegs galt Babajis Hauptinteresse als Lehrer. Er hielt sich nicht lange mit theoretischen Problemen auf.

“Wozu debattieren und argumentieren?” fragte er häufig.

“Wendet euch nach innen, geht hinein und seht selbst!” Sein Briefwechsel mit Baba Sawan Singh Ji ist eine einzige lange Ermahnung, die äußere Welt beiseite zu lassen, um sich in die innere Welt zurückzuziehen; und jeder seiner Briefe sagt etwas wertvolles über die eigentliche spirituelle Praxis aus.

 

 

Da die Seele durch das Gemüt und die Sinne Maya zum Opfer gefallen ist, kann sie nur befreit werden, indem sie sich von ihnen zurückzieht. Die beiden Sadhans (Übungen), die Babaji wie seine Vorgänger zu praktizieren empfahl, waren Simran und Bhajan. Den ersten, bei dem die heiligen Namen des Herrn wiederholt werden, muß man zu jeder Tageszeit ausführen. “Habe den Simran immer im Bewußtsein, selbst wenn du in Bewegung bist oder deiner Arbeit nachgehst”, schärfte er ein. Der beständige Gedanke an den Höchsten ist die größte Sicherheit gegen weltliche Gedanken und Wünsche. Er hilft dem menschlichen Geist, sich von den gewohnten Beschäftigungen freizuhalten, und wenn er bei der Meditation (Abhyasa) voller Aufmerksamkeit geübt wird, sichert dies eine rasche Sammlung der Bewußtseinsströme am spirituellen Zentrum zwischen und hinter den Augenbrauen.

Ist eine solche Konzentration oder Dhyan erreicht, kann man mit dem Tonstrom in Verbindung kommen, und Dhyan (das Ergebnis von Simran) führt von selbst zu Bhajan oder Vertieftsein in Shabd Dhun:

 

             Wenn du deinen Bhajan oder Simran übst, sorge dich nicht um weltliche Dinge, und laß dich nicht

             durch irgendwelche Gedanken ablenken. Übe zuerst eine Viertelstunde Simran, dann lenke deine

             Aufmerksamkeit allmählich auf die Musik des Shabd Dhun. Nun halte mit dem Simran ein, und

             verankere Herz und Seele in Shabd. Auf diese Weise wirst du große Seligkeit erfahren, und uner-

             meßliche Gnade wird von der höchsten Region auf dich herabkommen.

 

Das war die übliche Anweisung. Die Einzelheiten konnten natürlich den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden. Der Zeitfaktor mochte verschieden sein, aber die tägliche Meditation mußte unter allen Umständen ausgeführt werden:

 

             Lausche jeden Tag mit großer Liebe und Hingabe auf den Shabd Dhun, der in deinem Herzen

             ertönt, für fünfzehn, zehn oder fünf Minuten, für eine Stunde oder zwei, entsprechend der Zeit,

             die dir zur Verfügung steht. Aber du mußt jeden Tag eine Weile auf ihn hören. 19)

 

Große Schönheit ist in Shabd. Er birgt eine Musik, die jede von Menschen hervorgebrachte weit übertrifft und die Seele zu sich zieht. Unaufhörlich ruft er den Geist in seine göttliche Heimat, und obwohl er von den gewöhnlichen Menschen nicht vernommen wird, können jene, die durch Meditation und die Gnade eines Satguru die Fähigkeit der inneren Wahrnehmung entwickelt haben; seine Weisen jeden Augenblick des Tages hören, mal stärker, wenn sich der Geist an einem Punkt sammelt, dann wieder schwächer werdend und verstummend, wenn sich die Gedanken in verschiedene Richtungen zerstreuen und die Aufmerksamkeit geteilt ist. Shabd ist der wirkliche Halt des Suchers.

Er ist die bewußte Kraft, die alles erschaffen hat, und zugleich der wirkliche Meister – der Shabd Guru-, denn der Satguru ist seine physische Offenbarung in menschlicher Gestalt.

 

Babaji sagte einmal:

 

              Shabd Dhun ist unsere wirkliche Form. Der physische Körper ist nur ein Kleid. Niemand kann

              es für immer behalten, und keiner wird es jemals können... So glaubt, ihr Ergebenen, daß sich die

              Shabd-Form des Satguru, die weder Anfang noch Ende hat, im Körper befindet.

 

Wenn man einmal die ständige Verbindung mit dieser inneren Musik entwickelt hat, wirkt sie als Schutz gegen weltliche Sorgen und Nöte. Unglück trifft jeden, denn das frühere Karma muß beglichen werden; aber für den Menschen, der in Shabd Dhun verwurzelt ist, hat es seinen Stachel verloren. Babaji, der meistens zu einfachen Bauern sprach, legte seine Lehren in Beispielen und Gleichnissen aus dem Leben der Landleute dar. So erklärte er die beschützende Kraft von Shabd mit den Worten:    

 

 

                Der Körper gleicht einem Dorf oder einer Stadt, und Shabd Dhun ist unser eigenes Haus.

                Wenn nun in einem anderen Haus jemand stirbt oder ein großes Leid trägt, ist jeder in diesem

                Haus unglücklich, während wir in dem unseren ganz zufrieden sind.

 

Um die magnetische Kraft und den Einfluß der inneren Musik darzulegen, schrieb er:

 

                 ...der Shabd Dhun wird es (das Gemüt) auf dieselbe Weise anziehen und festhalten, wie

                 Ziegen, Rinder und andere Tiere mit einem Seil angebunden sind.

 

Die größten Behinderungen des Suchers sind das Gemüt und die Sinne. Durch ihre Tätigkeit wurde die Seele im Netzwerk von Maya gefangen, und sie selbst muß sich daraus lösen, um frei zu werden.

Die Sinnererfahrung auszuschließen ist nicht so schwierig; aber auch wenn die Pforten der Sinne geschlossen sind, stört das Gemüt weiter und lenkt ab. Es ist die Wurzel des Ich-Prinzips und darum die Hauptursache für die Trennung des Jiva vom Herrn des Universums. Wie kann man diesen ruhe-

losen Drachen besiegen? Babaji vertrat die Ansicht, daß die größte Hilfe darin liege, über die Form des wahren Meisters zu meditieren und in Shabd vertieft zu sein.

 

                    Du fragst mich, wie du dein Gemüt in Zaum halten kannst.

                 Man kann es nur durch Shabd bezähmen. Lausche täglich seiner Musik, und meditiere

                 über die Form des Satguru. Dann wird das Gemüt zu wandern aufhören und die Seele,

                 von Shabd Dhun getragen, eines Tages bis Daswan Dwar gelangen (die dritte Ebene und

                 der Sitz des universalen Gemüts). Indem sie so das mentale Werkzeug zurückläßt, wird sie

                 sich mit dem reinen Shabd verbinden und durch die Gnade des Satguru Sach Khand erreichen.

                 Zweifle nicht, sie wird dort hinkommen.                                                          (7. Januar 1901)

 

Wenn das Gemüt einmal unter Kontrolle gebracht ist und nicht mehr verzweifelt und schwankt:

 

                     dann erscheint die strahlende Form des Meisters im Inneren.

                  Zwischen ihr und der physischen Form besteht kein Unterschied. Sie ist wie ein klares

                  Spiegelbild. Solange das Glas nicht rein ist, kann man nichts darin erkennen.

 

Das Gemüt ist wirklich wie ein Glas, das alles trübt und verbirgt, wenn es durch Schmutz der weltlichen Bindungen befleckt ist. Aber in dem Augenblick, wo dieser Schleider entfernt ist, spiegelt es das Universale wider. Der Surat (die Aufmerksamkeit), durch Simran am Tisra Til gesammelt, bricht mit Hilfe der Anziehungskraft von Shabd hindurch. Und wenn er in die inneren Bereiche gelangt, begegnet er der strahlenden Form des Meisters, die ihn willkommen heißt und ihn von da an Schritt für Schritt auf der inneren Reise führt.

Wenn die Seele erst den Meister in seiner strahlenden Form im Innern erreicht hat, ist der größte Teil ihrer Aufgabe getan. Das Übrige ist nur noch eine Frage der Zeit. Der Satguru könnte sie natürlich sofort zu den höchsten Ebenen bringen, aber er bewirkt den Fortschritt stufenweise, denn sonst würde, wie es bei dem hartnäckigen Pandit der Fall war, der Schock und die Anspannung zu groß sein.

Die Sanchit-Karmas(die Handlungen vergangener Lebensläufe, dazu bestimmt in künftigen Geburten Frucht zu tragen) und die Kriyaman-Karmas (Handlungen aus diesem Leben, die ebenfalls in nach-

folgenden Lebensläufen Frucht tragen) sind natürlich in dem Augenblick unwirksam geworden, wo man vom Meister in seine Herde aufgenommen wird. Aber das Pralabdh-Karma, auf dem das gegen-

wärtige Leben begründet ist, muß sich auswirken, da sonst der Tod die unmittelbare Folge wäre.

Der Meister sucht es so rasch und glatt wie möglich abzuwickeln. Als sich Baba Sawan Singh das Bein gebrochen hatte, ließ Babaji ihn wissen, daß dies nicht bloß die Folge eines Unfalls war, sondern auf früheren Karmas beruhte, deren Rückwirkungen nicht umgangen werden konnten. Sein Leiden wurde zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber durch das Eingreifen eines Satguru gemildert. “Welches Leid dir auch zugestoßen ist, es ist nur der fünfte Teil; vier Teile wurden dir erlassen”, und er fuhr fort:

 

 

                Kummer und Leiden sind Glück im Unglück, denn sie sind durch den Herrn bestimmt. Wenn uns das

                Leid Nutzen bringt, schickt Er uns Leid, hilft uns die Freude, sendet Er diese. In Freud und Leid wird

                unsere Stärke geprüft, und wenn man weder wankt noch abweicht, segnet der Allmächtige eine solche

                Seele mit Naam.

 

In welche Sorgen und Nöte Babajis Schüler kommen mochten, er hieß sie stets guten Mutes sein.

Je eher ihre Schulden beglichen waren, desto besser, und in Zeiten der Prüfung floß ihnen immer besondere Gnade zu:

 

                Krankheit und Freuden sind die Früchte früherer Handlungen. All jenen, die krank sind, wird

                besondere Gnade gegeben. Mögen sie darum ohne Sorge sein und es mit Gleichmut tragen.

                Im Leid wandert das Gemüt nicht, und in der Bedrängnis wendet es sich dem Bhajan zu.

                So sind die Zeiten des Krankseins, wenn sich das Gemüt dem Bhajan hingibt, von großem Segen.

                Sie sind ein besonderes Geschenk für die Satsangis. Wenn dich also Krankheit und Schmerz

                bedrängen, nimm sie als den Willen des Herrn an und widme dich deinen spirituellen Übungen.

                Solange der Surat in Shabd Dhun vertieft ist, wird das Licht nicht empfunden. Heißt es nicht:

                “Freude ist Krankheit und Leid das Heilmittel?”

                                                                                                                                                (17. Oktober 1902)

 

“Wenn man einen kompetenten Satguru findet, lernt man den ganzen inneren Weg kennen und begibt sich auf die spirituelle Reise”, sagte Babaji. “Es muß nur noch die Rechnung von Geben und Nehmen beglichen werden, die den Flug der Seele hemmt. Sie ist nicht rein genug, den göttlichen Shabd zu ergreifen, und muß daher zunächst von allen karmischen Rückwirkungen frei werden. Der Satguru hat sie in diesem Leben von den Fesseln des Karmas zu lösen, damit sie davor bewahrt wird, dieses in weiteren Geburten ausgleichen zu müssen.

Leid ist also unvermeidbar; aber glücklicherweise werden bei Satsangis “Jahre des Leidens als eine Sache von Tagen abgetragen”. Shabd Dhun ist der den Menschen leitende Engel, das Zaubermittel, das ihn beschützt. Wer zu seinem Reichtum Zuflucht nimmt, dessen Karma wird in seiner reinigenden Flamme allmählich verbrannt. Wenn das Gemüt ruhiger wird und sich das Karma erschöpft, wird die Seele mehr und mehr von Maya befreit und durch die strahlende Form des Meisters innen zu immer höheren Ebenen geleitet. Der Schüler braucht sich nicht zu sorgen. Seine Aufgabe ist es nur, an den Geboten seines Meisters festzuhalten und sich nach seinem Willen zu bemühen. Es liegt in der Hand des Satguru, seine Bemühungen mit Erfolg zu krönen, wenn er es für gut und angemessen hält, denn er kann das am besten beurteilen und tut, was dem Schüler am meisten nützt.

 

                Der Herr tut, was er für das Beste hält. Bringe dich nicht selbst dazwischen. Lebe nach den Worten

                des Meisters und komme weiterhin deinen weltlichen Pflichten nach. Wenn die Frucht reif ist, fällt

                sie von selbst ab, ohne sich oder den Zweig, der sie trägt, zu verletzen, und auf diese reife Frucht

                wird großen Wert gelegt. Wenn wir die unreife Frucht gewaltsam vom Baum nehmen, wird der

                Zweig beschädigt, und sie selbst schrumpft und ist von geringem Wert. Einen kompetenten Meister

                zu finden ist die Erfüllung der menschlichen Geburt. Es ist die Frucht des Lebens. Nach seinen

                Geboten zu leben sichert ihr rechtes Gedeihen. Der tägliche Simran und Bhajan, soviel wie möglich

                geübt, sind die beste Nahrung und Pflege, und das Aufgehen in Shabd ist ihr Reifen und Abfallen.

                                                                                                                                                            (3. März 1899)           

 

 

Solcherart ist der Fortschritt der Seele. Ihr Reifen ist eine Sache steten Wachstums. Durch die Worte des Meisters gestützt, durch Bhajan ernährt und von Shabd Dhun getragen, durchquert sie einen Bereich nach dem andern, bis sie alle Umhüllungen des Gemüts und der Materie hinter sich läßt und Sach Khand erreicht. Dies ist ihre wahre Heimat, das Reich reinen Geistes. Von dort wird sie eins mit dem Göttlichen und geht allmählich in das Formlose zurück, bis sie über Alakh und Agam hinaus zu Anami gelangt, dem namenlosen und formlosen Urgrund von allem, was sich bewegt und sein Sein hat.

Bei manchen, wie im Fall Babajis, wird die ganze Reise aufgrund des spirituellen Fortschritts, den sie in früheren Lebensläufen erzielt hatten, in einer für ihre Zeitgenossen außergewöhnlichen, unfaßbar kurzen Zeit zu Ende geführt. Es gibt noch andere, die durch ihre große Hingabe und ihre Meditationen die Früchte aus vielen Geburten in einem einzigen Leben ernten konnten. Aber der überwältigenden Mehrheit bedeutet die Spiritualität lediglich eine vorübergehende Phase des Idealismus; sie machen Shabd nicht zum Notanker ihres Lebens, sondern wenden sich ihm nur dann und wann zu. Für solche Menschen ist der Erfolg nicht in einem Leben gesichert. Aber die von einem Meister gelegte Saat kann nicht verloren gehen; was nicht in einer Geburt Frucht trägt, kann sich in der nächsten entfalten, unter der Führung der lebendigen menschlichen Offenbarung der Shabd Kraft, die zu der Zeit das Werk ausführt. Aber selbst das ist nicht nötig, wenn man bereits vor dem Tod Verbindung mit dem Naam-Strom hat und alle irdischen Wünsche weggewaschen sind, denn dann kann man den Rest seiner Erlösung von den übersinnlichen Ebenen aus bewirken. Wenn man einmal in die Herde eines wahren Meisters aufgenommen wurde, kann man seiner Befreiung sicher sein und wird früher oder später die ewige Heimat erreichen. Auch wenn er seine irdische Hülle abgelegt hat, bleiben seine Führung und sein Schutz unvermindert bestehen. Für die von ihm Initiierten ist es nicht notwendig, von einem anderen nochmals die Initiation zu erhalten; denn ist auch die physische Form des Guru sterblich, so ist doch seine Shabd-Form unvergänglich und immer gegenwärtig. Man kann sich natürlich bei dem Mitschüler, den der Meister zu seinem Nachfolger erwählt hat, über schwierige Punkte Klarheit verschaffen. Was aber die innere Führung anbelangt, bleibt einzig der eigene Lehrer verantwortlich, auch wenn er nicht mehr im Körper lebt. Des Schülers ausschließliche Pflicht besteht darin, die von seinem Guru auferlegten Übungen durchzuführen, und es ist Sache des Meisters, sie mit Erfolg zu krönen. Hat Jesus nicht gesagt: “Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende”?

Und gab nicht Soamiji am letzten Tag seiner Mission auf Erden seinen Ergebenen die Versicherung:

“Habt keine Furcht. Ich bin für ewig bei jedem von euch, und der euch gegebene Schutz und die Fürsorge werden sogar größer sein als vorher”? 20)

 

 

Eine uralte Wissenschaft

 

Baba Jaimal Singh verkündete seine spirituelle Botschaft nicht als etwas Neues, sondern als eine uralte Wissenschaft. Ihre Spuren finden sich im Schrifttum aller Glaubensrichtungen, aber zu voller Blüte kam sie in der uns bekannten Geschichte erst durch Kabir und Guru Nanak. Die von ihm verfaßten Schriften lassen eindeutig erkennen, daß sie die innere Wissenschaft in der ganzen Reichweite verwirklicht haben. Die große Tradition, die diese Meisterseelen begründet haben, wurde von den Nachfolgern Guru Nanaks fortgesetzt und, wie wir schon an früherer Stelle dieser Untersuchung sahen, an Tulsi Sahib von Hathras und von ihm an Soamiji aus Agra weitergegeben, ehe sie mit Baba Jaimal Singh zum Punjab zurückkam.

Der Surat Shabd Yoga ist nicht einfach ein Glaube, sondern eine Wissenschaft. Er war über die Grenzen Indiens hinaus auch bei den größten Sufis bekannt, und historische Zeugnisse deuten darauf hin, daß sich beide Bewegungen in Indien und dem Mittleren Osten vielfach berührt und miteinander verbunden haben. Es war ein Pfad, der allen Menschen offenstand und für unsere Zeit am besten geeignet ist. Als Soamiji seine Botschaft verkündete, lehrte er nichts Neues.

 

 

Er tat dasselbe, was seine großen Vorgänger getan hatten: er erfüllte die alten Wahrheiten wieder mit Leben und erklärte sie neu für seine Zeit. Babaji widersprach strikt allen Vermutungen, sein Meister habe einen völlig neuen Pfad entdeckt, wie es einige Leute später wissen wollten. Hatte er nach

Darlegung seiner Lehre im Sar Bachan nicht selbst erklärt:

 

                  Jo mun maen pateet na dekhe

                 To Kabir, Gur Bani Pekhe,

                 Tulsi Sahib ka mat Joi,

                 Paltu, Jagjivan kahen soi.

                 In santan ka daeon parmana

                 In ki Bani sakh bakhana.

 

                    Wer diese Tatsache nicht erkennen kann,

                 möge die Lehren Kabirs und der Sikh-Gurus studieren.

                 Auch Tulsi Sahib hat diese Wahrheiten bekundet;

                 Ebenso wurden sie von Paltu und Jagjiwan aufgezeigt. Ich weise die Skeptiker

                 auf die Zeugnisse solcher Mystiker hin, denn ihre Lehren stimmen mit dem

                 überein, was ich sage. 21)

 

Und hat er seinen Ansprachen nicht häufig die Schriften Kabirs, Tulsi Sahibs, Bhikhas und besonders Guru Nanaks zugrunde gelegt?

Jede Annahme, daß Soamiji, während er in den Fußstapfen seiner Vorgänger begonnen hatte, nach 1858-61 plötzlich zu irgendwelchen höheren Bereichen aufgestiegen sei, die keiner vor ihm gekannt habe, könnte bestenfalls nur eine falsche Vorstellung von ihm geben. Seine Verse waren die Frucht der letzten Lebensjahre, und in ihnen hat er, verbunden mit der Feststellung, daß der Satguru und Sat Purush dasselbe sind, erklärt:

 

                  Sewa kar puja kar un ki,

                 Unhi ko Guru Nanak jan,

                 Vohi Kabir Vohi Satnama

                  Sab santan ko vohi pahchan.

                  Tera kaj unhi se hoga,

                  Mat bhatke zu taj abhiman.

 

                     Diene dem Guru und verehre ihn,

                  denn er ist Nanak, Kabir ist auch

                  in ihm und ebenso Sat Naam.

                  Fürwahr, jeder Heilige ist die verkörperte

                  Form des Formlosen.

                  Deine Befreiung wird durch ihn

                  und ihn allein bewirkt.

 

Wie konnte man im Lichte dieser aufgezeichneten Darlegungen – nicht zu sprechen von dem, was Soamiji seien Schülern direkt sagte – so fehlgehen zu behaupten, er habe eine neue Entdeckung gemacht?

Wie Babaji betonte, hat der Heilige von Agra entgegen dem, was später (ungefähr zehn Jahre nach seinem Tod) verbreitet wurde, seine Schüler immer in den Simran des Panch Shabd initiiert. Dies war in der Tat der Hauptgrund für die Meinungsverschiedenheit, deretwegen Babaji im Jahre 1902 nicht bereit war, dem Zentralrat Soamibagh beizutreten.

Er erklärte, daß die größten Heiligen der Vergangenheit ihre Schüler auf  den Pfad des Panch Shabd gestellt hätten, was eindeutig aus ihren Schriften hervorgeht:

          

 

                     Kabir ist durch die Mittlerschaft der fünf Wort nun für

                immer mit dem Schweigen des Formlosen vereint:

                                                                                                     Kabir

 

 

                      Erkenne ihn als den wahren Meister,

                der in dir den Weg zurück zu Gott

                offenbaren kann und dich mit dem

                lauten Ruf der fünf Töne

                auf dem spirituellen Pfad leitet.

                                                                          Guru Nanak,  War  M.  1

 

 

                       Ohne den Satguru kann man das Geheimnis von Naam

                 nicht finden. Süß ist das Elixier von Shabd, das durch den

                 Simran der fünf Worte strömt.

                                                                  Guru Amar Das,  Maru  M.  3

 

                        Wahrlich gesegnet ist, wer durch die Gnade des Meisters die

                 ewige Melodie der fünf Töne entfaltet.

                                                               Guru Arjan, Ramkali  M.  5

 

 

Ebenso bezieht sich Tulsi Sahib in seine Schriften ausdrücklich darauf.

Soamiji achtete und verehrte sie und beschritt den gleichen Pfad. Im Sar Bachan brachte er an einer Stelle klar zum Ausdruck:

 

 

                        Panch Shabd ka Simran karo

                   Siam set main surat dharo.

 

                        Wiederhole unaufhörlich die fünf heiligen Worte und kon-

                    zentriere dich auf die dunkle Stelle im Innern.

 

 

Als Soamiji den Begriff Radhasoami zu verwenden begann, den sein ergebener und geliebter Schüler Rai Saligram eingeführt hatte, begründete er deswegen keinen neuen Glauben oder ein neues Bekenntnis, wie Babaji versicherte. Er ließ diese Worte als einen weiteren Namen für den Unnennbaren Unendlichen gelten und erklärte, daß er auf der äußeren Ebene den Schüler (Radha) und den Guru (Soami) bedeute und auf der inneren Ebene den Seelenstrom (Radha) und seinen Ursprung (Soami). Als es Baba Sawan Singh Ji 1894 in Murree ablehnte, dieses neue Wort zu gebrauchen, nahm Babaji, wie wir bereits wissen, den Sar Bachan zur Hand und las daraus die Verse:

 

                       Radha aad Surat naam

                    Soami aad Shabd nij dham.

 

                          Radha ist der Name des ursprünglichen Seelenstroms (Suart);

                    Soami ist der Name des Ursprungs von Shabd oder dem Wort.

 

Er legte dar, daß der Absolute in Seiner höchsten Form formlos und unbeschreiblich sei; doch hätten ihm die Heiligen, in dem Bestreben, ihre Schüler auf Ihn hinzuweisen, zahllose Namen gegeben.

Hatten nicht die Verfasser des Vishnu Sahasranama und des Jap Sahib Hunderte Namen für den Allbarmherzigen Schöpfer geprägt? Weshalb sollte man gegen die Bezeichnung “Radhasoami” etwas einzuwenden haben?

 

Auf die Wirklichkeit, die Soamiji durch den Begriff “Radhasoami” zu benennen suchte, deuteten seine Vorgänger mit andern Namen hin, wie Khasam oder Soami (Höchster Herr). Maha Dayal (alle Gnade), Nirale (der Geheimnisvolle), Nirankar (der Formlose) und Anami (der Namenlose),

So sagte Kabir einmal:

 

                           Kal Akal Khasam ka keena

                        Eh parpanch badhawan.

 

                            Das Zeichen und das Zeitlose haben dieselbe Quelle und

                         sind für seine Offenbarung wesentlich.

 

 

Guru Nanak sagte:

 

                            Kot Brahmand ka thakur Soami

                          Sarabh jian ka data reh.

 

                             Soami ist der Herr der ganzen Schöpfung und der Meister

                           aller Seelen.

 

 

Tulsi Sahib sprach auf ähnliche Weise:

 

 

                              Sab ki aad kahun main Soami.

 

                              Ich nenne den Schöpfer alles Seienden “Soami”.   

 

 

Soamiji selbst hat wie sein Meister die höchste Wirklichkeit als “Soami” öfter noch als “Sahib Soami” und “Satguru Soami” angerufen. Er benutzte diese Begriffe häufig in seinen Reden und Briefen, mehr als das Wort “Radhasoami”. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie auch in seiner ursprünglichen Versdichtung vorkamen, aber um der Einheitlichkeit willen durch die Bezeichnung “Radhasoami” ersetzt wurden, als diese Gedichte etwa sechs Jahre nach seinem Tode mit vielen anderen von Hazur Maharaj Rai Saligram in dem mit Sar Bachan betitelten Sammelband (Versfassung) erschienen, worin das Wort “Radhasoami” entweder für das höchste Ziel – Soami oder Anami – oder für den Guru verwendet wird. Soweit war Babaji einverstanden, jedoch nicht darüber hinaus. Er achtete den Begriff “Radhasoami” wie jeden anderen Versuch, den Namenlosen zu benennen, konnte aber die besondere mystische Bedeutung, die ihm nach Soamijis Tod allmählich gegeben wurde, nicht anerkennen. Hatte doch der Heilige aus Agra selbst im Bachan 115, Teil II des Sar Bachan (Prosafassung) gesagt:

 

                               Naam ist von zweierlei Art: Varanatmak und Dhunatmak.

                               Zahllos sind die Vorteile von Dhunatmak Naam und kaum

                               nennenswert die von Varanatmak Naam.  22)

 

Alle Namen, die man sprachlich ausdrücken kann, sind Varanatmak und darum äußerlich, der Veränderung von Mensch zu Mensch und von Volk zu Volk unterworfen. Der innere Shabd ist zu allen Zeiten und für alle Menschen derselbe.        

                  

 

 

Er ist ganz melodischer Natur, nicht durch Worte auszudrücken oder zu beschreiben. Er ist der Ursprung aller Schöpfung und daher der einzige Gegenstand für die Meditation des Suchers.

Jedes Wort, das sich dem menschlichen Denken eingeprägt hat, scheint in diesem Tonprinzip widerzuklingen. Babaji, der dem Geist eines großen Meister treu blieb, erklärte unbeirrt:

“Jedes Wort, das sich aussprechen und schreiben läßt, kann kein innerer spiritueller Ton sein, der das ungesprochene und ungeschriebene Gesetz und die Ordnung der ganzen Schöpfung ist.” Wie sollte also das Wort “Radhasoami” Dhunatmak sein, wenn es sprachlich zum Ausdruck kommt; und wie kann man von ihm sagen, daß es in der höchsten spirituellen Ebene “erklingt”, wo es gar keine Form gibt und selbst Shabd noch nicht offenbart ist?

Sein Meister, so erklärte Babaji, habe immer vertreten, daß seine Lehren dieselben wie die von Kabir und Guru Nanak seien, und nie den Anspruch erhoben, in Bereiche gelangt zu sein, die vor ihm noch keiner in der menschlichen Geschichte gekannt habe. Hatten nicht die größten Mystiker der Vergangenheit klar bezeugt, daß ihnen alle acht der inneren Ebenen zugänglich waren? Und konnte man nicht bei Nanak lesen:

 

                          Sat Lok  ke oopar dhave

                       Alakh, Agam ki tab gat pave 

                       Tis ke oopar Santan dham

                       Nanak das kio bisram.

 

                          Nur wer Sat Lok überschreitet, kennt das Wesen von Agam

                       und Alakh.

                       Die Heiligen haben ihre Stätte jenseits davon, und auch der geringe Nanak weilt dort.

 

 

Soamijis letzte Worte ließen nicht den geringsten Zweifel daran, daß er an dem traditionellen Pfad festgehalten hat. Er machte deutlich, daß er nichts mit dem Kult entwickelten “Radhasoami” zu tun hatte. Sein Pfad war der von Sat Naam und Anami, und wenn er die Bezeichnung “Radhasoami” gelten ließ, so nur als einen weiteren Varanatmak-Namen für den Unnennbaren Einen.

Alle Namen, wie Sat Naam, Onkar usw., die als Simran gegeben wurden, sind gleicherweise Varanatmak. Ihr einziger Zweck ist: a) beim Zustandekommen von Dhyan oder der zielbewußten Konzentration zu helfen und  b) als Paßworte zu dienen, mit denen man von einer Ebene zur anderen gelangen kann. Die Aufgabe der Seele (und des Satguru) ist, die fünfte Ebene, Sat Lok, zu erreichen, und dazu sind diese fünf Paßworte, eines für jeden Bereich, notwendig. Wenn sich die Seele einmal in die Region des reinen Geistes erhoben hat, sind keine Paßworte mehr erforderlich. So wie sie den Sat Purush, die Gottheit von Sat Lok oder Sach Khand erblickt, die erste Offenbarung des Formlosen und Namenlosen in Naam und Form, erkennt sie, daß Er (der Sat Purush) und der Satguru nicht verschieden, sondern ein und derselbe sind und daß auch sie mit ihnen wesenseins ist. Ihre Suche nach dem Absoluten ist nunmehr zu Ende, und sie beginnt mit ihm eins zu werden. Indem sie immer tiefer von der Form ins Formlose eindringt, gelangt sie durch Alakh (das Unbeschreibliche) und Agam (das Unfaßbare), bis sie sich schließlich selbst verliert im Meer der Glückseligkeit und des Bewußtseins, daß die höchste Wirklichkeit jenseits von Name und Form ist, unaussprechlich, makellos, unbe-

schreiblich und unermeßlich. Sie ist, was sie ist; mehr kann über sie nicht gesagt werden. Als einziges bleibe zu beschreiben, was sie nicht ist. Sie ist weder Licht noch Dunkel, weder Laut noch Stille. Man kann nicht einmal sagen, daß Shabd dort erklingt, da Shabd noch nicht offenbart wurde; und zu erklären, man könne dort die melodischen Vibrationen von “Radhasoami” hören, ist ein Wider-

spruch in sich selbst.

Alle früheren Adepten des Surat Shabd Yoga haben es so gelehrt. Wer immer ihre Schriften aufmerksam studiert, kann feststellen, daß sie alle den Zugang zur fünften Ebene als das Ziel betrachten, das der Schüler wie auch der Guru erreichen müssen. Um dorthin zu kommen, ist der

 

 

Simran der fünf heiligen Namen unerläßlich; und wenn sich die Seele bis Sat Lok erhoben hat, bleibt es die Aufgabe des Sat Purush, sie mit sich zu vereinen und zu gewähren, daß sie immer weiter im Formlosen und Namenlosen aufgeht. Es sind diese beiden Entwicklungsstufen, die Soamiji hervorhob, wenn er sagte:” Mein Pfad ist der Pfad von Sat Naam und Anami Naam”. Am Ende von Bachan 26 des Sar Bachan (Versfassung), worin er die Ankunft der Seele in Sat Lok und ihre weitere Reise beschreibt, hat er den ganzen Weg sehr klar und über jeden Zweifel erhaben dargelegt:

 

                    Pushap madh sae uthi avaza

                 Kau tum hoe kaho kaja

               Satgur milae bhed sub dina

                 Tis ki kripa daras hum lina

                 Darshan kar ut kar magnani

                 Sat Purush tub bola bani

                 Alakh lok ka bhed sunaya

                 Bal upna dae surat pathaya

                 Alakh Purush ka roop anoopa

                 Agam Purush nirkha kul bhoopa

                 Dekh acharaj kaha na jaya

                 Kaya kaya sobha varan paye

 

   

                    Vom Lotos erhob sich eine Stimme:

                 “Sprich, wer bist du, und was bringt dich hierher?”

                 “Mein Satguru gab mir den Schlüssel

                 zu diesem Reich, und durch seine Gnade

                 bin ich mit deinem Darshan gesegnet.”

                 Den Herrn schauend, ward sie entrückt.

                 Sodann sprach der Sat Purush und gab ihr

                 die Geheimnisse von Alakh Lokh preis;

                 Durch Seine Kraft erhob sie sich weiter.

                 Die Form von Alakh Purush ist unbeschreiblich.

                 Der wunderbare Anblick von Agam Purush,

                 des Herrn aller Schöpfungen, läßt sich nicht

                 schildern, und Seine Herrlichkeit nicht

                 in Worte fassen.

 

 

Babaji hielt streng an den ursprünglichen Lehren seines Meisters fest und versicherte seinen Schülern, sie würden, wenn sie nach seinen Weisungen lebten, ganz sicher “Sach Khand erreichen und über Alakh, Agam und Anami Radhasoami hinaus mit der Wunderbaren Region eins werden.” In der Vergangenheit waren die Heiligen mit Hilfe der fünf Namen zur höchsten Stufe gelangt, warum sollte man sie also nun ändern? Wozu Soamijis Botschaft entstellen, um lediglich einen neuen Kult einzuführen? Der Surat Shabd Yoga war eine uralte Wissenschaft und hatte sich nicht über Nacht verändert. Am Tag vor seinem Weggang rief Babaji alle seine Schüler, die damals in Beas waren, zusammen und erklärte: “Es ist der Wille von Din Dayal Soami Ji Maharaj, daß ich die Tore des spirituellen Schatzhauses noch weiter öffne als bisher. Mein Meister wünscht, daß ich euch ausführlicher als je zuvor einen Bericht über die inneren Bereiche gebe, von den ersten fünf und den letzten drei, damit ihr nicht in Zweifel geratet und sagt, daß einer, der in Soamijis Gunst stand, schweigend gegangen sei.” Er sprach dann ausführlich über die Herrlichkeit der inneren Welten und endete mit den Worten, die wir bereits am Schluß der Biographie zitiert haben:

“Mein ganzes Leben suchte ich nur, meinem Meister zu dienen und nun ist alle Arbeit, die er durch diesen armseligen physischen Körper zu vollbringen hatte, getan.” Es ist unmöglich die äußeren Lehren eines großen Menschen als bloße Worte zu betrachten.

 

 

Die Aufgabe wird doppelt schwierig bei einem Heiligen vom Rang Baba Jaimal Singh Jis.

Solche Geistwesen sprechen aus einer Weisheit, die wir nicht verstehen könen; sie handeln nicht als begrenzte Menschen, sondern als Mittler des Herrn.

 

                Jaisi maen aavae Khasam ki bani

              Taisra kari gian wey Lalo.

 

                  Was mein Herr in mir spricht,

               o Lalo, das allein sage ich.

                                                                            Guru Nanak,

                                                                            Tilang M.1, 722

 

 

Ihre Botschaft lebt in jedem kleinen Wort, das sie aussprechen, und in jeder kleinen Geste.

Die abstrakte Darstellung ihrerPhilosophie ist nur das Knochengerüst und die Knorpel, denen das Fleisch und das Blut der unmittelbaren Einwirkung auf ihre Schüler gänzlich fehlt. Wer kann sich heute jene Worte der Weisheit, des Friedens, des Trostes, der Beruhigung und liebevollen Zurechtweisung vergegenwärtigen, die Babaji sprach, als er unter seinen Schülern weilte?

Und wer kann nun von den kleinen Werken selbstloser Güte und übermenschlicher Liebe berichten, durch die jene, die ihn umgaben, unbewußt von der Wahrheit dessen, was der Geist lehrte, völlig überzeugt wurden? Wenn je ein Problem aufkam, das nicht gelöst werden konnte, saß er in Meditation versunken. Und kehrte er dann von den inneren Ebenen zurück, brachte er die Antwort mit. Doch all das ist, mit Ausnahme ein paar kurzer, niedergeschriebener Briefe, für immer verloren; der ausgesprochene Sinn und der unausgesprochene, der sich durch die Augen mitteilte, die beratenden Worte an den nie endenden Strom von Schülern und Suchern in jeder nur denkbaren Angelegenheit sind unwiderruflich dahin. Wir können nur das Äußere, das Gerippe, geben und überlassen das übrige dem Leser. Um sie besser und leichter in die Erinnerung zurückzurufen, fassen wir hier einige Grundzüge seiner Botschaft zusammen, welche die älteste und doch in seinen wie in den Händen jedes großen Heiligen die neueste und lebendigste ist.

 

 

Der Surat Shabd Yoga

 

Er ist die höchste Form des Yoga, der die Seele zu ihrem wahren Ursprung zurückbringt, zum Ursprung allen Lebens und alles Erschaffenen, dem formlosen und namenlosen Anami.

Es ist der einfachste und schnellste Weg und kann von allen – Jungen und Alten, Kindern und Frauen, Familienvätern und Ledigen praktiziert werden. Er ist in der Tat der für unsere Zeit geeignetste Yoga, während andere Methoden sehr langwierig und anspruchsvoll, ja kaum durchführbar sind. Es unterlief ihm kein Fehler, als Soamiji an seinem letzten Tag auf Erden sagt: “In diesem Yuga (Zeitzyklus) kann nichts anderes helfen als die Hingabe an einen wahren Meister und die Praxis von Naam.” 23)

 

 

Der Satguru oder der wahre Meister

 

Es ist eine Verkörperung des Sat Purush in menschlicher Gestalt, mit dem er eins wurde.

“Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.” Ohne die wirksame Hilfe eines solchen lebenden Meisters ist nichts zu erreichen. Frühere Meister mögen ihre Zeitgenossen über das Meer des Lebens gebracht haben, aber uns können sie nicht viel nützen. Die Verbindung mit dem Shabd Guru muß immer durch seine lebende Offenbarung hergestellt werden. Der einzige unfehlbare Prüfstein für die Kompetenz auf diesem Gebiet ist die Fähigkeit des Satguru, einer Ersthand-Erfahrung zu geben, die dann weiter entwickelt werden kann.

 

Wenn man einmal einen wahren Meister gefunden hat, sollte man sich auf die innere Schulung konzentrieren. Seine Führung ist immer da und hört dann auch nicht auf, wenn er die physische Ebene verlassen hat.

 

 

Der Gurmukh oder der echte Schüler

 

 

Hat man nach Beseitigung aller Zweifel einen wahren Meister gefunden, muß man nach dem Ideal eines vollkommenen Schülers leben. Und was heißt es, ein vollkommener Schüler zu sein? Es bedeutet, vollen Glauben in den Satguru zu haben, indem man seine Weisheit und Autorität nie in Frage stellt. Ferner muß man immer, bei der Arbeit oder während der Freiheit, in die Liebe zu ihm vertieft sein, denn nur eine solche Liebe kann das Herz von den unvollkommenen Neigungen der Welt reinigen. Sind dieser Glaube und diese Liebe gegeben, muß man nach besten Kräften seine Anweisungen befolgen: “Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote.” Wenn ein Schüler diese Eigen-

schaften entwickelt und sich ganz dem Willen des Satguru unterwirft, wird er frei von weltlichen Wünschen und ein geeignetes Gefäß für Shabd Dhun. Die Gnade und Großmut des Meisters werden auf ihn herabkommen wie eine Flut, die die inneren Schleusentore öffnet und alle Hindernisse beseitigt.

 

 

Das Äußere und das Innere

 

Der Weg zur Erlösung liegt nicht außen, sondern innen. Äußere Rituale sind ohne Nutzen, und wenn-

gleich es wünschenswert ist, der früheren Meister in Ehrfurcht zu gedenken, kann es jedoch nicht wirklich helfen, wenn man sich in der Verehrung ihrer Samadhs (Grabmäler), Statuen und Bilder verliert. Man muß sich ihre Leben zum Vorbild nehmen und sich wie sie auf die innere Welt konzentrieren. Babaji selbst verbrachte Wochen in Bhajan und Simran, mit nur kurzen Unterbrechungen, um Nahrung zu sich zu nehmen. Er hielt seine Schüler immer dazu an, soviel Zeit wie irgend möglich den spirituellen Übungen zu widmen, die er sie gelehrt hatte. Das ständige Gedenken des Herrn ist der beste Schutz gegen Verhaftetsein und Maya, und man sollte den fünffältigen Simran zu jeder Zeit üben. Nicht weniger wichtig ist Bhajan, was eine größere Konzentration der Aufmerksamkeit erfordert. Was immer kommen mag und wie sehr der Schüler mit äußeren Pflichten beschäftigt ist, er muß täglich eine Zeit für Bhajan finden, und sei es noch so wenig.

Nur wenn man die Verbindung mit Shabd aufrecht erhält, kann man alles erreichen, und wenn der Schüler dieses Bindeglied durch ständige Übung verstärkt hat, wird die innere Musik unaufhörlich zu jeder Tageszeit hereinströmen, zum lauten Ruf werden und ihn geschickt, wie ein Seidenkleid, von den Dornen irdischer Wünsche befreien.

Mit anderen Worten, Babaji lehrte die Spiritualität als eine innere Schulung, die nichts Sektiererisches an sich hatte und allen zugänglich war. Er betonte immer, daß es dabei nicht um äußere Formen und Glaubensrichtungen gehe, sondern ausschließlich um die innere Reinigung und Praxis. Wer einen wahren Meister findet und sich zu einem fähigen Schüler entwickelt, der zuverlässig an den Übungen, die ihn gelehrt wurden, festhält, wird mit Sicherheit früher oder später Sat Lok erreichen. Die Aufgabe des Satguru ist es, die Seele zum Sat Purush zu bringen, bei dessen Anblick sie sich als wesenseins mit Ihm erkennt und sieht, daß der Satguru und der Höchste Herr eins und unteilbar sind. Dort geht sie in Sat Naam auf, mit dessen Hilfe sie weiter in Alakh, Agam und Anami (oder Radhasoami) eindringt und selbst in die Wunderbare Region darüber, wie aus einem Brief Babajis (abgedruckt in den Spirituals Gems) zu entnehmen ist. Jede dieser Stufen bedeutet einen weiteren Schritt der Vertiefung der Seele aus Naam und Form in den Namenlosen und Formlosen, das letzte Ziel, das jenseits aller Formen von Licht und Ton liegt und sich darum unmöglich in Worten der menschlichen Erfahrung beschreiben läßt.

 

 

Man kann auf diesem Pfad ungeachtet seines sozialen und religiösen Hintergrundes Erfolg haben.

Den Anweisungen Soamijis getreu, suchte Babaji die Spiritualität auf eine Weise zu erklären, die sie von Sektierertum möglichst freihielt. Er hob viele der äußeren Praktiken aus früherer Zeit auf, darunter besonders Bhaint oder Gaben für den Guru, und überließ es ganz den Wünschen des Schülers, zur Deckung der laufenden Ausgaben des Satsang beizutragen. Auch unterstützte er keine besonderen Begrüßungsformen als Ausdruck der Verehrung, die leicht zum Kennzeichen einer neuen Glaubensrichtung werden können. Als er einmal in Murree war, wies Bibi Rukko (unter dem Einfluß eines kurz vorher in Agar gemachten Besuches) die Satsangis an, Babaji bei seiner Rückkehr mit dem Wort “Radhasoami” zu begrüßen. Babaji war alles andere als erfreut darüber und mahnte sie:

“Seht zu, daß ihr in Zukunft diesen Fehler nicht wiederholt. Wir Geistwesen kommen nicht, um neue Sekten und Bekenntnisse zu schaffen. Wir sind hier, um alle Unterschiede aufzuheben. Wozu diese einfachen Leute mit solchen äußeren Schlagworten verwirren? Meine Aufgabe ist es, sie nach innen zu bringen. Darum laß sie mich nach den Bräuchen ihrer jeweiligen Gemeinschaft grüßen.” Wie wir schon gesehen haben, hatte er einen Kern Moslem-Schülern, bei denen er nie das Gefühl aufkommen ließ, daß sie ihrer eigenen Religion in irgendeiner Weise zu entsagen hätten. Es war nur ein Wissensgebiet wie Mathematik oder Astronomie, das Menschen in aller Welt studieren und meistern können. Was er sie lehrte, waren genau dieselben Wahrheiten, die die größten Sufis wie Jalal-du-Din Rumi, Hafiz, Shamas-i-Tabrez oder Inayat Khan ihren Schülern verkündet hatten.

Diese Aufgabe wurde durch Babajis spirituellen Sohn, Hazoor Sawan Singh Ji, weitergeführt. In der Zeit seines Wirkens vergrößerte sich der Satsang ungeheuer, womit sich Babajis Vorhersage erfüllte.

Die Botschaft des großen Meisters wurde über Länder und Meere getragen, und Menschen aller Glaubensrichtungen suchten in seiner Herde Zuflucht. In Übereinstimmung mit dieser neuen Entwicklung und um dem geistigen Wandel der Zeit gerecht zu werden, begann Hazoor Sawan Singh Ji die zeitlose Botschaft als eine innere Wissenschaft darzulegen. Das äußere Ritual wurde immer mehr fallengelassen und Praktiken wie Charan-amrit, Mukh-amrit oder Arti ganz abgeschafft. Wie Babaji war er immer geneigt, mit geistigen Führern aller Glaubensrichtungen zusammenzukommen.

Dr. Johnson, einer seiner amerikanischen Schüler, berichtet von ihm in seinen Aufzeichnungen “With a Great Master in India”, daß er überall, wo er hinkam, die heiligen Stätten der verschiedenen Glaubensrichtungen aufgesucht habe.

Die wissenschaftliche Tendenz hat sich weiter verstärkt, und die Menschen sind nicht länger bereit, die Spiritualität wie in früheren Tagen als eine Sache ergebenen Glaubens anzunehmen.

“Wir müssen überzeugt sein”, sagen sie, “wir müssen Beweise haben. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, blindlings zu tun, was unsere Vorfahren taten.”

Um sich dieser Entwicklung anzupassen, hat der Ruhani Satsang in Delhi in Übereinstimmung mit den Wünschen Hazoor Sawan Singh Jis die letzten Spuren eines Rituals beseitigt. Es werden nicht einmal Fotografien des lebenden Meisters aufgestellt. Von allem äußeren Ballast befreit, erweist sich die Spiritualität als eine Wissenschaft, die genauso exakt und nachprüfbar in ihren Ergebnissen ist wie jede andere. Mögen alle Sucher diese Wissenschaft aufnehmen und im Laboratorium der Seele die nötigen Vorbedingungen schaffen, dann werden sie – so sicher, wie der Tag der Nacht folgt – ins Reich Gottes gelangen.