Der Pfad der Befreiung

 

Wie kann man zu diesen geistigen Höhen gelangen? Gleich Kabir, Guru Nanak und Soamiji hat Babaji immer wieder nachdrücklich erklärt, daß äußere Praktiken von geringem Nutzen sind. Das Lesen der Schriften kann ein Interesse für die Spiritualität wecken, nicht aber an sich schon Befreiung sichern.

Mystische Literatur und religiöses Ritual sind in vieler Hinsicht nützlich: sie halten im Menschen das Bewußtsein aufrecht, daß es eine tiefere Wirklichkeit gibt als die im alltäglichen Leben gewohnte.

Aber dieser Wirklichkeit muß man durch praktische Wege näherkommen; sich in verstandesmäßige Probleme und Streitgespräche zu verlieren zieht nur die Kräfte vom wirklichen Pfad ab.

 

 

                Khasam na chinae bawr, ka karat barai,

              Batan bhagat na hohingay, chhoado chaturai.

 

 

                   “O Mensch, warum prahlst du mit deiner Größe,

               wenn du den Allmächtigen nicht erkannt hast?

               Gib deine intellektuellen Spitzfindigkeiten auf.”

 

                       

Kabir

 

 

                    Sakhi Shabd Sandes parh mat bhoolo ghai,

                Sant mata kuchh aur hai, khopa so pai.

 

 

                     Täusche dich nicht, indem du dich nur auf

                 das Lesen und Verfassen von Schriften be-

                 schränkst. Der Pfad der Meister ist anders.

                 Wer ihn wirklich erstrebt, der wird ihn finden.

 

                                                                                                      Kabir

 

 

Auch der Teufel kann Schriften zitieren, und Babaji erklärte, daß “religiöse Debatten und Auseinandersetzungen, Kastenstolz (Varnashram), äußere Verehrung, Wallfahrten, bloßes Vortragen aus den Schriften, Hingabe an Persönlichkeiten, die früher lebten, und andere Handlungen oder Schulungen” dieser Art alle “eine große Täuschung” seien, eine von Kal gestellte Falle, um die Seele in den Bereichen der Relativität festzuhalten. In gleicher Weise sind die äußeren Kriyas oder traditionellen Yoga-Praktiken – Pranayama, die verschiedenen Mudras und Asanas – ungeeignet, um zum wirklichen Ziel zu bringen. Wie sein Leben immer wieder bezeugt, hatte Babaji große Achtung vor gottergebenen Menschen jeden Standes und jeder Glaubensrichtung, aber er verlor nie das höchste Ideal des menschlichen Lebens aus den Augen und lebte nach der von Kabir verkündeten Einsicht:

 

 

               Sadh hamare sab barae apni apni thor,

               Shabd parkhu jo milae tis aagae sir mor.

 

                

                Alle Heiligen sind der Verehrung würdig,

                aber ich verehre nur einen, der das Wort

                gemeistert hat.

 

                                                                                                         Kabir

 

 

 

Er hatte in sehr frühen Jahren viele Yoga-Methoden erprobt, und immer wenn er über dieses Thema sprach, tat er es nicht auf der Grundlage akademischer Gelehrsamkeit, sondern als einer, der das, was er sagt, aus eigener praktischer Erfahrung weiß. Seine Worte hatten Überzeugungskraft, denn sie waren frei von jeglicher Voreingenommenheit.

 

 

Er erklärte einfach, daß er selbst alle diese Wege erkundet und den Pfad von Sant Mat oder den Surat Shabd Yoga als den höchsten herausgefunden habe. Er wußte viel von den übernatürlichen Kräften zu sagen, die durch Yoga-Übungen zu erlangen waren, aber sein einziger Prüfstein war: führten sie zur Beherrschung des Gemüts durch Befreiung von der Tyrannerei der Wünsche? Wenn ja, konnte man nichts dagegen sagen, wenn aber nicht (wie es gewöhnlich der Fall war), hatten sie kaum irgendeinen Nutzen. Als er sich 1894 in Murree aufhielt, ging er in Beantwortung vieler Fragen, die ihm Sawan Singh Ji gestellt hatte, ausführlich auf das Thema des vergleichenden Yoga ein und legte schließlich dar, wie Kabir und Nanak das Beste von ihren Vorgängern angenommen hatten, daß sie weit höher auf dem mystischen Pfad vorgedrungen waren und eine Methode zur Einswerdung mit dem Formlosen Absoluten entwickelt hatten, die in jedermanns Reichweite lag. Er zitierte des öfteren frühere Meister, um seinen Standpunkt zu erhärten, und führte insbesondere an, was sein eigener großer Guru dazu gesagt hatte:

 

                         Sant Mata sab se bara yeh nische kar jan

                         Sufi aur Vedanti donon neeche, man,

                         Sant Diwali nit karen Sat Lok ke mahin

                         Aur mate sab Kal ke yun he dhur urain.

 

 

                            Der Pfad der Meister ist allen anderen

                         weit überlegen; glaubt es in vollem Vertrauen.

                         Sufismus und Vedanta können euch bis zu

                         einer gewissen Stufe bringen, doch nicht

                         bis an das letzte Ziel.

                         Die Heiligen leben für ewig in der

                         Herrlichkeit des Höchsten.

                         Allen anderen Glaubensrichtungen und

                         Gemeinschaften gelingt es nicht, die

                         Bereiche der Relativität zu übersteigen.

                                                                                  Sar Bachan (Verfassung)

 

 

Was ist die Wissenschaft des Surat Shabd Yoga, welche die Krone mystischer Vollendung darstellt?

Es ist der Pfad, sagt Babaji, der die wenigsten Mühen erfordert und sich am meisten lohnt, will man zur Quelle allen Lebens und Lichts zurückgelangen. Sein Geheimnis liegt in der Erkenntnis, daß der Weg des Aufstiegs derselbe sein muß wie der des Abstiegs, wenn die Seele wieder eins werden soll mit dem Ursprung, von dem sie ausgegangen ist. Als der Namenlose Namen und Form annahm, offenbarte er sich in Shabd, Naam, Kalma oder dem Wort. Dieser spirituelle Strom, dessen erste Attribute Musik und Strahlung waren, ist für die ganze Schöpfung verantwortlich. In einem Brief vom 21. April 1903 schreibt Babaji:

 

                Alles hat sich durch Shabd offenbart – Ishwar

              (Gott als Erhalter der Welt), Jiva (die individuelle

              Seele), Maya (das Feinstoffliche und das Grob-

              stoffliche) und Brahmand (die physische, astrale und

              kausale Ebene) – durch seine Bewegung kam alles in Sein.

 

Alle Weisen haben, wenn auch nach ihrer jeweiligen Art verschieden, vom Wirken des Wortes oder

der Kraft von Naam Zeugnis abgelegt:

 

 

 

              Kun kae kehnae sae hoowa alam bapa.

 

              Durch den Ausdruck des Wortes

              kamen alle Dinge ins Sein. 

 

    Ebenso heißt es:

 

              Am Anfang war das Wort, und das Wort

              war bei Gott, und Gott war das Wort.

 

                                                                                                Joh. 1,1

 

Was die Meister des Surat Shabd Yoga über dieses Thema sagten, war nichts Neues. Sie legten nur besonderen Nachdruck auf den Gedanken, daß Shabd, wenn durch sein Wirken alles – selbst der Jiva Atman – offenbart wurde, das beste und einzige Mittel ist, um unseren Ausgangspunkt – Nirankar,

Nirgun, Anami und das Absolute – wiederzuerlangen.

Die Musik und die Glorie des Wortes breiten sich in der ganzen Schöpfung aus und durchdringen

unser Sein. Wenn der Atman nur mit ihm verbunden werden könnte, wäre er imstande, durch dieses “Band des namenlosen Herrn” seine Pforte zu erreichen. Aber bei ihrem Abstieg hat die Seele das Bindeglied gelöst und ihre wirkliche Natur vergessen. In die grobstofflichen Umhüllungen des Körpers und Gemüts verstrickt, hat sie ihre wahre Heimat aus den Augen verloren und sich mit ihrem Kerker identifiziert.

 

     In seinem Brief vom 15. Mai 1900 sagt Babaji:

 

Seit sich der Jiva Atman von Sach Khand (der wahren Heimat)

und von Shabd Dhun trennte, hat er seinen Glauben in den

Sat Purush (den Wahren Einen) und Shabd Dhun verloren.

Aber Shabd gibt ständig auf ihn acht, wenn er auch nichts davon

weiß, da er sich an Gemüt und Maya, die äußerst trügerischen

Objekte Mayas und der Sinne, fest gebunden hat. Er liebt sie so sehr,

daß er nicht erkennt, welcher Nachteil ihm daraus entsteht,

indem er für gut und zuträglich hält, was ihm in Wirklichkeit Schaden

bringt. Die Liebe zum Gemüt hat ihn unbewußt gemacht, und das Gemüt

wiederum ist durch die Sinnesfreuden empfindungslos geworden;

schließlich hat Maya einen solchen Zauber auf ihn ausgeübt, daß er sich mehr von seiner Ohnmacht erholen kann.



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