II EINE KURZE BIOGRAPHIE VON
BABAJI Die frühen Jahre Baba Jaimal Singh wurde 1838 in Ghuman, einem Dorf
im Distrikt Gurdaspur des Punjab, in einer Bauernfamilie frommer Sikhs geboren.
Ghuman war ein Dorf wie jedes andere in dieser Gegend. Wenn es sich in irdendeiner Weise von den anderen
unterschied, so nur durch eine heilige Stätte, die sich dort befand und die als
Dera Baba Namdev, der vor vielen Jahrhunderten in diesem Dorf seine letzten
Tage zugebracht hatte. Als der Heilige dorthin kam und in dem Tempel beten
wollte, wurde ihm, wie die Legende berichtet, der Zutritt verwehrt, weil er
nicht derselben Kaste angehörte. Davon unbeirrt, ging er zur Rückseite des
Tempels, setzte sich nieder und war bald in Samadhi versunken. Der Herr,
ungehalten über die Schmach, die seinem Jünger angetan wurde, wandte die
Vorderseite des Tempels dem Platz zu, an dem sich Namdev niedergelassen hatte;
worauf ihm alle Priester und Brahmanen zu Füßen fielen und um Vergebung baten.
Seit jenem Tag soll das Dorf den Namen “Ghuman” erhalten haben, ein
Punjabi-Wort, das “herumdrehen” bedeutet. Die Dorfbevölkerung besuchte die
heilige Stätte, um ihre Ergebenheit zu bekunden, und viele wandernde Sadhus
kamen zur Huldigung des großen Weisen dorthin. Bhai Jodh Singh und Bibi Daya Kaur,
die Eltern Jaimals, waren ebenfalls häufige Besucher, und seine Mutter betete
bei dieser Gelegenheit des öfteren um einen gottesfürchtigen Sohn. Große Seelen
kommen selten unangekündigt, und eines Nachts hatte Bibi Daya Kaur im Traum den
Besuch des großen Namdev, der sie wissen ließ, daß ihre Gebete erhört worden
seien; und zehn Monate später wurde Jaimal zur großen Freude der Familie und
unter häuslicher Festlichkeit geboren. Die Geschichte eines Heiligen ist die Geschichte von
der Pilgerfahrt einer Seele. Es ist ein Bericht, der, um spirituell vollständig
zu sein, unzählige Jahre und zahllose Lebensläufe umfaßt. Die letzte
Erleuchtung mag als eine plötzliche erscheinen, aber ihre vorbereitenden Stufen
sind mühsam und ziehen sich lange hin. Wie Buddha und Jesus zeigte Jaimal von
klein auf eine bemerkenswerte spirituelle Frühreife. Wenn er mit seinen Eltern die Stätte Baba Namdevs
besuchte, setzte er sich, ungleich anderen Kindern seines Alters, ruhig und
aufmerksam hin, und schon mit drei Jahren konnte er viele Verse aufsagen, die
er bei spirituellen Vorträgen gehört hatte. Die Dorfbewohner wunderten sich
über seine erstaunliche Begabung. Bald erhielt er den Kosenamen Bal-Sadh oder
“kleiner Heiliger”, und seine ländlichen Verehrer drängten die Eltern, ihm die
Möglichkeit einer guten Bildung zu geben. Als Jaimal fünf Jahre alt war, wurde er der Aufsicht
von Bhai Khem Das anvertraut, einem in der Nähe lebenden gelehrten Vedantisten.
Zu jener Zeit war die Erziehung in Indien keine Berufsausbildung. Sie war vor allem eine geistige und spirituelle
Schulung, die auf dem Studium der heiligen Schriften beruhte. Das Kind zeigte
eine große Befähigung dafür und beherrschte bald die Gurmukhi-Schrift.
Innerhalb eines Jahres hatte Jaimal den Punj Granthi, die fünf grundlegenden
Sikh-Schriften, sorgfältig gelesen, darunter das Jap Ji, den Sukhmani Sahib und
Raho Ras. In weiteren sechs Monaten kannte er die Hauptteile dieser
spirituellen Schätze auswendig, und im Alter von sieben Jahren war er zu einem
ausgezeichneten Pathi herangewachsen oder einem, der die Schriften auf
melodische Weise mit berufener Meisterschaft vortragen konnte. Das Jahr darauf
galt dem Studium des Dasam Granth, der vom letzten Sikh-Guru zusammengetragenen
Schriften. Jaimal zeigte große Achtung für seinen Lehrer, der über den Fleiß
und den raschen Fortschritt des Jungen sehr erfreut war. Die beiden verbrachten
viele Stunden zusammen, und Jaimal hörte Bhai Khem Das mit großer
Aufmerksamkeit zu. Sein Wissensdurst war nicht zu stillen, und das Lesen der
Schriften feuerte seine
Vorstellungskraft noch mehr an. Eines Tages nahm er das Jap Ji zur Hand und
begann daraus die zwanzigste Strophe vorzutragen. Nachdem er geendet hatte,
wandete er sich an seinen Lehrer und fragte: “Herr, was bedeutet Naam, von dem
Guru Nanak sagte: <Ist das Gemüt durch die Sünden unrein geworden, kann es
nur durch die Verbindung mit Naam wieder rein werden> und das alle anderen
Großen im übrigen Granth Sahib mit solchen Lobpreisungen besungen haben?” Khem
Das war von dem forschenden und unterscheidenden Geist seines Schülers sehr
beeindruckt, jedoch nicht in der Lage, ihm in diesem Punkt Auskunft zu geben,
weil er selbst mit dem Geheimnis von Naam nicht vertraut war. Einen Tag später, als Bhai Jodh Singh sah, daß sein
nunmehr achtjähriger Sohn alt genug war, ihm zu helfen, ging er in der
traditionellen Kleidung und mit einem Silberstück als Gabe zu seinem Lehrer.
Nachdem er ihm dieses zu Füßen gelegt hatte, bat er darum, Jaimal von seinen
Studien zu befreien, damit dieser seine Ziegenherde hüten könne. Khem Das erhob
keinen Einspruch: “Er ist Euer Sohn, und ihr mögt über ihn verfügen, wie ihr es
für richtig haltet.” Aber sein Schützling konnte ihm nicht so einfach Lebewohl
sagen. “Herr”, versicherte er, “ich werde den ganzen Tag für meinen Vater
arbeiten, aber abends werde ich zu Euch kommen, um die Studien fortzusetzen.” Jaimal blieb seinem Wort treu und hielt die Gemeinschaft mit seinem kundigen Lehrer ununterbrochen aufrecht. Stolz auf die Beharrlichkeit und Frömmigkeit seines Schülers, führte ihn Khem Das in den Japa des Sohang ein, den er selbst übte. Lange vor Tagesanbruch stand der Junge auf, nahm ein Bad, las in den heiligen Schriften und setzte sich zur Meditation. Danach führte er seine Ziegen auf die Weide. Seine jungen Freunde bemerkten bald, daß er, während die Ziegen auf der Wiese grasten, nicht müßig war, sondern heilige Texte las und aufsagte und oftmals mit bekreuzten Beinen dasaß und meditierte. Bei Sonnenuntergang kehrte er mit seiner Herde zurück, nahm etwas Milch und andere Nahrung zu sich, um danach zu seinem Lehrer zu gehen. Dort saß er aufmerksam und lernte, wie die Schriften zu lesen und darzulegen waren. Als er den Granth Sahib gemeistert hatte, lernte er im Alter von neun Jahren Hindi und nahm das Studium der Hindu-Schriften auf. Nach dieser Arbeit besuchte er die heilige Stätte von Namdev und kehrte erst spät in der Nacht heim. Wenn er abends fort war, saß er oft in Meditation versunken, und dies so sehr, daß er einmal eine ganze Nacht meditierte und seine Eltern aufgeregt im ganzen Dorf nach ihm suchten. Dieses intensive Streben blieb nicht unbelohnt, und einmal erzählte der Junge seinem Lehrer, daß er Sterne und den Mond im Innern sehe und das Aufblitzen eines Lichts - die erste spirituelle Erfahrung der Mystiker-Seele. Bhai Jodh Singh war weit davon entfernt, mit den
unweltlichen Wegen seines ältesten Sohnes zufrieden zu sein. Wie religiös
gesinnt ein Mensch auch immer sein mag, so ist er doch selten glücklich, wenn
er sieht, daß sich sein Sohn zu einem Entsagenden entwickelt. Jaimal wuchs
heran, aber statt an den familiären Dingen Interesse zu haben, gingen seine
Bestrebungen in die entgegengesetzte Richtung. Er brachte nicht nur einen großen Teil seiner Zeit
mit dem Studium der heiligen Schriften, dem Ausüben spiritueller Praktiken und
den Besuchen bei seinem Lehrer Bhai Khem Das zu, sondern verweilte auch viele
Stunden in der Gemeinschaft von Sadhus und frommen Menschen, die ins Dorf
kamen, um die heilige Stätte von Namdev zu ehren. Da der Vater den Wunsch
hatte, den unmäßigen religiösen Hang seines Sohnes einzudämmen, hielt er es für
das Beste, ihn von Ghuman und den wandernden Sadhus wegzuschicken. So kam er im
Alter von elf Jahren und acht Monaten in das Haus einer seiner beiden
Schwestern namens Bibi Tabo, die in dem Dorf Sathyala wohnte. Jaimal lebte weiter nach seiner alten Gewohnheit; er
kam den religiösen Übungen nach und führte die Ziegen auf die Weide. Viele
Monate vergingen auf diese Weise, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete.
Doch eines Tages, als er seiner Herde folgte, begegnete er einem Yogi, der
soeben in das Dorf gekommen war. Glücklich über die Gesellschaft des heiligen
Mannes verneigte er sich ehrerbietig, melkte seine Ziegen und bot dem Yogi von
der Milch an. Der Mann im safranfarbenen Kleid war berührt von der Frömmigkeit
des Jungen und begann ihm Fragen zu stellen. Jaimal erzählte ihm von den
Schriften, die er gelesen, und dem starken Verlangen nach Erleuchtung, das sie
in ihm entfacht hatten. Der Yogi war sehr erfreut über diesen Bericht und
erbot sich, Jaimal zu schulen. Er sagte ihm offen, daß er über das Geheimnis
von Naam wenig wisse, ihm aber gern vermitteln wolle, was er selbst
praktiziere. So ging Jaimal, wie ihm geheißen wurde, am nächsten Morgen, ohne
etwas gegessen zu haben, zu seinem neu entdeckten Lehrer, um von ihm eingeführt
zu werden. Der Yogi war ein Adept in Pranayama und enthüllte dem jungen Schüler
seine Geheimnisse. Da er nun einen spirituellen Führer gefunden hatte,
war Jaimal wieder für die Welt verloren. Seine alte heilige Gleichgültigkeit
gegenüber Familienbanden und weltlichen Angelegenheiten zeigte sich nun eher
doppelt so stark. Oft saß er drei Stunden hintereinander in Meditation. Der
Yogi, dem seine Hingabe gefiel, blieb weiter im Dorf, und Jaimal war meist in
seiner Gesellschaft zu finden. Diese Entwicklung der Dinge bereitete seiner
Schwester viel Kummer, und von Sorge getrieben, gab sie dem Vater schließlich
Nachricht, damit er den Jungen weghole. So kam Bhai Jodh Singh bald darauf
selbst und beorderte seinen Sohn nach Hause zurück. Früh am nächsten Morgen
machten sich die beiden auf den Heimweg; aber als sie am Ende des Dorfes
angelangt waren, bat Jaimal mit Tränen in den Augen den Vater um die Erlaubnis,
den Yogi ein letztes Mal sehen und ihm Lebewohl sagen zu dürfen. Sein Vater war
einverstanden, und der Junge eilte mit etwas frischer Milch zu seinem Lehrer.
Traurig erzählte er diesem von der Ankunft seines Vaters und ihrem
beabsichtigten Weggang. Der Yogi lächelte, segnete ihn und hieß ihn guten Mutes
sein. “Führe deine Übungen zu Hause fort wie bisher”, sagte er, “und alles wird
gut sein. Eines Tages werde ich dich dort besuchen.” In Ghuman nahm Jaimal
seine Verbindung mit Bhai Khem Das wieder auf und begrüßte die dorthin kommenden
Sadhus wie ehedem. Er war nun im vierzehnten Lebensjahr und übte mit
unvermindertem Eifer die Sadhans, die er gelernt hatte. Aber bald hungerte ihn nach mehr. Die Yoga-Übungen, die er inzwischen beherrschte, vermochten ihn auf die Dauer nicht zufriedenzustellen, und beim Lesen des Granth Sahib kam er zu der Überzeugung, daß es eine höhere Wirklichkeit gebe, die es durch andere Mittel zu erlangen galt. Indem er auf dem Pfad fortschritt, löste er sich in zunehmendem Maße von der Welt. Er nahm alle esoterischen Hinweise und Fingerzeige, die sich in den Sikh-Schriften über das fünffältige Wort, den Panch Shabd, finden ließen, zur Kenntnis und dachte über sie nach. Jeden neuen Yogi oder Sadhu, dem er begegnete, fragte er, ob er sie ihm nicht erklären könne; aber alles war umsonst. Auf dieser Stufe seines Suchens erlitten er und
seine Familie einen schmerzlichen Verlust. Er war noch nicht vierzehn alt, als
sein Vater erkrankte und starb. Für die leidgeprüfte Familie wirkte Jaimals
spirituelle Schulung als ein schützender Schild. Indem er die heiligen
Schriften heranzog, tröstete er seine Mutter und seine beiden jüngeren Brüder
und trat auf diese Weise allem Weinen und Wehklagen entgegen. Wenn die Seele
unsterblich war und alles nach dem Willen des Herrn geschehe, wozu dann all
diese Trauer? |