Die große Suche Wenn Jaimal Interesse an der Spiritualität nur eine
auf Stein oder Sand gefallene Saat gewesen wäre oder eine in der Wurzel noch
zarte, junge Pflanze, nicht mehr als das Ergebnis bloßer Neugier oder spontaner
Frömmigkeit eines einfachen Dorfjungen, dann hätte beim Tod seines Vaters auch
für sein Suchen die Totenglocke geläutet. Da er das älteste männliche Mitglied
der Familie war, fiel nun die Last der häuslichen Verantwortlichkeit auf seine
Schultern; und vielleicht sind dem Himmel schon mehr Seelen durch die irdische
Pflichterfüllung verlorengegangen als durch direkte Sünde und Übeltat. Jaimals Drang jedoch war eine Pflanze mit zäheren
Wurzeln und von stärkerer Struktur. Unerschrocken und unbewegt teilte er die
äußeren Pflichten unter seinen Brüdern auf, hielt weiter an seinen strengen
Gewohnheiten fest und meisterte innerhalb von sechs Monaten den Yoga Vashishta
und Vichar Sangreb, zwei Standardwerke der Hindu-Theologie. Etwa zur selben Zeit kam ein Sadhu der Udasi
Bewegung ins Dorf. Auch diesen suchte Jaimal auf und erkundigte sich nach der
Bedeutung von Textstellen, die er sich aus dem Granth Sahib herausgeschrieben
hatte. Der Sadhu ließ ihn wissen, daß er ihn zwar nicht in die Geheimnisse des
Panch Shabd einweihen könne, wohl aber in die des Ghor Anhad oder des tief
klingenden Tons, auf den in den Sikh-Schriften hingewiesen wird. Jaimal, der
eifrig bestrebt war, alles zu lernen, was er nur konnte, bot sich als Schüler
an. Doch das Diwali-Fest war nahe, das sein neuer Lehrer in Amritsar feiern
wollte. Da Jaimal diese Gelegenheit nur ungern versäumt
hätte, ging er zu seiner Mutter und bat sie um die Erlaubnis, sich dem Sadhu
anschließen zu dürfen, um so in seiner Suche nach der Wahrheit weiterzukommen.
Aber Bibi Daya hatte für das Wohlergehen der Familie zu sorgen und wollte von
dem Weggehen ihres ältesten Sohnes nichts hören. Sie erinnerte ihn an seine
Pflichten und sagte: “Dein Vater ist nicht mehr, und du mußt alles an seiner
Stelle weiterführen. Was soll aus uns werden, wenn du weggehst?” “Ich bin nicht gleichgültig gegen das, was Ihr sagt,
meine liebe Mutter”, erwiderte er, “aber der Herr ist über uns, und er, der
seine Geschöpfe selbst auf den Felsen und im Meer erhält, wird auch unseren
Bedarf nicht vergessen. Des Menschen erste Pflicht ist es, seinen Schöpfer zu
suchen, alle äußeren Pflichten kommen erst an zweiter Stelle. Seid nicht
bekümmert, sondern guten Mutes, und gebt mir Euren Segen.” Bibi Daya, selbst
tief religiös, war berührt von dem, was Jaimal mit einer solchen Überzeugung aussprach.
Sie sah seine Entschlossenheit und liebte ihn zu sehr, um sein Herz brechen zu
wollen, und so ließ sie sich schließlich erweichen. “Ich weiß, daß ich dich nicht halten kann, und ich
will es auch nicht. Aber wenn du schon gehen mußt, versprich, nach Hause
zurückzukommen, wenn dein Suchen beendet ist.” Jaimal gab sein Ehrenwort, und so nahmen seine
Mutter und seine Brüder tränenreichen Abschied von ihm. Er war kaum fünfzehn Jahre alt und schon auf einer
Suche, die ihn durch viele Städte führen sollte und für ihn große Mühe und
Plage mit sich brachte. Es war zu einer Zeit, als es in Indien noch keine
Eisenbahn gab, geschweige denn moderne Autostraßen und Luftwege. Die Reichen
konnten natürlich auf Pferden reiten, aber das einfachere Volk war auf die
Kraft und Festigkeit seiner Füße angewiesen. Das Reisen war schwierig und mühsam. Es lag nicht
lange zurück, daß die Briten den Punjab eroberten, und die Verhältnisse waren
noch unsicher. Der große Aufstand hatte erst vor einem Jahrzehnt stattgefunden,
aber das Volk zeigte sich widerspenstig, und durch die Unzufriedenheit begann
es im Lande zu gären. Unter solchen Verhältnissen machte sich Jaimal auf
den Weg nach Amritsar. Dort angekommen, wurde er am dritten Tage seines
Aufenthaltes in einem Park von dem Udasi-Sadhu in die Wissenschaft des Ghor
Anhad eingeweiht. Wie seinem Zeitgenossen Shri Ramakrishna (1836-1886) war es
Jaimal bestimmt, zu den Füßen vieler anderer Lehrer zu sitzen, ehe er seinem
wahren Meister begegnete. Wie dieser hatte er sich vielen Sadhans (Übungen) zu
unterziehen und kam in jedem rasch voran. Und gleich diesem war auch er dazu ausersehen, nicht
wie andere Yogis an einen von ihnen gebunden zu sein, sondern immer weiter
vorwärtszudrängen, einem immer höheren Ziel entgegen. Die frühzeitige
Beherrschung des Granth Sahib kam ihm dabei sehr zustatten. Er diente ihm als
unfehlbarer Prüfstein, mit dem er alles neu Erreichte untersuchen konnte, was
ihn zugleich erkennen ließ, daß sein wahres Ziel noch weit entfernt lag.
Nachdem er Japa und Pranayama geübt und die Ekstase des Ghor Anhad voll
erfahren hatte, wurde die Suche nach dem Geheimnis des fünffältigen Wortes zu
Jaimals vorherrschender Leidenschaft. Als er sich in Amritsar aufhielt,
versäumte er nicht, mit anderen Yogis und Sadhus Verbindung aufzunehmen und sie
nach Anhaltspunkten zu fragen für das, was er suchte. Einer von ihnen erwähnte,
er könne den Gegenstand seines Suchens möglicherweise zu den Füßen von Baba
Gulab Das ausfindig machen, der in dem Dorf Chatyala lebte. Der Junge bedurfte
keiner weiteren Anregung, und bald versuchte er mit Hilfe der Schüler von Gulab
Das zu ihrem Meister zu gelangen. Seine Bitte wurde erfüllt, und so erschien er
eines Tages bei dem ehrwürdigen Sadhu. Es ergab sich eine lebhafte
Unterhaltung, die einige der älteren Schüler, die dabeiwaren, gegen den
Neuankömmling wegen seines jugendlichen Alters aufbrachte. Doch Gulab Das
versicherte sie, daß Jaimali, wenn auch jung an Jahren, im Geiste reif und ein
echter Gottsucher sei. Er bemühte sich, den Knaben zufriedenzustellen, so gut
er es vermochte, und erklärte ihm, daß Naam nichts anderes sei als der Ton, der
in den Pranas vibriere, und führte ihn noch weiter in die Geheimnisse des
Pranva oder des Prana Yoga ein. Jaimal, der wohl bereit war, alles zu lernen, was er
nur konnte, war jedoch nicht überzeugt von der Erklärung des Sadhu, die, wie er
ihm sagte, a) die Zahl “fünf”, die im Granth Sahib immer wieder im Zusammenhang
mit dem inneren Shabd genannt werde, unberücksichtigt lasse und b) der Tatsache
nicht gerecht werde, daß die Sikh-Gurus wiederholt erklärten, der Pfad von Naam
sei ein anderer als der der übrigen Yoga-Formen, die nicht die höchste
Befreiung geben könnten. Jaimals Suche führte ihn von Chatyala nach Lahore, wo
es Hindu-Sadhus und Moslem-Ergebene aller Art gab. Der junge Sikh suchte immer
ihre Gesellschaft und war ununterbrochen mit ihnen zusammen. Aber soviel er auch
suchen mochte, er erhielt keinen weiteren Hinweis. Obgleich er sich in einer
großen Stadt befand und viele Meilen gewandert war, keinen Heller in der Tasche
hatte und kaum einmal seiner nächsten Mahlzeit sicher sein konnte, ließ er sich
wegen seiner mißlichen Lage nicht im geringsten aus der Fassung bringen, hinter
das Geheimnis zu kommen, das bislang keiner zu lösen wußte. Mit müden Füßen und
schwerem Herzen begab er sich nach Nankana Sahib, dem Geburtshaus von Guru
Nanak, einem Pilgerort der Sikhs. Aber auch in Nankana konnte er nicht finden, wonach
er verlangte. Die Vorsehung ist oft voller Geheimnisse. Der Weg des Suchers
kann mit unzähligen Hindernissen übersät sein, die ihm fast das Herz zu brechen
scheinen. Doch in dem Augenblick, wo er dem Zusammenbruch nahe ist, kommt ein
Wort der Ermutigung, ein Hoffnungsstrahl leuchtet auf, der ihn vor der großen
Verzweiflung errettet und ihn auf den Weg zum neuen Jerusalem stellt. Und so
traf der Junge, nunmehr fünfzehn Jahre
alt, in Nankana Sahib Bhai Jodha Singh der Namdhari-Schule, der ihn an Baba
Balak Singh von Hazro verwies, einem westlich von Attock gelegenen Ort im Nordwestlichen
Grenzland, wie es später genannt wurde. Mit unverminderter Entschlossenheit
begann Jaimal die lange Reise. Zuerst hielt er in Aminabad an, von wo aus er
nach Shah Daulah ging. Von dort ging es weiter über den Jhelum-Fluß nach Tila
Balnath und dann in Richtung Rawalpindi. In jeder dieser Stätte blieb er ein paar Tage und
versäumte niemals, mit den heiligen Männern und Sadhus, die dort zu finden
waren, Verbindung aufzunehmen. Da er nicht weit von Panja Sahib entfernt war,
der berühmten Stätte, die von einem denkwürdigen Wunder Guru Nanaks kündet 13),
besuchte er den heiligen Ort, obwohl er etwas abseits von seinem eigentlichen
Weg las. Dort hielt er sich für eine Weile auf und erfreute sich der Landschaft
und des klaren Wassers, das sich aus der heiligen Quelle ergoß. Von hier aus
wandte er sich Attock zu und erreichte Hazro, seinen Bestimmungsort. Er war sehr glücklich, den ehrwürdigen Baba Balak
Singh zu sehen, der von dem Eifer und dem starken spirituellen Verlangen seines
jungen Besuchers tief beeindruckt war. Sie lasen, rezitierten und erörterten
den Granth Sahib und verbrachten so einige segensreiche Tage. Balak Singh war
ein Mann von großer Weisheit und Frömmigkeit, aber was die Spiritualität
anbetraf, war er wie Gulab Das nur mit dem Japa durch Prana vertraut und wußte
kaum etwas über Panch Shabdi Naam, von dem Kabir und die großen Sikh-Gurus
gesprochen hatten. Er machte seinem jungen Freund jedoch Hoffnung und sandte
ihn nach Chikker zu einem Familienvater und Sikh von großem spirituellen
Ansehen. Jaimal traf, aus Hazro kommend, in Chikker ein und
hörte sich nach dem Mann um, den er suchte. Er konnte jedoch keinen Hinweis erhalten, bis er
einem alten einsamen Sikh begegnete, der den jungen Fremden fragte, ob er ihm
auf irgendeine Weise dienlich sein könne. Jaimal erzählte, woher er gekommen
war, nannte ihm den Zweck seiner Suche und bat, zu dem am Ort wohnenden
heiligen Mann geführt zu werden. Der alte Mann, der selbst der Gesuchte war,
entgegnete freundlich, daß hier seines Wissens kein solcher Heiliger leben
würde, erbot sich aber, ihm zu helfen, soweit es in seiner Macht läge. Jaimals langes und eifriges Forschen begann endlich
Frucht zu tragen. Der Mahatma, in dessen Haushalt er nun aufgenommen wurde, gab
ihm die ersten bestimmten Anhaltspunkte für das, was er suchte, und stellte ihn
auf die Anfangsstufe der spirituellen Leister. Bald nach seiner Ankunft erhielt
der gotttrunkene Knabe die Initiation. Seine früheren Annahmen bestätigten
sich, und es wurde ihm zur Gewißheit, daß der Pfad von Naam wenig mit anderen
Yoga-Praktiken gemein hatte. Nach der Initiation wies er jedoch darauf hin, daß
die Schriften von einem fünffältigen Wort sprachen, während er nur zwei
erhalten hatte. Als dies sein Gastgeber und Lehrer hörte, erzählte er ihm die
Geschichte seiner eigenen Initiation: “Vor vielen Jahren ging ich nach Peshawar. Dort
begegnete ich einem großen Mahatma und wollte von ihm initiiert werden. Er nahm
mich als Schüler an, erschloß mir die Geheimnisse der ersten beiden Shabdas und
hieß mich zurückkommen, sobald es mir möglich sei. Ich ging in mein Dorf und beabsichtigte, dem Rat zu
folgen. Aber so sind die Fallen von Maya: wegen unvorhergesehener
Verpflichtungen war ich nicht in der Lage, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen.
So vergingen zwei Monate, und als ich endlich Peshawar erreichte, war mein
Meister nicht mehr am Leben und hatte den Schlüssel für die übrigen Stufen des
heiligen Naam mit sich genommen.14) Jaimal blieb keine Wahl. Er mußte sich mit dem
zufrieden geben, was er bekam. So hielt er sich noch einige Zeit bei dem
Sikh-Mahatma auf, erfreute sich seiner Gastfreundschaft und inspirierenden
Gesellschaft und entwickelte fleißig die Gabe, die er erhalten hatte. Dann kam
der Tag, an dem er von seinem gegenwärtigen Lehrer bewegt Abschied nahm und
nach Peshawar aufbrach, um seine unerfüllte Suche fortzusetzen. Er hatte die
Befriedigung, auf dem rechten Pfad zu sein, aber er war nicht der Mensch, der
ruhte, solange er nicht sein Ziel erreicht hatte. In der uralten Grenzstadt
hielt er, gleich einem leidenschaftlichen Jäger, erneut Ausschau nach einem
Menschen mit voller Gottverwirklichung. Peshawar war jedoch nicht der Ort, wo sein Suchen
von Erfolg gekrönt und sein Durst gestillt werden sollte. Als er unter Pathans
durch die vielen Straßen wanderte, hielt ihn ein Mastana-Sikh an, welcher durch
die göttliche Trunkenheit der Alltagswelt des vernunftgeleiteten Verhaltens
verloren war, und grüßte ihn mit den Worten: “Warum wendest du soviel Mühe im
Norden auf, wo doch dein Tag vom Osten her dämmern wird?” Obwohl er nichts
weiter von dem fremden Ratgeber herausbringen konnte, folgte er seinem Fingerzeig
und machte sich auf den Weg zurück zum Punjab. Als er Rawalpindi erreichte,
entschloß er sich, das wohlbekannte Kashmir-Tal und den beliebten Gebirgsort
Murree zu besuchen. Da er die Schönheiten der Natur liebte, freute er sich sehr
über diese Bergtour, und in Kashmir begegnete er vielen Sadhus. All dieser
Besichtigungen müde, kehrte er schließlich heim. Zerlumpt und ohne Schuhe an
den Füßen oder Geld in der Tasche kam er schließlich zur großen Freude seiner
lieben Mutter und seiner Brüder, die ihm herzlich zugetan waren, nach Ghuman
zurück. Die Familie feierte seine Rückkehr im traditionellen
Stil. Sie brachte dem Allmächtigen Dankopfer dar, las aus
den heiligen Schriften und sang Hymnen. Sie verteilte Süßigkeiten unter den
Nachbarn und speiste die Armen. Jaimal Singh, der jetzt sechzehn Jahre alt war,
nahm seine familiären Plichten wieder auf und widmete sich der Festigung
dessen, was er auf seiner kürzlichen Reise gelernt hatte. Bald nach seiner
Rückkehr kam der Sathyala-Yogi, der ihn drei Jahre vorher in den Pranayama
eingeführt hatte, seinem Abschiedsversprechen getreu nach Ghuman, um seinen
jungen Schüler zu sehen. Jaimal Singh empfing ihn in Demut und Verehrung, und
der frühere Lehrer erbot sich, ihn mit anderen Praktiken des traditionellen Yoga
bekannt zu machen. Aber der Jüngling war nun kein Kind mehr. Seine weiten
Reisen und die verschiedenen Erfahrungen, von denen sie begleitet waren, hatten
ihn gereift. Was ihm einst erstrebenswert schien, was für ihn nicht länger von
besonderem Wert, denn seine Verbindung mit so vielen Yogis hatte ihn letztlich
zu der Überzeugung kommen lassen, daß die Kriyas des Hatha-Yoga ihm zwar
ungewöhnliche physische und geheime Kräfte verliehen, aber nicht vollkommenen
inneren Frieden und innere Freiheit geben konnten. Jeder neue Tag bestärkte nur
seine alte Überzeugung, daß der Pfad vollständiger Befreiung (Mukti) woanders
lag, und alles was er nun suchte, war die Initiation in die Mystik des Panch
Shabd. Die Zeit eilt dahin auf ihrer flüchtigen Bahn, aber
Jaimal Singh gehörte nicht zu den Menschen, die müßig herumsitzen oder sich mit
dem Nächstbesten zufrieden geben. “Erwache, erhebe dich und ruhe nicht, bis das
Ziel erreicht ist”, schärft ein alter Veden-Text ein, und sein Leben war eine
lebendige Verkörperung dieses Leitsatzes. Knapp acht Monate waren seit seiner
Rückkehr verstrichen, als das innere Drängen, seine Suche nach dem heiligen
Naam von neuem aufzunehmen, so mächtig
wurde, daß er nicht widerstehen konnte und seine Mutter ein weiteres Mal um die
Erlaubnis bat, gehen zu dürfen. “Wie kannst du von mir erwarten, dich auch jetzt fortzulassen? Damals warst du ein Kind, aber heute bist du erwachsen und kennst deine Pflichten. “Ach Mutter, bei meiner Geburt habt ihr gebetet,
einen frommen Sohn zu bekommen. Warum soll ich nun zurückgehalten werden ?” “Wie kannst du so sprechen?” entgegnete die Mutter.
“Habe ich dich jemals an deinen religiösen Neigungen gehindert? Du kannst doch
deine Andachtsübungen und der spirituellen Schulung zu Hause nachgehen.” Doch
Jaimal meinte: “ Wie können ein frommes und ein weltliches Leben
zusammenpassen?” “Du hast doch selbst
gesehen, wie nach dem Tod deines Vaters andere über unser Land verfügt haben.
Wir hatten gerade genug zu essen, und was wird sie daran hindern, das übrige
gewaltsam in Besitz zu nehmen, wenn du weg bist? Deine Brüder sind noch zu
jung.” “ Laßt sie nehmen, was immer sie wollen. Diese Welt
ist nicht die unsere, und selbst, wenn uns dieses Land nicht weggenommen wird,
müssen wir es eines Tages doch zurücklassen, wenn unsere Lebensspanne zu Ende
ist. Wir haben nur für unsere Nahrung zu sorgen. Was tut es, wenn unser ganzer
Besitz verlorengeht? Der Herr hat uns starke Arme gegeben, und mit seiner Gnade
werden wir ehrlich unseren Lebensunterhalt verdienen.” Ihn, den nichts von seinem Vorhaben abbringen
konnte, als er noch ein Kind war, konnte auch jetzt nichts abschrecken, und
Bibi Daya hatte keine andere Wahl, als ihn gehen zu lassen. So nahm Jaimal
Singh im Alter von noch nicht siebzehn Jahren seine spirituelle Suche wieder
auf. Nachdem er den Punjab und den Nordwesten nahezu ganz durchquert hatte,
lenkte er, die Worte des Mannes aus Peshawar noch im Ohr, seine Schritte
ostwärts. Die Zeiten waren unsicher, und die Briten hatten ihre Stellung in den
eroberten Gebieten des Nordens noch nicht völlig gefestigt. Nächtliche Reisen
waren daher verboten, und an den Hauptstraßen waren Wachposten stationiert, die
jeden unterwegs anzuhalten hatten. Aber Jaimal Singh war zu eifrig, um sich auf
diese Weise beschränken zu lassen. Die erste Hälfte der Nacht verbrachte er
ruhend und schlafend, und in der zweiten, wenn die Posten eingenickt waren und
schlummerten, setzte er seine Reise, so rasch es ging, fort. In Varaich, einem Dorf an den Ufern des Beas, noch
nicht weit von zu Hause entfernt, begegnete er einem Sadhu namens Kahan, der
damit beschäftigt war, Ziegelsteine zusammenzutragen. “Guten Tag, heiliger Mann”, sprach ihn der Junge an.
“Womit seid ihr so sehr beschäftigt?” “Nichts, mein Sohn, nichts, ich sammle nur Material
für deine zukünftige Behausung”, antwortete Kahan lächelnd und vertiefte sich
weiter in sein Werk. Wenn andere aus dem Dorf ihn danach fragten, erwiderte er
mit charakteristischer Kürze: ”Hier wird sich eines Tages ein Tempel erheben”
und verfiel in sein gewohntes Schweigen. Jaimal, der nicht wußte, wohin er gehen sollte,
wandte seine Schritte gen Hardwar an den Ufern des heiligen Ganges, das ein
vielbesuchter Ort frommer Menschen war. Tag und Nacht unterwegs, legte er die
Entfernung mit beachtlicher Geschwindigkeit zurück und erreichte so in zwölf
Tagen den Ganges. Er suchte die Ghats (Stufen zum Fluß) von Hardwar auf,
das damals eine kleine, fast nur von Pandits und Sadhus bevölkerte Stadt war,
hörte gelehrten Yogis zu, stellte ihnen Fragen und erörterte mit ihnen seine
Probleme. Vom Zentrum der Stadt aus wanderte er den Fluß entlang und besuchte
alle heiligen Orte in der näheren Umgebung. In Tappo Ban hörte er von einem
sehr alten Sadhu, der ungefähr 150 Jahre zählte, nicht weit entfernt
mitten im Dschungel lebte und große Kräfte besaß, aber selten zu denen sprach,
die zu ihm kamen. Unbeirrt von dem, was er über das Schweigen des Yogi
gehört hatte, nahm Jaimal Singh seinen Weg in Richtung des Waldes und fand
schließlich die Behausung des Eremiten. Der Sadhu war mit seinen spirituellen Übungen
beschäftigt und zollte denen, die sich bei ihm einfanden, um ihn zu sehen und
durch seinen Anblick gesegnet zu sein, keine Beachtung. Es wurde Abend, und der Himmel und die Zweige oben
erfüllten sich von dem Gezwitscher der heimkehrenden Vögel mit Leben. Die Besucher gingen
wieder, denn im Wald wird es rasch dunkel, und wer konnte sagen, ob nicht im
Dickicht ein wildes Tier auf Beute lauerte. Allein Jaimal Singh blieb. Die
Nacht brach herein, doch der Yogi nahm keine Notiz von ihm. Endlich stand er
auf, ging zu einer Schaukel, die in der Nähe von einem Ast herabhing, stellt
sich dort hin und ließ die Arme auf dem hölzernen Sitz ruhen. Stunde um Stunde
verging, aber der Asket stand bewegungslos und zeigte keinerlei Anzeichen von
Ermüdung. Schließlich wich die Dunkelheit und machte seiner nächtlichen
Geduldsprobe ein Ende. Er verließ den Platz, verschwand im Dschungel und kehrte
nach einem Bad zurück. Jaimal hatte eine lange Nachtwache gehalten und
beobachtete das ungewöhnliche Verhalten dieses seltsamen Mannes. Als der Sadhu
vom Bad zurück kam, war endlich zu erkennen, daß er sich der Gegenwart seines
Besuchers bewußt war. Er fragte ihn, wer er sei und was er wolle. Der Jüngling
nannte seinen Namen und den Ort, woher er kam, und fügte hinzu: “ Heiliger!
Seit vielen Jahren suche ich nach wahrer spiritueller Erleuchtung. Ich hörte von
Eurem Ruhm und Euren großen Kräften und komme als Bittsteller zu Euch. Ich habe
mit Interesse Eure mir unbekannten Übungen beobachtet, und wenn sie tatsächlich
völlige Befreiung von der inneren Ruhelosigkeit bringen, dann weiht mich bitte
in ihre Geheimnisse ein.” Der Sadhu schwieg. Er saß still da und hielt die
Augen geschlossen. Als er sie nach einer Weile öffnete, antwortete er: “Mein
Sohn, meine Schulung ist schwer und verleiht viele Kräfte; aber was die innere
spirituelle Freiheit betrifft, so muß ich leider sagen, daß sie mir diese nicht
gebracht hat.” Jaimal Singh wollte den Yogi noch mehr fragen, doch
dieser blieb still und zog sich von der Welt des äußeren Bewußtseins in die
Meditation zurück. Die Sonne stieg am Himmel empor, und wieder war ein Tag
vorüber. Einige Fromme kamen, um den berühmten Yogi zu sehen, verneigten sich
ehrfurchtsvoll zu seinen Füßen und ließen etwas Nahrung für Jaimal Singh und
einige Gaben für den Asketen da. Dann gingen sie wie tags zuvor. Die Nacht kam,
und abermals blieb der junge Mann aus Ghuman. Der Yogi erhob sich von seinem
Platz und brachte die zweite Nacht auf dieselbe Weise zu wie die erste. Im
Morgengrauen nahm er ein Bad, und bei seiner Rückkehr winkte er Jaimal an seine
Seite. “Mein Sohn”, begann er, “ich kann dir nicht viel sagen. Aber in meiner
Meditation sah ich, daß der Guru, den du suchst, mit seiner Frau in Agra lebt.
Er ist wirklich eine große Seele und spricht über den Granth Sahib. Er wird dir
die Schätze des Panch Shabd erschließen. Wende dich dorthin, und ich selbst
will dir folgen, sobald ich an seinen Gaben teilhaben kann." Welche Last fiel von Jaimal Singhs Schultern! Wie
viele Nächte hatte er sich hin- und hergewälzt, gebetet und sich gefragt, ob
Gott je seine Wünsche erfüllen würde. Der Fremde von Peshawar hatte seine
Hoffnung genährt, aber seine Worte waren unklar, und nichts war gewiß. Jetzt
endlich war ihm ein deutlicher Hinweis gegeben worden, und es schien Erfolg in
Sicht. Der
Herr war in der Tat gnädig und übersah nicht die Bitte seines ergebenen
Dieners.Mit neuem Mut und voller Zuversicht verneigte sich der Knabe vor dem
Yogi, der sich nun in Schweigen hüllte, und nahm mit einem von
unaussprechlicher Dankbarkeit überfließenden Herzen demütig Abschied. |