STROPHE 19

 

            Ohne Zahl sind Deine Namen und ohne Zahl Deine Stätten;

                        schwer erreichbar und unzugänglich Deine unzähligen

                        himmlischen Ebenen.

                        Selbst durch die Worte „ohne Zahl“1)können wir Dich

                        nicht beschreiben.

                        Mit Worten schildern wir Dich, und mit Worten

                        rühmen wir Dich.

                        Durch Worte erwerben wir göttliches Wissen, und mit

                        Worten werden Dir Hymnen gesungen und

                        Deine Eigenschaften gepriesen.

                        Es sind Worte, die wir in Rede und Schrift gebrauchen,

                        und in ihnen ist unser Los beschlossen.

                        Doch Er, der es so ordnet, steht über diesem Gesetz.

                        Wie Du es bestimmst, so kommt es zu uns.

                        Du wohnst allem inne, und es ist nichts, wo

                        Dein Wort nicht ist.

                        Welche Kraft habe ich, Dein wunderbares Wesen

                        zu begreifen?

                        Zu gering bin ich, mein Leben Dir zu opfern.

                        Was immer Dir gefällt, ist gut.

                        Du bist immer und ewig,

                        o Formloser Einer.

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1) Die Worte „Zahl“ und „ohne Zahl“  sind für den Allmächtigen ohne Bedeutung. Er, der allem innewohnt und das Leben der Schöpfung selbst ist, kennt jedes kleinste Teilchen davon.

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Unsere Seele wandert unter der Herrschaft des Gemüts und den nach außen strebenden Kräften und wird durch die Eindrücke der äußeren Welt befleckt; dies so sehr, daß wir uns mit dem Körper identifizieren und unser Selbst und Gott vergessen haben. Wie nun das Gemüt vom Schmutz der Sünden zu reinigen und die Seele von der Bindung an die Materie zu befreien ist, das bildet das Thema dieser Strophe. Seinen Willen zu dem eigenen zu machen durch die Verbindung mit dem Wort ist das einzige Mittel, um dies zu erreichen.

Handlungen, seien sie gut oder schlecht, können diese innere Verbindung nicht zustande bringen, da sie einen an äußere Dinge ketten, wodurch die Seele an die Materie gefesselt wird.

 

Lord Krishna sagt:

 

                        „Gute wie schlechte Taten sind Fesseln,

                        welche die Seele gleicherweise an die

                        Welt binden; ungeachtet dessen,

                        ob sie aus Gold oder aus Eisen sind.“

 

Der Horizont des Geistes ist verdunkelt durch die Nebelschleier der Sünden, die sich aus früheren Geburten angesammelt haben. Solange sie nicht entfernt sind, kann die Sonne der Gottheit nicht in ihrem vollem Glanz erstrahlen. Naam - das göttliche Wort - und nichts anderes kann diesen Dunst beseitigen und dem Geist seine ursprüngliche Transparenz wiedergeben. Es gibt kein größeres Heiligtum als das eines geläuterten Geistes.

 

STROPHE 20

 

                        Wenn Hände, Füße und Körper schmutzig sind,

                        werden sie mit Wasser rein gewaschen.

                        Wenn die Kleider beschmutzt und fleckig sind,

                        werden sie mit Seife gereinigt.

                        Ist das Gemüt durch Sünden unrein geworden,

                        kann es nur durch die Verbindung mit dem Wort

                        wieder sauber werden.

                        Durch Worte allein werden die Menschen nicht zu

                        Heiligen oder Sündern,

                        aber durch ihre Taten, die sie mit sich tragen,

                        wohin sie sich auch wenden.

                        Wie man sät, so erntet man.

                        O Nanak, die Menschen kommen und gehen durch

                        das Rad1) der Geburten und Tode nach Seinem Willen.

 

Gute Taten, wie Werke der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, haben, obgleich sie an sich lobenswert sind, keinen bedeutsamen Einfluß auf das höchste spirituelle Ziel. Sie hören auf, von Wichtigkeit zu sein, wenn die Seele einmal ihre innere Reise von Til oder dem inneren Auge aus beginnt:

 

                        „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein

                        ganzer Leib licht sein.“

                                                                                                                        Matth. 6,22

 

Vom Strom des Wortes getragen, erreicht die Seele Amrit-saar oder Amritsa, die Quelle des Nektars, oder das Amritsar im Menschen. Dort werden alle Unreinheiten, die der Seele noch anhaften, endgültig weggewaschen. So wird sie für die Weiterreise zur höchsten spirituellen Ebene - Sat Naam - befähigt, die von unaussprechlicher Erhabenheit und Herrlichkeit ist.

 

STROPHE 21

 

                        Pilgerfahrten, Barmherzigkeit, Nächstenliebe und

                        Almosengeben hören auf, von Bedeutung zu sein,

                        wenn man Zugang zu Til1a), dem inneren Auge, erlangt.

                        Die Verbindung mit dem heiligen Wort und seine Praxis

                        mit hingebungsvollem Herzen, bewirken den Zutritt

                        zu den inneren spirituellen Bereichen und waschen

                        den Schmutz der Sünden an der heiligen Quelle2) ab.

                        Alle Tugenden sind Dein, o Herr; ich besitze nicht eine.

                        Ohne die Praxis des heiligen Wortes kann es keine

                        Verehrung geben.

                        Von Dir ist Bani, das heilige Wort ausgegangen,

                        welches der Pfad zur Erlösung ist.

                        Du bist die Wahrheit3), bezaubernd süß, und

                        mein Geist verlangt nach Dir.

                        Bei welcher Gelegenheit, in welcher Epoche,

                        zu welcher Woche, an welchem Tag,

                        zu welcher Jahreszeit, zu welcher Stunde war es,

                        als Du zuerst ins Dasein tratest und

                        Dir selbst Ausdruck verliehen hast?

                        Die Pandits konnten es nicht ermitteln,

                        sonst würde es in den Puranas4) stehen;

                        und auch die Kazis5) konnten es nicht bestimmen,

                        sonst würde es im Koran zu finden sein;

                        noch konnten es Yogis und andere verkünden.

                        Der Schöpfer allein kennt die Stunde, zu der Er in

                        Erscheinung trat.

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1) Das unerbittliche Gesetz des Karma oder das Gesetz von Ursache und Wirkung arbeitet ebenfalls unter Seinem Willen.

1a) Til bedeutet wörtlich „das Senfkorn“. Hier wird es jedoch gebraucht für das Nervenzentrum zwischen und hinter den beiden Augen. Die Hindus nennen es Shiv Netra oder das dritte Auge. Im Evangelium wird es das „einfältige Auge“ genannt. Die Sufis sagen Nukti-i-Sweda. Es ist der Sitz der Seele im Menschen; und es ist die erste Stufe , auf der sich die Seele sammelt und fähig wird, sich in höhere spirituelle Bereiche zu erheben. Guru Ramdas sagt in diesem Zusammenhang: „Das Gemüt schweift jede Sekunde ab, solange es Til nicht erreicht hat.“ Auch Kabir hat in seinen Versen auf Til Bezug genommen. Tulsi Sahib sagt, daß das Mysterium Gottes erst enthüllt wird, wenn man über Til hinausgeht.

2) Die heilige Quelle des Nektars ist Amrit-saar oder Amritsar, im Menschen.

Man darf diese nicht verwechseln mit dem Amritsar, der heiligen Quelle, die von Guru Ramdas, dem 4. Guru der Sikhs, erschlossen und von Guru Arjan Dev, dem 5. Guru, fertiggestellt wurde. Die heilige Quelle, auf die Guru Nanak hier verweist, liegt in der dritten spirituellen Ebene, die Daswan Dwar benannt ist. Die Mohammedaner nenne sie Hauz-i-Kausar und die Hindus Prag-Raj. Hier erhält die Pilgerseele ihre wirkliche Taufe, wird von allen Unreinheiten befreit und erlangt ihre ursprüngliche Reinheit wieder.

3) Die Wahrheit oder Sat Naam wohnt in Sach Khand, welches die höchste der fünf spirituellen Ebenen ist, in der der Formlose Eine weilt. Dies wird in den Strophen, die sich den verschiedenen Ebenen zuwenden, am Schluß des Textes erklärt.

4) Pandits oder die Gelehrten, die in den Hinduschriften bewandert sind, wie den Veden und den Puranas - den uralten Abhandlungen.

5) Kazis oder gelehrte Moslems, die in der religiösen Gesetzgebung und Theologie bewandert sind.

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Wie soll ich mich an Dich wenden,

                        wie Dich preisen, o mein Herr?

                        Wie soll ich Dich beschreiben,

                        wie Dich erkennen?

                        O Nanak, alle sprechen von Dir,

                        und einer klüger als der andere.

                        Groß bist Du, und noch größer ist

                        Dein heiliges Wort.

                        Was Es will, geschieht.

                        Du allein kennst Deine Größe.

                        Und jene, o Nanak, die vorgeben, das meiste zu wissen,

                        erfahren keine Ehre im jenseitigen Leben.

 

Gottes Schöpfung ist voller Vielfalt und über allem menschlichen Begreifen. Das Endliche kann sich das Unendliche nicht vorstellen. Alle Versuche, Ihn und Seine Schöpfung zu erkennen, scheitern. Doch eins, sagt Nanak, ist sicher, nämlich, daß alles von der einen Quelle ausgeht.

 

STROPHE 22

 

                        Es gibt Millionen niederer Regionen, und Himmel

                        über Himmel.

                        Endlos ist der Mensch gewandert auf der Suche nach Ihm.

                        Auch die Veden sagen das.

                        Die Bücher der Moslems sprechen von achtzehntausend

                        Welten; und es ist die gleiche Kraft, die sie alle erhält.

                        Könnte sie erklärt werden, so hätten wir einen Bericht

                        darüber; doch alle Versuche einer Beschreibung mißlangen.

                        O Nanak, gestehe Seine Größe;

                        Er allein kennt sich.

 

Selbst wenn sich einer durch die Verbindung mit dem göttlichen Wort mit dem Unendlichen vereint, kann er Seine Tiefen noch nicht ergründen; denn das Grenzenlose hat keine Grenzen. Es ist genug, wenn sich der Strom ins Meer verliert. Gesegnet sind jene, deren Herzen von göttlicher Liebe erfüllt sind; denn kein irdischer Besitz läßt sich damit vergleichen.

 

STROPHE 23

                        Seine Ergebenen rühmen Ihn, doch erlangen sie nie

                        volles Wissen über den Unendlichen;

                        So wie Flüsse, die sich ins Meer ergießen,

                        dessen Tiefen nicht erkennen.

                        Selbst Kaiser und Könige mit unermeßlichem

                        Besitz und riesigen Reichen

                        können sich nicht mit einer Ameise vergleichen,

                        die voll der Liebe zu Gott ist.

 

Gottes Schöpfung ist grenzenlos. Viele schon suchten ihr Mysterium zu ergründen; doch keiner kann Ihn erkennen, bis er nicht Seine Höhe erreicht. Die Seele schaut Gott, wenn sie Sach Khand, die höchste der spirituellen Ebenen, betritt. Wie könnte es anders sein? Wie könnte man mit diesen materiellen Augen schauen, was reiner Geist ist? Man muß die materielle Ebene auf den Schwingen des Wortes übersteigen, und das ist durch Seine Gnade möglich.

 

STROPHE 24

 

                        Endlos ist Sein Ruhm, endlos die Worte der Lobpreisung;

                        endlos Seine Werke und endlos Seine Gaben.

                        Endlos Seine Schau und endlos Seine Inspiration.

                        Endlos und über allem Begreifen ist Seine Ansicht;

                        endlos Seine Schöpfung und endlos ihre Ziele.

                        Endlos der Menschen angstvolle Suche nach Seinen Grenzen,

                        aber Seine Grenzen sind nicht zu finden.

                        Endlos ist Er, und keiner weiß, wo Er aufhört.

                        Je mehr wir sagen, desto mehr ist Er.

                        Erhaben ist der Herr und erhaben Seine Wohnstatt;

                        noch erhabener ist Sein heiliges Wort.

                        Wer Seine Höhe erreicht, der allein kann Ihn schauen.

                        O Nanak, Er allein kennt Seine Größe;

                        und nur Sein Gnadenblick kann und auf Seine Höhe

                        erheben.

 

 Seine Großmut überragt alles. Hochherzig wie Er ist, schüttet Er Seine Gaben auf alle hernieder, seien sie gut oder schlecht. Jeder erhält seinen Anteil, keiner wird übersehen. Er kennt uns alle besser, als wir selbst uns kennen, und gibt uns das, was am Besten für uns ist. Doch die größte Seiner Gaben ist die der Ewigen Musik. Wenn Er diese dem Menschen aus Seiner Gnade gewährt, wird er dadurch zum König der Könige:

 


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