Religion objektiv und subjektiv gesehen

 

So wie die Religion heutzutage aufgefaßt wird, ist sie in hohem Maße mißverstanden. Gebete, die aus festgelegten Redewendungen bestehen, gezwungenes Zeremoniell, zeitraubende Rituale, Festhalten an äußeren Symbolen auf Kosten ihrer inneren spirituellen Bedeutung und Überlegenheit eines Religionsbekenntnisses über das andere -, solche und ähnliche Sinnwidrigkeiten haben sich den Namen der Religion widerrechtlich angeeignet. Eine Religion führt gegen die andere Krieg; unter dem Vorwand von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Mittel zur Erlösung kämpfen Brüder gegen Brüder. Wie oft wurden im Namen der Religionen Blutvergießen, Falschheit, Haß, Intoleranz und Bigotterie gepredigt, indes die wesentliche Aufgabe der Religion, die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen zu verkünden, gänzlich unbeachtet blieb.

 

Die Vernunft wurde völlig verbannt, und Religion wurde zu einem bloßen Bekenntnis von Glaubensanschauungen und Dogmen. Worte sind an die Stelle von Taten getreten. Die Religion scheint sich heute nicht mehr mit veredelnden Fragen zu befassen, wie z.B. mit dem Wissen um das eigene Selbst und der Verbindung mit dem göttlichen Ursprung. Das Suchen nach Gott durch Anwendung äußerer Mittel, Wiederholungen von Wortformeln, Besuchen von Wallfahrtsorten und Synagogen inmitten gefühlloser Herzen, läßt die Tiefe deutlich erkennen, zu der die Religion herabgesunken ist. Viele gottbegnadete Menschen der früheren Zeit empören sich über diese verhärteten Religionen und ritualistischen regeln der Priesterschaft, wenn sie solchen Situationen gegenüberstanden.

Ist das nicht zutiefst bedauernswert? Es ist wirklich ein trauriges Schauspiel. Zum Glück ist all das auf die menschliche Unwissenheit bezüglich wahrer Religion zurückzuführen, die nichts gekünsteltes und Gemachtes kennt. Eine Versklavung durch die Priesterschaft ist nicht das Ziel der Religion. Ihr Ziel ist es nicht, den Menschen zu binden, vielmehr ihn aus der Sklaverei zu befreien.

 

Der Meister kündet eine Religion, welche die Gleichheit der Menschen lehrt. Die Natur unterscheidet nicht zwischen einem Hindu, einem Mohammedaner und einem Christen. Sie alle gehören der Menschenfamilie auf Erden an. Guru Nanak ermahnt uns, dies, das heißt die Bruderschaft der Menschen, als höchste Religion anzusehen (Vers XXVIII).

 

Wir sollten alle Menschen als uns ebenbürtig betrachten, ungeachtet ihrer Rasse und ihres Glaubens. Genau wie in einer Schulklasse Kinder aller Glaubensrichtungen zusammensitzen, miteinander spielen, einander lieben, dieselben Lektionen von ein und dem selben Lehrer erhalten, so sollte auch die ganze Welt wie eine Klasse sein, und man sollte keinen Unterschied machen bezüglich Rasse und Stand. Die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen ist das Wesentliche der Religion.

Alle Menschen sind gleich, und es hat dabei nichts zu sagen, ob sie im Kleid eines Hindu, Sikh, Mahammedaners, Juden, Christen, Buddhisten oder Materiallisten gehen.

 

                                   Alle lebenden Wesen sind zu Deinen Füßen,

                                   o Herr, und Du sorgst für sie alle.

                                   Was Dir gefällt, ist gut.

                                   Nanak betet auf diese Art zu Dir.

                                                                                              Bilawal M.1

 

Der Meister liebt die Natur und paßt sich ihren Gesetzen in jeder Weise an. Er kennt nichts Gemachtes oder Gekünsteltes. Die Natur an sich ist wunderschön, wenn sie nicht durch den Menschen gepeinigt wird. Aus diesem Grunde überläßt er es der Natur, für den äußeren Menschen zu sorgen und ihn so gut es geht zu behüten. Die Mehrheit der Weisen des Ostens wie des Westens: Christus, Buddha, Ramakrishna, und andere, wirkten nicht im geringsten auf die Körperform ein, die ihnen die Natur gegeben hatte. Es gibt tatsächlich keine höhere Religion als diese. Das ist nun der eine Gesichtspunkt der Religion, die objektive Seite. Aber es gibt auch noch einen anderen, welcher der subjektive genannt werden kann - die innere Seite davon, über die wir überhaupt nichts wissen. In dieser Hinsicht lehrt uns der Meister, zu den natürlichen Mitteln Zuflucht zu nehmen, um dadurch das subjektive Leben zu entwickeln, das darin besteht, daß man in der Gottheit lebt und die Gegenwart Gottes in der Seele verwirklicht. Dies ist Religion ihrer wahren Natur nach. Es ist nicht nur ein mündliches Bekenntnis, sondern ein höchst praktischer Wesenskern.

 

Die erste Lektion, die es zu lernen gilt, ist, die Existenz Gottes im Menschen zu verwirklichen und zu empfinden, nein - Seine Gegenwart überall zu sehen. Es ist eine immer-aktives und bewegendes Prinzip, das die ganze Schöpfung durchdringt und für das Bestehen des Universums einsteht. Die Natur mit ihren unwandelbaren Gesetzen, ihrer Menge an Formen und Erscheinungsarten, ist kein bloßes Zufallsgebäude. Dieses Universum wird von einem höchsten Herrscher durchdrungen, der es lenkt und in Ordnung hält.

 

Was immer der Mensch sät, muß er hier oder in künftigen Leben ernten. Jeder ist dem Gesetz des Karma unterworfen, und keine kann ihm entgehen. Das einzige hinreichende Mittel, um Befreiung von der Gebundenheit an die unerbittlichen karmischen Gesetze zu erlangen, ist die Verbindung mit dem heiligen Naam - dem göttlichen Wort, über das man zu den Füßen eines Gurmukh, das heißt eines Meisters, belehrt wird. Sobald man das verstanden hat, kann man den nächsten Schritt tun.

 

Alle Menschen sind gleich und tragen den Funken göttlichen Lichts in sich, der immer und ewig erstrahlt. Die Synagoge und die Moschee, die Art, wie die Hindus Gott verehren, die Gebete der Moslems oder die Gottesdienste der Christen sind alles nur verschiedenen Wege, um dem einen höchsten Herrn Liebe zu erweisen.

 

Wir alle spielen im Schoß von Mutter Natur und werden von zwei Dienern betreut - dem männlichen und dem weibliche, Tag und Nacht, eines das immer Aktive und das andere, das passive. Alle leben auf derselben Erde und unter demselben azurblauen Himmelsgewölbe, atmen dieselbe Luft und trinken dasselbe Wasser. In wenigen Worten: Alle werden durch dieselben Elemente von Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther erhalten.

 

Und wiederum erfreuen sich alle derselben Vorzüge. Alle haben die gleichen Augen, um zu sehen, die gleichen Ohren, um zu hören, die gleichen Glieder, um sich zu bewegen und die Kraft der Artikulation, um zu sprechen. Keiner ist der natürlichen Werkzeuge beraubt, denn die Natur gewährt allen die gleichen Möglichkeiten und bietet jedem denselben Schutz.

 

Alle menschlichen Wesen, hier, dort und überall, sind Kinder des einen Vaters und bilden die Glieder der unzerbrechlichen Kette der Gottheit, wie die Perlen an der Schnur. Versucht man, nur eine von ihnen zu beschädigen, wird die ganze Kette davon betroffen. Darum gebieten die Heiligen nachdrücklich, niemanden zu verletzen.

 

                                   Wenn du nach Vereinigung mit dem Herrn verlangst,

                                   dann quäle keines Menschen Herz.

                                                                                                                      Shalok Farid

 

Guru Nanak sagt: Laßt jeden von uns Gleichheit mit der ganzen Schöpfung atmen und mit grenzenlosem Mitleid, das aus dem Innersten unseres Herzens kommt, auf die Welt schauen. Dies hat er in schönen Worten kundgetan:

                                  

O Nanak - mögen wir uns auf dem Strom des heiligen Naam

(dem göttlichen Wort) in Deine Gegenwart erheben und der

ganzen Welt nach Deinem Willen Frieden wünschen.

 

 

Warum existiert dann all diese Verschiedenheit in den äußeren Symbolen und dem Brauchtum der einzelnen Religionen? Der meister erklärt, daß dies auf die jeweiligen Umstände und Sitten, die in den verschiedenen Ländern herrschen, zurückzuführen ist. Es heißt:

                                  

Die Hindutempel und die Moscheen der Moslems,

                                   sind ein und dasselbe.

                                   Die Verehrungsweise der Hindus und das Namaz

                                   der Moslems sind Ihm gleich.

                                   Die ganze Menschheit ist nur eine Emanation

                                    derselben Lebensquelle.

                                   Die Unterschiede zwischen den Menschen verschiedener

                                   Glaubensrichtungen - den Moslems, Hindus und anderer -

                                   beruhen auf den Sitten und der Lebensweise in ihren

                                   jeweiligen Ländern.

                                                                                                                      Guru Gobind Singh

 

Nehmen wir ein Beispiel - den Hut abzunehmen, ist im Westen ein Zeichen der Achtung, wohingegen es im Osten als Mißachtung angesehen wird. Dies bringt offensichtlich den äußeren Unterschied in der Verehrungsweise hervor. Die Christen wohnen ihren Gottesdiensten in der Kirche barhäuptig bei, während die Gläubigen des Ostens ihre Gebete immer bedeckten Hauptes verrichten.

 

Auch die klimatischen Einwirkungen bestimmen die Art des Rituals in erheblichem Maße. In Arabien, der Wiege des Islams, wird z.B. wegen der dort herrschenden Wasserknappheit Namaz (das Gebet) nach Wazu (Waschen von Gesicht, Händen und Füßen) verrichtet; aber wo es überhaupt kein Wasser gibt, müssen sie mit Tayumum zufrieden sein, das heißt, mit dem Gebrauch von Sand, um ihre Glieder vor dem Gebet zu säubern. Bei den Hindus in Indien wiederum wird reichlich Wasser gebraucht, da es in Fülle zu haben ist, und so gilt ein Bad vor der Ausübung religiöser Bräuche als unentbehrlich. Ähnlich liegt der Fall mit der Kleidung und anderen Dingen. Diese örtlichen Sitten haben sich auch auf die Religionen übertragen, die dort in Erscheinung getreten sind, und das ist der Grund für die Unterschiede im Ritual und Brauchtum, denen wir heute in den verschiedenen Religionen begegnen. Wiederum gibt es Unterschiede im Temperament der Menschen in den verschiedenen Teilen der Welt. Da jeder seinen eigenen Neigungen und seine eigene Denkweise hat, wäre es einfach grausam, wenn man allen dieselben Ansichten aufzwingen wollte. Dieser Tendenz zufolge haben wir die vielen Systeme und Geistesrichtungen, wie sie heute existieren und sich im Laufe der zeit weiter vermehren werden. Alle sind natürlich dafür gedacht, die Entwicklung des menschlichen Intellekts zu fördern. Die Menschen müssen darum selbst wählen, was das beste für sie ist, bis sie zuletzt zum subjektiven Aspekt der Religion kommen, der für die gesamte Menschheit derselbe ist.

 

Die subjektive oder wahre Religion bezieht sich auf ein ewiges Prinzip und nicht auf äußere Formen und Sitten, und darum ist sie universal. Sie besteht auf dem inneren spirituellen Fortschritt und heftet den Geist nicht an äußere Formen. Es ist der eine Aspekt, wo sich alle Religionen begegnen. Die gleiche Seite wird in den Lehren aller spiritueller Meister angeschlagen, die bisher unsere Erde besucht haben. Auf den folgende Seiten werden wir die Wahrheit bestätigt finden, indem wir Beispiele und Zitate bringen, welche diese Ansicht stützen.

 

Es gibt also zwei Aspekte der Religion: der eine ist der äußere, welcher die Schale darstellt, und der andere der subjektive, welcher den Kern oder die Substanz bildete. Der Mensch hat angefangen zu erkennen, daß die äußere Religion nur eine soziale Reform für eine bestimmte Klasse von Menschen anstrebt. Deren Fortschritt im Hinblick auf Religion, wobei sich jede ihre eigenen Regeln und Gesetze, die es zu beachten gilt, aufstellt, macht die Lebensführung leicht in Wohl und Weh. Es besagt, daß man alles allein für den Dienst an dieser Klasse Menschen aufgibt. Dies ist erforderlich für den Menschen, um in der Welt zu leben. Es hat die verschiedenen Gesellschaften und Gemeinschaften, die man heute vorfindet, zur Folge. Man kann sie als soziale Religion definieren.

 

Die subjektive Religion hingegen ist ganz unabhängig von irgendwelchen Gesellschaften und Gemeinschaften, obgleich diese den Oberbau bilden, der auf dieser festen Grundlage steht. Entartung ist das Merkmal der Zeit. Jene, von denen die sozialen Religionen ausgegangen sind und die sich der subjektiven Seite ganz bewußt waren, haben Spuren der Wahrheit hinterlassen, die durch die äußeren Riten und Bräuche hindurchscheinen, auf welchen sie begründet sind. Im Verlaufe der zeit überliefern die Nachfolger einfach diese Regeln und werden der großen und edlen Wahrheiten, um deretwillen sie einst ins Leben gerufen wurden, immer mehr unkundig. Unter diesen Umständen nimmt das Haften an äußeren Ritualen und Formen unvermeidlich den Platz der inneren Bedeutung ein, die sie einmal symbolisierten. Somit verbleibt der materielle Aspekt, und die Essenz geht verloren. Fanatismus, Bigotterie, Kastengeist und Sektierertum sind die unaufhaltbare Folge, wie die Anhänger aller Religionen in der einen oder anderen Form in ihrer Lebensweise verraten. Dies erklärt die Korruption, die in die Religion eingedrungen ist und sie statt zu einem Band der Vereinigung zum Zankapfel macht.

 

Der subjektive Aspekt der Religion scheint durch die lehren aller großen Schriften der Welt. Es gibt keine Religion, die nicht wenigstens einen Funken Wahrheit in sich hätte. So müssen alle Glaubensbekenntnisse von diesem Gesichtspunkt aus respektiert werden. Es ist die subjektive Seite der Religion, die von allen Meistern gelehrt wurde. Sie ist ein und dieselbe für alle; es gibt da keinen Unterschied zwischen irgendwelchen Klassen und Glaubensgemeinschaften. Alle sind willkommen, an der Wahrheit, ohne daß es ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft schaden oder irgendeinen Abbruch tun könnte. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil aller Religionen und gewährt den Menschen eine tiefe Einsicht in ihre eigene Glaubensrichtung. Die subjektive Religion ist nicht Sache der Bücher. Unsere eigenen Erfahrungen sollen die Wahrheiten, welche in den verschiedenen Religionen gelehrt werden, bestätigen.

 

Wir wollen fortfahren, die innere Phase der Religion zu untersuchen, so wie es Guru Nanak gemeint hat.

 

Der Meister erklärt die grundlegenden Prinzipien. Es gibt ein Wesen, welches der Schöpfer ist und der grundlose Urgrund von allem ist. Durch seinen ewig-aktiven Willen, der alles durchdringt, hat Er das ganze Universum geschaffen. Die Wissenschaftler sind nunmehr dabei, in der Vielfalt der großen Welterscheinungen eine Einheit herauszufinden. Sie verfolgen die ganze Schöpfung zurück zu dem einen ersten Urgrund, aus dem heraus sich alles entfaltet hat. Daraus folgt unweigerlich, daß es nur eine Ursache gibt, die die ganze Schöpfung erhält. Gleich der Sonne, welche die verantwortliche Kraft für den Wechsel der Jahreszeiten und das Gedeihen der Pflanzenwelt ist, gibt es auch ein Wesen, das für all die Phänomene der Welt verantwortlich ist. Der Meister sagt: „Es gibt ein Wesen“. Das Zahlwort „eins“ wird nur angewandt, um den Absoluten .- den Unaussprechlichen - zu bezeichnen. Da wir begrenzt sind, drücken wir Ihn in begrenzten Worten aus.

 

                                   Du bist jenseits aller Begrenztheit,

                                   doch wir, die wir begrenzt sind,

                                   rühmen Dich mit begrenzten Worten.

                                   Wie können wir wissen, wie groß Du bist?

                                                                                                          Sorath, M.5

 

                                   Wer immer das Mysterium kennt, das durch die

                                   Zahl „Eins“ ausgedrückt ist, wird eins mit Ihm.

                                                                                                         

Ramkali M.1

 


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