VI. Dharan oder Samyam

 

(Vertiefung oder Konzentration)

 

Hat der Yoga-Schüler durch >Pranayama< die >Pranas und durch >Pratyahara< die Sinne unter Kontrolle gebracht, muß er nunmehr sein Gemüt auf etwas konzentrieren. Man kann die Aufmerksamkeit auf etwas Äußeres wie zum Beispiel auf ein Bild, ein Idol oder ähnliches heften; oder sie kann auf etwas im Inneren, wie auf eines der Körperzentren in >Pind<, auf eine Vorstellung oder auf eines der astralen Zentren in >And< gerichtet werden. >Dharna< wiederum besteht darin, das Gemüt nach Belieben auf eine bestimmte Stelle, einen Gegenstand, eine Vorstellung oder ein Zentrum zu konzentrieren. >Dharna< hilft, das Gemüt stetig zu machen, und ist somit auf seine Weise nutzvoll.

 

1)     >Dharna< auf eine jede dieser Sinneswahrnehmungen verhilft zur Stetigkeit des Gemüts, indem die wandernden Gedanken an einem Brennpunkt gesammelt werden:

 

a)     auf die Nasenspitze  -  gibt eine Erfahrung von  >Divya Gandh< oder göttlichen Wohlgeruch. Es wird  >varta sidhi< genannt.

b)    auf die Zungenspitze  -  gibt eine Kenntnis vom Geschmack des göttlichen Stoffes (Divya-Essenz):  >manna< und Nektar. Diese Erfahrung ist bekannt als  >asdavan<.

c)     auf die Zungenmitte  -  man erfährt die Berührung mit dem Göttlichen oder der Nähe der erhabenen Gegenwart. Die ist als >vidana< bekannt.

d)    auf die Zungenwurzel  -  gibt die Erfahrung der göttlichen Töne oder der göttlichen Harmonie. Man nennt es  >asravana<.

e)     auf den Gaumen  -  gibt die Erfahrung der göttlichen Farben oder des elementaren Glanzes. Diese göttliche Gesicht wird  <adarsha< genannt.

 

1)       >Dharna< auf den leuchtenden geistigen Punkt am Sitz des Gemüts. Erst wird der Atem eingezogen   und dann ausgestoßen, mit dem Gedanken an die aufrechte Position des achtblättrigen Lotos unterhalb des Herzens, der gegenwärtig in umgekehrter Stellung liegt. Dann wird die Aufmerksamkeit auf das glänzende Licht in dem Lotos geheftet, durch den  >Sukhmana< oder  >Brahm nadi< läuft.

 

2)     >Dharna< auf Meisterseelen, die von allen Wünschen befreit sind, wie Buddha, Christus oder vorzugsweise auf einen noch lebenden Meister, befreit auch den Übenden von allen Wünschen und mentalen Bindungen sowie von der Knechtschaft des Gemüts und der Materie.

 

3)     >Dharna< oder  >samyam< auf äußere Gegenstände: auf Himmelskörper wie die Sonne, den Mond

und die Sterne usw. bringt übernatürliche Erfahrungen ein.

 

a)     Wenn zum Beispiel auf die Sonne, bringt es Wissen von Brahmand, das aus vierzehn >Bhavans< oder Sphären besteht, nämlich sieben oberen oder höheren Welten oder >lokas< (bhur, bhuva, swah, maha, janah, tapah und satyam) und sieben unteren oder niederen Welten oder >lokas< (sutala, vitala, talatala, mahatala, rasatala, atala und patala).

b)    Wenn auf den Mond, bringt es Wissen von den Sternen ein.

c)     Wenn auf den Polarstern, bringt es Wissen um die Bewegung der Sterne ein.

d)    Wenn auf den Elefanten oder >hanuman<, erwachsen Kraft und Tapferkeit.

e)     Wenn auf die Körperform, verursacht es das Verschwinden des Körpers, weil die Kraft des Begreifens gehemmt wird und die Verbindung zwischen dem Licht und den Augen getrennt ist.

 

1)     >Dharna< oder  >samyam< auf innere Zentren, auf das Selbst und die >indriyas<: Man kann diese Übung auf alles ausführen, wie auf Tugenden, auf die inneren Zentren, >chakras< oder >nadis<:

 

a)     Wenn auf >nadhi< oder den Nabel (manipura chakra), erlangt man Wissen über die Zusammensetzung des Körpers.

b)    Wenn auf die Vertiefung in der Kehle (vishuddha chakra), wird man frei von Hunger und Durst.

c)     Wenn auf >sahasrar<, erlangt man himmlische Visionen und den >darshan< von >siddhas<.

 

Die Methode des letzteren geschieht durch Konzentration auf >Brahmarendra< oder die Höhlung von Brahma; es ist eine Öffnung im Körper (mundhu), durch welche das göttliche Licht nach unten fließt.

 

>Nigrun upasakas< führen die abstrakte Meditation auf dieses Zentrum  -  den >sahasrar<  -  aus.

 

d)    Wenn auf das >anhat chakra< am Herzen, erlangt man Wissen über das Gemüt.

e)     Wenn auf die >kurma nadi< (den Astralkanal in der Brust unterhalb der Kehle, durch den >kurma< oder das höhere >prana< die Augenlider bewegt), gibt es dem Körper Festigkeit.

f)      Wenn auf das innere Licht des Herzens, bringt es Wissen über das Feinstoffliche (Hellsichtigkeit), das Verborgene (vergrabene Schätze) und das Entfernte (Ferne und Weite).

 

1)     Man kann >samyam< über sich selbst üben. Es verleiht Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit und andere übernatürliche Kräfte – höheren Tastsinn, höheren Geschmack, höheren Geruch usw., die alle durch Intuition oder >pratibha< wahrgenommen werden, ohne einen anderen spezialisierten >samyam<.

 

Durch >samyam< über seine eigene wesentliche Natur (die Erkenntnisfähigkeit) erlangt man die Kraft reinen Erkennens ohne die äußere Hilfe der Sinne und der Sinnesorgane. Durch die >indriyas<, die in ihren jeweiligen Zentren schlummern, erfreut man sich eines Zustandes unaussprechlicher Wonne (anand) der >Sanand Samadhi< genannt wird.

 

2)     Durch >dharna< oder >samyam< auf gewisse Besonderheiten des Körpers, wie die Gesichtsfarbe, die Stimme oder ähnliches, lernt man den Zustand und die Gemütsart anderer verstehen.

 

3)     Durch >samyam<:

 

a)     auf das Gemüt (oder Gedanken) erfährt man über dessen Inhalt;

b)    auf die Zeit erlangt man Wissen über alles;

c)     auf Luft und Äther, oder auf die Beziehung zwischen diesen beiden, wird man mit dem göttlichen Hören (shabd) ausgestattet und nimmt durch den reinen Willensakt jeden subtilen Ton in der Ferne wahr. Auf gleiche Weise entfaltet man durch die Verbindung mit >adhistana-bhutas< (vayu, tejas und prithvi usw.) die Kräfte der anderen Organe in vollstem Umfang.

d)    Durch  >samyam< auf die Verbindung zwischen Äther und Körper oder auf die Leichtigkeit der Baumwolle erwirbt man die Kraft des Fliegens durch den Äther oder die Luft, denn der Körper wird außerordentlich leicht, und man kann sich gleich einem Vogel überall im Raum bewegen und sich sogar von den Strahlen der Sonne tragen lassen.

 

Ein Yogi, der >sidhi< im >kechari mudra< hat, kann auch in der Luft fliegen. (Einer, der >shammohan vidya< oder >indra jala< kennt, kann sich gleichfalls durch den Raum bewegen, aber das ist nur >jala< oder ein Trick und nichts Echtes, denn in Wirklichkeit bleibt er auf der Erde stehen, und wenn man ihn dabei fotographieren würde, erhielte man nicht das Bild eines Menschen, der durch die Luft fliegt.)*

 

e)   Wenn auf die Veränderungen des Gemüts, bringt es Wissen um die Vergangenheit und die Zukunft.

f)    Wenn auf >videha<, kann man den Körper nach Belieben verlassen und ohne ihn wirken.
Man kann die alles durchdringende Natur in ihrer ganzen Allgegenwart empfinden und >kaya parvesh<< zustande bringen, das heißt in den Körper eines anderen eindringen und durch dessen Körper und Gemüt wirken.

g)  Wenn auf die >sanskaras< (Gemütseindrücke), erlangt man Wissen um frühere Geburten.

 

9) Durch Meisterschaft über:

 

a)     >Udana vaya< endet jedwede Beziehung zu Wasser, Schmutz und Dornen, und man kann seine Existenz nach Belieben beenden, denn durch >Udana< kann man den Astralkörper vom physischen trennen und sich durch den Raum bewegen.

b)    >Samana vaya< ergibt Strahlkraft, und man kann Feuer und Lichtblitze vom Körper ausgehen lassen.

 

10)   Durch >samyam< auf Tugenden:

 

a)     auf  Freundlichkeit oder andere Vorzüge erlangt man die Kraft, dies auf andere zu übertragen;

b)    auf Unterscheidungskraft (der besonderen Beziehung zwischen >satva< oder Reinheit und >purush< oder der Seele) erlangt man die Fähigkeit der Allgegenwart und Allwissenheit;

c)     auf >shabd< erlangt man Wissen von den Tönen aller lebenden Wesen (einschließlich Tieren und Vögel);

d)    auf die >karmas< erlangt man Wissen über die Zeit des Todes.

 

Wenn das Gemüt gänzlich rein und bis zu den Wurzeln von >satva< durchdrungen ist, dämmert ganz plötzlich Erleuchtung auf. Das Gemüt hat fünf Zustände:

 

a)     >Kshipta< oder das wandernde Gemüt, wo sich der Gemütsstoff in einem Zustand beständiger Zerstreuung befindet.

b)    >Mudha< oder das träge und vergeßliche Gemüt in einem Zustand der Verwirrung und Dummheit.

c)     >Vikshipta< oder das Gemüt, das sich vorübergehend sammelt und konzentriert, um sich dann wieder zu verzetteln. Diesem Zustand  fehlt noch die Beständigkeit.

d)    >Ekagrata< oder das Gemüt, das mit zielbewußter Aufmerksamkeit und Beständigkeit der Absicht begabt ist.

e)     >Nirodha< oder das Gemüt, das geschult, beherrscht und in Schranken gehalten wird.

 

Unter den ersten drei Umständen ist kein Yoga möglich. Er ist nur dann ausführbar, wenn sich das Gemüt in dem unter d) und e) aufgeführten Zustand befindet.

Außer den Vorhergenannten gibt es acht Arten von >siddhis< oder Kräften, die gewöhnlich von >siddhas< oder höheren Wesen ausgeübt werden:

 

a)     >Anima< - die Fähigkeit, alle Dinge, selbst ein Atom (anu) zu durchdringen und seine innere Struktur zu erkennen.

b)    >Laghima< - die Fähigkeit, Schwerelosigkeit zu erlangen, so daß man sogar auf den Sonnenstrahlen sitzen kann. Hiervon wird oftmals bei Levitationen und Translevitationen Gebrauch gemacht, trotz den Gesetzen der Schwerkraft.

c)     >Garima< - die Fähigkeit, so schwer wie Stahl zu werden und jeden Gegenstand unbeweglich zu machen. Es ist das Gegenteil von >Laghima<.

d)    >Mahima< - die Fähigkeit, ausgedehnte und alles durchdringende Größe gleich der des Raumes zu erlangen und das Wirken weitentfernter Dinge zu sehen, wie die Sonnensysteme und das Weltengesetz.

e)     >Prapti< - die Fähigkeit, an jeden beliebigen Ort und selbst auf den Mond zu gelangen. Man wird mit einem alles durchdringenden Sinn ausgestattet.

f)      >Prakamyam< - die Fähigkeit, jeden Wunsch erfüllt zu bekommen.

g)     >Vasitvam< - die Fähigkeit, allen Geschöpfen und elementaren Kräften gebieten und sie beherrschen zu können, wie dem Wind, dem Regen usw.

h)     >Ishitva< - die Fähigkeit, den Schöpfer, Erhalter und Zerstörer spielen zu können.

 

Darüber hinaus gibt es viele untergeordnete Ziele, die man durch den einfachen Prozeß der Selbstbeherrschung  und Konzentration, genannt >samyam<, erwirbt. Zum Beispiel:

 

1.     die Sprache der Vögel und Tiere zu verstehen;

2.     um die vorhergehenden Geburten zu wissen und Vorkenntnis des Todes zu haben;                                                                                                                                                     

3.     die innersten Gedanken anderer zu lesen;

4.     von ferne Wissen über geheime und subtile Dinge zu haben, wie über Himmelskörper und Sterne;

5.     zukünftige Dinge vorauszusehen;

6.     sich an jeden beliebigen Ort der Welt begeben zu können;

7.     durch Berührung zu heilen;

8.     körperliche Vollkommenheit in Form (rupa), Aussehen (ranga), Kraft und Stärke (bala), Stetigkeit (sanhanan) und körperlichen Reiz (lavanya) usw. zu erwerben.

 

Hier muß notwendigerweise ein Wort der Warnung angebracht werden hinsichtlich der >riddhis< oder der übernatürlichen Kräfte, die man im Verlaufe der Yoga-sadhna-Praxis oder –Schulung oftmals erwirbt. Alle diese übernatürlichen Kräfte oder >siddhis< muß man gewissenhaft meiden, denn sie sind unbedingte Hindernisse auf dem Weg zu wirklichem spirituellem Fortschritt und dem Erreichen der Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis, dem großen Ziel und Zweck des Yogasystems.  Die >Devatas< sind häufig eifersüchtig auf die menschliche Seele, die sich auf dem spirituellen Pfad befindet.

 

Sie kommen lächend, den Yogi zu begrüßen, sobald er Zugang zu höheren Regionen erworben hat; sie laden ihn mit süßen und listigen Worten ein und versuchen, ihn in die Falle zu locken und zu stürzen.

 

Selbst der große Yogi Vishvamitra wurde durch die Schönheit eines himmlischen Wesens, eines Mädchens, verführt, das Indra gesandt hatte, um ihn zu versuchen. Er ging unversehens in die Falle und fiel zurück. Diese Versuchungen befallen einen auf der zweiten Stufe der Reise. Sie können jedoch einem, der am Pfad festhält und in seinen Übungen standhaft und beharrlich ist, nichts anhaben.

 

Gib die  >siddhis<  auf und vernichte die Saaten der Gebundenheit; erlange  >kaivalya<, den Zustand völliger Ruhe und Unabhängigkeit.

 

Und wieder ist gesagt:

 

Laß dich nicht verführen durch das gewinnende Lächeln himmlischer Wesen, und meide den Umgang mit allem, was nicht wünschenswert ist.

Patanjali  

 

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