VII. Dhyan

 

(Kontemplation oder Meditation)

 

Fortgesetzte Konzentration, wie durch >dharna< ins Auge gefaßt, führt zu einem beständigen Fluß der Wahrnehmung, der  >dhyan< oder Kontemplation (Meditation) genannt wird. Es gibt zwei Arten des >dhyan< oder der Meditation: eine grobe und eine feine (subtile). Es ist nahezu unmöglich, sich sogleich der subtilen Meditation zuzuwenden, und darum muß man zunächst mit der groben beginnen.

 

Die grobe oder objektive Meditation besteht darin, daß man über einen persönlichen Aspekt Gottes, >Isht<, eines Gottmenschen oder eines Meisters (des lebenden Meister-Heiligen) meditiert.

 

In der subtilen Meditation ist das Auge auf  >Bindhu< oder das Einzelauge geheftet, den stillen Punkt im Körper, der hinter und zwischen den beiden Augenbrauen liegt. Hier begegnen sich Zeit und Zeitlosigkeit, wo das Ungeoffenbarte offenbar wird (der Widerschein davon findet sich in >pind< oder der niedrigen Region des Körpers, das heißt im >guda chakra<, in dem die zusammengerollte Energie in einem unerschlossenen Zustand liegt). Nach einiger Übung auf  >Bindhu< erhellt sich die dunkle Stelle, und das innere Licht nimmt ganz allmählich die strahlende Form des Meisters an. Von hier aus beginnt dann das, was eine Licht-Kontemplation genannt wird.

 

Wenn in der Meditation der Gottmensch im Innern erscheint, sieht man die Geheimnisse der Ewigkeit gleich einem offenen Buch.

Maulana Rumi

 

Während man bei der grobstofflichen Kontemplation auf die sichtbare Form (swaroop) des >Ishtdeva< oder des Gurus meditiert, geschieht es bei der subtilen Kontemplation auf den >aroop< (das Formlose) oder den dunklen Punkt zwischen den Augenbrauen, der nach und nach aufzuleuchten beginnt.

 

An dieser Stelle soll für die Wahrheitssucher eine Warnung vorgebracht werden. Wir können keine zufriedenstellenden Ergebnisse bei der Meditation über die Form früherer Meister erzielen, die ihre göttliche Mission auf Erden beendeten, indem sie zu ihrer Zeit >jivas< oder Seelen verbunden haben, aber nun nicht mehr mit der physischen Welt in Berührung stehen. Auch müssen wir bei unserer Suche nach einem vollendeten Meister auf der Hut sein, denn eine Meditation auf die Form eines unvollendeten Meisters wird nichts fruchten. Um alle Fallgruben zu umgehen, ist es viel sicherer, wenn wir eine Meditation auf jegliche Form eines früheren oder gegenwärtigen Meisters unterlassen. Es ist besser, seine Übungen den Anweisungen entsprechend auszuführen; denn wenn der Meister vollendet ist, wird seine Form von selbst im Innern erscheinen und sich der individuellen Seele annehmen, sobald sie sich über das Körperbewußtsein erhebt. Gott selbst offenbart sich in der Form eines Gurudev, vorausgesetzt, natürlich, daß der Guru wirklich in die Gotteskraft eingebettet ist. Diese Bemerkungen gelten, mit gewissen Einschränkungen, für die Meditation auf  >Ishtdevas<, wie sie gewöhnlich ausgeführt wird. Meditieren über das Formlose geht über das menschliche Begreifen hinaus, da man sich die Wirklichkeit, die jenseits aller Begriffe liegt, nicht vorstellen kann. In einem solchen Fall kann man flüchtig irgendwelche subtilen Elemente erblicken, die uns aber nicht weiterbringen können.

 

Das Lesen von Schriften und anderer heiliger Bücher ist auf diesem Pfad nicht von großem Nutzen, es sei denn, daß es ein Interesse in uns wachruft. Der größte Lehrer der Menschheit ist der Mensch selbst.

 

Es genügt, wenn einer weiß, wie er das große lebendige Buch des menschlichen Herzens öffnen kann (>Herz< bedeutet hier den Sitz der Seele, das heißt das >aggya< oder >ajna chakra<), welches das einzige erschöpfende Schatzhaus allen Wissens und aller Weisheit ist. Man braucht lediglich die Augen zu schließen, die Sinne zurückzuziehen und das Heiligtum seines Herzens zu betreten, um dann sein Sein mit der höchsten Seele in den innersten Tiefen zu verschmelzen.

 

Er, der ewig Seiende, das aus sich selbst leuchtende Licht, das vollkommen in sich selbst und auf ewig das gleiche ist, wohnt im Tempel des menschlichen Körpers; und wer Ihn erkennen und erreichen will, muß tief in sich selbst graben, dann wird sich ihm zweifellos alles enthüllen. >>Klopfet an, so wird euch aufgetan<<, sagten die Heiligen und Seher aller Zeiten und Länder. Dieses Eintauchen im Innern bringt der Seele die Erfahrung von allem, was existiert, sei es sichtbar oder unsichtbar, eine direkte intuitive Erkenntnis oder göttliche Weisheit; und dies alles sind die Gaben, die einem dann von selbst frei und in Fülle zukommen, wenn man die Welt, Freunde und Verwandte, seine Umgebung, oder besser – sein ganzes körperliches Dasein vergißt. Freiwilliges Vergessen ist der größte spirituelle  >sadhan<. Indem man alles vergißt, muß man über das Körperbewußtsein gelangen, denn das ist die erste Bedingung einer richtigen Meditation.

 

Und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen,

von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften.

Mark. 12, 30

 

In der tiefen und schweigenden Meditation muß man sein Sein in liebender Versenkung mit dem Geliebten im Innern verschmelzen und sich selbst in die große Seele des Universums verlieren.

Das ist die höchste Kontemplation, die zu dem meistbegehrten Ziel des  >samadhi< führt.

 

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