3. Der Ashtang Yoga und der moderne Mensch

 

Die ist das ganze Geheimnis des Yogasystems, wie es ursprünglich von Hiranyagarbha verkündet und der Welt durch Gaudapapa und Patanjali, die bekannten Philosophen und Denker, erläutert wurde.

 

Auf diesen wenigen Seiten ist der Versuch unternommen worden, einen kurzen Bericht über die Yoga-Philosophie zu geben, wie sie uns aus grauer Vorzeit überliefert wurde und auch heute noch als die Grundlage der uralten Weisheit Indiens betrachtet wird.

 

Das Yogasystem ist eine Schulung, die der intensiven Meditation in aller Einsamkeit bedarf, verbunden mit körperlichen Übungen und Haltungen zur Kontrolle und Beherrschung des Gemüts und der  >pranas<. Denn diese müssen in eine Richtung entwickelt werden, die bei der Unterwerfung der Sinne hilfreich ist. Es ist als solches für die Reinigung des Körpers und Gemüts gedacht und bereitet den Weg für eine beseligende Schau. Die Hingabe an Gott oder den >Ishvar< spielt bei der Verwirklichung im Yoga eine große Rolle. Der persönliche Gott der Yoga-Philosophie steht im Yogasystem fernab, weil das letzte Ziel mancher Yogis die Trennung des  >atman< vom Gemüt und nicht die Einswerdung mit Gott ist. Darum bewegt sich dieses System immer im Bereich des Dualismus. Sein Hauptziel ist die Loslösung des umhüllten  >Jiva< aus dem verkörperten Zustand, damit er  >atman< wird, befreit aus der Bedingtheit des Gemüts und der Materie. Sowohl der verstandesmäßige Wille als auch das schwankende Gemüt stellen dann ihr Wirken ein, werden ruhig und lassen die Seele frei, auf daß sie in ihrem wahren und ursprünglichen Licht erstrahlt.

 

Die Yoga-Übungen tragen im allgemeinen Gesundheit, Kraft und Langlebigkeit ein und helfen bis zu einem gewissen Grad, Krankheit, Verfall und frühren Tod zu trotzen. Man kann auch psychische und übernatürliche Kräfte erwerben, wenn man die Natur und ihre Gesetze beherrscht. Durch die verstärkte Sinneskraft vermag der Yogi in weite Entfernung zu hören und zu sehen, in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einzudringen, Gedanken zu übertragen und Wunder zu tun.

 

Viele Schüler der heutigen Zeit und mehr noch solche mit westlicher Denkweise neigten bei der ersten Begegnung mit Yoga dazu, ihn als etwas abzutun, das nichts weiter als ein sorgfältig ausgearbeitetes Mittel zur Selbsthypnose sei. Eine solche Einstellung ist ganz unwissenschaftlich, wenn sie auch des öfteren unter dem Deckmantel der Wissenschaft zutage tritt. Es ist gewöhnlich nichts als Voreingenommenheit, die aus der Unkenntnis oder einem nur oberflächlichen Wissen über die Sache stammt. Und es ist natürlich, daß wir den Versuch machen, Phänomene, mit denen wir nicht vertraut sind und die unserer gewohnten Denkweise über das Leben hohnsprechen, dem Bereich des Aberglaubens zuordnen; denn sie zu studieren, zu verstehen, zu prüfen und sie zu akzeptieren würde Mühe und Beharrlichkeit erfordern, was die meisten von uns nicht aufzubringen vermögen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß bei manchen sogenannten Yogis die Bezeichnung  >Selbsthypnose< gerechtfertigt ist. Aber diejenigen, welche den Namen Yogi wirklich verdienen, diese sehr wenigen, die zu bescheiden sind, als daß sie der Öffentlichkeit zu gefallen suchten, haben nichts an sich, was auf einen weltflüchtigen Neurotiker suggestiv wirken könnte. Sie sind sich beständig in bemerkenswert sensitiver Weise des Lebens in all seiner Vielfalt und Verschiedenheit bewußt. Diese Bewußtheit, verbunden mit ihrer Bescheidenheit, läßt alles Reden über Selbsttäuschung als völlig unpassend ja lächerlich erscheinen. Denn wenn man das Unwandelbare hinter dem Wandelbaren und das Wirkliche hinter der bloßen Erscheinung sucht, kann das mit Sicherheit nicht als Selbsthypnose bezeichnet werden. Viel eher zeigt sicht hier ein forschender Geist, der in seiner Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit ungewöhnlich ist, der sich mit nichts geringerem als mit der absoluten Wahrheit zufrieden gibt.       

 

Und die Haltung des Verzichts, die hierfür erforderlich ist, ist äußerst schwierig. Daher kommt es, daß  im Laufe der Zeit und in dem Maß, wie das Wissen allmählich die Unwissenheit verdrängt, das frühere Philistertum sich immer weniger behaupten kann. Dieser Fortschritt ist nicht zuletzt der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften zu verdanken; denn durch die Enthüllung, daß in dieser physischen Welt alles relativ und die Materie nicht eine solche an sich ist, sondern letztlich eine Form der Energie, hat sich zumindest auf niederer Ebene die Vorstellung von der Welt bestätigt, wie sie das Yogasystem kennt, und ihm eine wissenschaftliche Gültigkeit zugebilligt, wo man früher Zweifel hegte.

 

Man wird jedoch, auch wenn man die Grundlage des  >Ashtang Yoga<, wie sie von Patanjali überliefert ist, anerkennt, zugeben müssen, daß er alles andere als eine leichte Schulung ist.

 

Selbst Gaudapapa gab zu, daß ihm zu folgen dem Versuch gleicht, das Meer mittels eines Grashalms tropfenweise zu leeren. Als er noch entwickelt wurde, erforderte er schon eine sehr strenge Lebensweise, und die unabänderliche Folge davon war das Ideal der vier  >ashramas<. Wenn einer etwas wesentliches erreichen wollte, mußte er von Kindheit an damit beginnen. Die ersten fünfundzwanzig Jahre - >Brahmacharya< - waren für die rechte Entfaltung von Körper und Geist aufzuwenden, indem man physische und geistige Gesundheit anstrebte, die den Unbilden des Lebens zu widerstehen vermochte. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre - >Grehastya< - waren einem Leben als Familienvater eingeräumt – als Stütze für die Alten, als Beistand für die Frau und als ein rechter Lehrer für die Kinder. Die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft waren erfüllt, der Tod kam näher, und das Leben hatte man bis zur Neige kennengelernt. Man war nun frei, nach seiner inneren Bedeutung zu suchen, und reif, sie zu verstehen. Und so waren die folgenden fünfundzwanzig Jahre in >Vanprasth<, der Einsamkeit der Berge und Wälder, zu verbringen, bis man durch verschiedene  >sadhans< (Übungen) und eifrige Meditation Erleuchtung erlangte. So konnte man zuletzt ein >Sanyasin< genannt werden. Für das letzte Viertel der Jahrhundertspanne sah ein vollkommenes Leben vor, den Mitmenschen auf ihrer Suche nach spiritueller Freiheit behilflich zu sein. Auch in der alten Zeit war das Ideal der vier  >ashramas< kein leichtes. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der Yoga nur auf wenige Auserwählte beschränkt war und nicht als Lehrgang propagiert wurde, dem die Allgemeinheit hätte folgen können. Er bestand nur als eine Geheimschule, die die spirituelle Fackel vom Guru an den Chela (Schüler) in strenger Folge weitergab. Die modernen Verhältnisse haben seine Verwirklichung in dieser Form ungleich schwieriger, wenn nicht unmöglich gemacht. Da das Leben an sich komplizierter geworden ist und die verschiedenen Berufe sich immer mehr spezialisiert haben, ist es den Menschen nicht mehr möglich, die ersten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens einzig und allein der Entwicklung von Körper und Geist zu widmen, als Vorbereitung für die letzte Suche. Sie müssen sie in Grundschulen, weiterführenden Schulen und Institutionen zubringen, die zum Zweck der Berufsausbildung den größten Teil der Energie in Anspruch nehmen. Man kann auch nicht von dem einen, mitten im Leben stehenden Viertel der immer mehr anwachsenden Bevölkerung erwarten, daß es den Lebensunterhalt für die anderen drei Viertel aufbringt, wie das vielleicht einmal möglich war.

 

Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hat sich der gründliche achtfache Yoga des Patanjali mit der Zeit noch mehr spezialisiert und ist noch komplizierter geworden. Jeder seiner Zweige hat sich bis zu einem Punkt entwickelt, wo man annehmen könnte, er sei für sich schon vollständig. Somit ist es kein Wunder, daß der Mensch, der alle Einzelheiten übt, die vielen  >yamas< und  >niyamas< meistert oder lernt, wie man die pranischen und manischen Kräfte unter Kontrolle bringt, zu der Ansicht kommt, daß sein besonderes Spezialgebiet nicht das ist, wie es Patanjali gesehen hat, nämlich eine Sprosse in der Leiter des vollständigen Yoga, sondern der Yoga schlechthin. Ohne Zweifel hat er den einen oder anderen Nutzen von dem, was immer er praktiziert, und nicht selten erwirbt er große psychische und physische Kräfte; aber diese Gaben werden hinsichtlich seines wirklichen Fortschritts ein unbedingtes Hindernis sein und keine Hilfe, da sie seine Aufmerksamkeit vom letzten Ziel ablenken.

 

Nur ganz wenige Menschen, die mit einer seltenen körperlichen Ausdauer, langem Leben und einer außergewöhnlichen Befähigung ausgestattet sind und die das entfernte Ziel nicht vergessen, können in unserer Zeit Patanjalis  >Ashtang Yoga< bis zu seinem logischen Schluß, seinem höchsten Ziel verfolgen: der Einswerdung mit Brahman. Für die übrigen bleibt er entweder zu schwierig, um ihn auszuüben, oder eben ein Prozeß, der sie verleitet, irrtümlich die Zwischenstufen für das Letzte, die Mittel für das Ziel zu halten, was die eigentliche Absicht vereitelt.

 

Wenn Spiritualität einen langsamen Aufstieg über alle Sprossen dieser schwierigen und verwickelten Yogaleiter zur Folge haben muß, hat sie keine andere Wahl, als für die gesamte Menschheit ein verschlossenes Geheimnis zu bleiben. Wenn sie jedoch als freie Gabe der Natur so wie die Sonne, die Luft und das Wasser zu haben ist, dann muß sie selbst für eine Technik Sorge tragen, die für alle annehmbar ist, für ein Kind genauso wie für einen Erwachsenen, für den Schwachen ebenso wie für die Starken und für den Familienvater so wie für den  >Sanyasin<. Eine solche Technik geben uns Kabir und Nanak; wir wollen uns später mit ihr befassen.

 

Weiter