IV. Raja Yoga

 

Wie der Name schon sagt, bedeutet es >der königliche Weg zur Vervollkommnung< - der Vervollkommnung der Seele, die sich gegenwärtig in einem Zustand der Aufspaltung und Zerteilung befindet, denn sie hat durch den zerstreuenden Einfluß des Gemüts, das durch so viele nach außen gehende Kanäle fließt, ihren inneren Halt verloren. Dieser Weg bietet eine wissenschaftliche Annäherung an Gott und ist bestens geeignet für wissenschaftlich denkende Menschen, die sowohl in der äußeren Welt wie auf dem inneren Weg wissenschaftlich vorgehen. Der  >Raja Yoga< beruht auf der Annahme, daß das wahre Selbst im Menschen ganz anders und viel wunderbarer ist, als man gewöhnlich annimmt und als es im alltäglichen Leben erscheint, nämlich Begrenzungen unterworfen, die es von allen Seiten bedrücken und belasten, so daß es unter den Anforderungen praktischer Zwecke ein begrenztes Element zu sein scheint und nicht, was es tatsächlich ist, die unbegrenzte Wirklichkeit.

 

Wiederum muß man die Experimente, die der  >Raja Yoga< einschließt, an sich selbst ausführen, ungleich jenen anderen Wissenschaften, bei denen der ganze Vorgang ein Experiment mit der äußeren Natur ist. Von einem Raja Yogi wird nicht erwartet, daß er etwas für selbstverständlich hält oder blindlings eine Autorität annimmt, seien es die Schriften oder eine andere. Er verfolgt im wesentlichen einen Pfad der Selbsterfahrung im Laboratorium des Gemüts, und er kommt langsam, aber Schritt für Schritt vorwärts und hält nicht an, bis das Ziel erreicht ist.

 

Nach dem  >Raja Yoga< ist der Mensch ein  >überdecktes Wesen<, das in viele übereinanderliegende Hüllen gekleidet ist, in den Körper, körperliche Gewohnheiten, angeborene und erworbene Lebensformen, Sinne und Sinneshörigkeit, Lebensenergien, in ein ruheloses Gemüt mit unzähligen mentalen Vibrationen, den immer aktiven Willen, Ichbezogenheit usw., die alle Umhüllungen und Schleier bilden und den  >atman< bedecken. In ihrem Innern liegt unter der Erscheinungsform der Persönlichkeit das Kronjuwel des Selbst, das Ewige im Menschen. So besteht die vollkommene Befreiung (mukti) in der gänzlichen Loslösung von all den zahllosen begrenzenden Vorgängen, die das unbegrenzte Meer des schöpferischen Lebensprinzips umgeben, um alle Macht, alles Leben, alle Weisheit, alle Freude, alle Glückseligkeit und alles andere in Fülle zu erlangen. Mit anderen Worten bedeutet es die Entpersönlichung der Seele, indem man die Persönlichkeit oder die Maske, die der Schauspieler trägt, wenn er auf die Bühne kommt, um seine Rolle zu spielen, buchstäblich herunterreißt.

 

Die Arbeit des Raji Yogi ist es, die Wirklichkeit, die in ihm liegt, zu demaskieren, indem die unzähligen Masken oder falschen Indentifikationen entfernt werden. Dadurch wird das große  >>Selbst<< von den Hüllen, die es umgeben und behindern, befreit. Der  >Ashtang Yoga< oder der achtfältige Pfad des Patanjali führt zu dem, was gemeinhin als  >Raja Yoga< bekannt ist. Er ist die Leiter, über die man >Nirbij samadhi<,  >Unmani<,  >Sahaj-awastha< oder  >Turiya Pad< erreicht, was die Krone aller Yogasysteme bildet und der Höhepunkt der Yoga-Kunst ist. Er befaßt sich mit der Schulung des Gemüts und der physischen Kräfte, und die in einem Maße, daß Erleuchtung erlangt wird, wobei man alles in seinem wahren Licht erkennt und man in voller Ausgeglichenheit einen Zustand von wacher Trance erfährt. Die Seele ist dabei unerschütterlich an ihrem Zentrum  >Sam< verankert, wenn es auch so scheint, als ob man wie die übrigen Menschen in die weltlichen Dinge vertieft sei. Dieser Zustand ist der Gipfel aller Bemühungen und Übungen des Yogi. Wenn er diesen einmal erreicht hat, ist er, selbst wenn er noch in der Welt lebt, dennoch nicht mehr von der Welt. Auf diese Weise kam es, daß Raj Rishi Janaka und Lord Krishna, der Herr der Yogis, in der Welt lebten und sich stets mit den weltlichen Dingen befaßten und das Rad der Welt in ihren Händen in beständiger Bewegung hielten, doch mit einem stillen Zentrum, das in der göttlichen Ebene ruhte. Alle ihre Handlungen waren durch Tätigsein im Nichttätigsein gekennzeichnet. Das ist der Höhepunkt im Yogasystem, ein Zustand, in dem die Sinne, das Gemüt und der Intellekt zum Stillstand kommen. In der Katha Upanishade ist darüber gesagt:

 

Wenn alle Sinne ruhig sind und das Gemüt stetig ist,

wenn der Intellekt sich nicht bewegt – das, sagt der Weise,

ist der höchste Zustand –

Kaivalya Pad (der Zustand höchster Verwirklichung).

 

Er strebt nach  >samadhi< (die letzte Stufe in Patanjalis Yogasystem), wobei das Individuum als solches aufgehoben wird und sich die unbegrenzte und unverkörperte, schrankenlose und freie Ganzheit erfährt, die gleich dem Äther alles durchdringt. Man sieht alle Dinge unter dem Aspekt der Ewigkeit.

 

Ein paar Worte über  >samadhi< sollen hier nicht fehlen. Der  >samadhi< kann sowohl bewußt wie auch überbewußt sein. In dem einen bleibt sich der Geist der Dinge bewußt, während sich im anderen eine innere Ruhe zeigt, in der man die Dinge sieht, wie sie wirklich sind, und blitzartig wahre Einsicht in sie bekommt. Es ist ein Schauen mit der Seele (oder dem inneren geistigen Auge), wenn unsere körperlichen Augen geschlossen sind. Dies ist unmittelbares und direktes Wissen, zum Unterschied vom mittelbaren Wissen, welches durch das Medium der rauchgeschwärzten Gläser der Sinne, des Gemüts und des Verstandes gewonnen wird. Es ist ein Zustand  >>völligen Schweigens<<, der weit über dem betäubenden Gewühl der äußeren Welt liegt. Es ist ein mystischer Zustand, in welchem  >chit<,  >manas<,  >buddhi< und  >ahankar< ihre Funktionen eingestellt haben und das losgelöste und entpersönlichte  >Selbst< allein in seinem eigenen Glanz erstrahlt. Über diesen Zustand sagt uns Vyasa:

 

>>Yoga kann am besten durch Yoga erkannt werden, denn Yoga wird durch Yoga offenbar.<<

(Yoga Bhasya 111-6).

 

Die heiligste Silbe bei den Raja Yogis ist Aum. Die Mandukya Upanishade enthält einen ausführlichen Bericht über dieses Wort. Es ist dasselbe wie das heilige Wort des Johannes-Evangeliums. Es ist das >Kalma< oder  >Bang-i-Quadim< der Moslems,  >Akash Bani< oder  >Vak Devi< der alten Rishis, >Udgit< oder >Nad< der Upanishaden, >Sarosha< des Zoroaster und  >Naam< oder  >Shabd< der Meister. Die Welt und die Veden stammen von dieser Silbe Aum ab. In der Bhagavad Gita heißt es:

 

>>Der Brahmane, der Aum wiederholt und darüber sinnt, wandelt, den Körper verlassend, auf der höchsten Bahn.<< Lord Krishna sagt von sich:  >> Ich bin  >Omkar<, ich bin  >Pranva< in all den Veden; in der Rede bin ich  >Ek-Ashra< (die eine Silbe).<< In den Upanishaden lesen wir: >>Aum ist der Bogen und der Geist ist der Pfeil; Brahman ist das Ziel. Erkennt das Brahman durch Konzentration, erreicht das Ziel durch ungeteilte Schau (Ekagrata) und werdet dann wie der Pfeil eins mit dem Ziel – die individuelle Seele wird sich mit Brahman eins wissen.<<  

 

Eine einzige Vibration in  >Brahman< - Eko Aham Bahusiam – verursachte alle  >Lokas< und schuf alle Ebenen, die spirituellen, kausalen, astralen und physischen mit ihren zahllosen Aufteilungen und Unterteilungen. Die physischen Vibrationen im Menschen stehen im Einklang mit der Urvibration, die zur Projektion der  >Shrishti< führte oder dem Universum samt seinen Trinitäten wie  >Brahman, Vishnu und Shiva<;  >Satva<,  >Rajas< und  >Tamas<;  >jagrat<,  >swapan< und  >sushupti<, die alle in  >Aum<, dem Herrn der drei Welten, enthalten sind.

 

>Yama<, der Todesgott, erklärte Nachiketa:  >>Vom Ziel, das alle Veden uns verkünden, das zu erreichen, sich die Menschen Bußen und Opferdienste auferlegen und ein Leben der Enthaltsamkeit  (tapas), von diesem will ich kurz dir sprechen. Es ist  >Aum<. <<

 

So bedeutet auch der Begriff  >pranva< etwas, das ewig, immer neu, unwandelbar und beständig ist (kutastha nitya) wie das Verhältnis zwischen  >Shabd< und seiner Bedeutung – im Gegensatz zu >parinama nitya<, das sich immer wandelt.

 

Durch obiges ersehen wir, daß jede der vier klassischen Yoga-Formen nur ein Bestandteil des Yogasystems in seiner Ganzheit ist, wie es von Patanjali kundgetan wurde, doch mit besonderer Betonung des einen oder anderen Aspekts, und wir sehen, daß diese eine fortschreitende Entwicklung zeigen, vom  >Mantra siddhi< zum  >Raja Yoga<, wobei jeder Schritt den Weg zur nächsthöheren Stufe auf dem Yogapfad bahnt.

 

Um den Yoga gangbarer zu machen, wurden in späteren Zeiten für verschiedene Menschentypen, dem individuellen Temperament und der beruflichen Tätigkeit entsprechend, unterschiedliche Formen geschaffen. Während sich Personen, die sehr intellektuell waren und alles durchdachten, häufig dem  >Jnana Yoga< oder dem  >Yoga des Wissens< zuwandten, wurden mehr gefühlsbetonte Menschen von >Bhakti Yoga< oder dem  >Yoga der Hingabe< angezogen, der in ergebungsvollen Übungen wie dem Singen von Hymnen und Psalmen (so wie es Prinzessin Mira und Chaitanya Mahaprabhu taten) besteht. Wiederum waren jene, die sich hauptsächlich mit äußeren weltlichen Tätigkeiten befaßten, am besten für  >Karma Yoga< oder  >Yoga des Handelns< geeignet, der aus Härten und Bußen, Fasten und Nachtwachen, Ableisten von  >yajnas< und anderen wohltätigen Werken besteht, und aus verdienstvollen Taten, wie Wallfahrten zu heiligen Orten, Lesen der Schriften usw., und vor allem dem Pfad des selbstlosen Dienstes. Auf diese Weise entstanden drei Arten des  >volkstümlichen Yoga<, nämlich der des Kopfes, der des Herzens und der der Hand - >Jnana Yoga<,  >Bhakti Yoga< und  >Karma Yoga<. Diese Yogas finden ihre erste klare und unzweideutige Darlegung in der Bhagavad Gita; und Lord Krishna steht mit ihnen auf gleiche Weise in Verbindung wie Patanjali mit den vier traditionellen Arten.

 

Es muß jedoch gesagt werden, daß man diese drei Yoga-Arten nicht in enge und abgegrenzte Klassen aufteilen kann. Keine von ihnen kann nur für sich selbst und unter völliger Ausschließung der anderen ausgeübt werden. Sie weisen lediglich auf die vorherrschenden und angeborenen Charakterzüge im Wesen eines Strebenden hin. Bloßes theoretisches Wissen über Yoga, ohne Hingabe und Handeln, gleicht einem Baum, der des Laubes und der Früchte beraubt und somit gerade gut genug für des Holzfällers Axt ist. Wiederum ist Hingabe an sich bedeutungslos, wenn man die Sache nicht verstandesmäßig begriffen und eine tatsächliche Erfahrung von ihr hat und tätig danach strebt.

 

Die Handlungen an sich, seien sie gut oder schlecht, ohne Hingabe und Kenntnis, halten einen in beständiger Gebundenheit gleich Fesseln aus Gold oder aus Eisen, wie der Fall gerade liegt, denn beiden wohnt dieselbe bindende Kraft und Wirkung inne. Diese Welt ist ein >Karma Kshetra< oder ein Bereich des Handelns, und alles Tun auf der Sinnesebene, ohne das unterscheidende Wissen und die liebevolle Hingabe, trägt Frucht, die der Handelnde, ob er will oder nicht, notgedrungen ernten muß. Nur solche Handlungen, denen man nicht verhaftet ist und die ohne den Wunsch nach den Früchten ausgeführt werden, können Befreiung bringen.

 

Darum muß man in diesem  >Karma Bhoomi< ein  >Neh Karma< werden, damit man dem Rad der karmischen Knechtschaft entgeht. Das karmische Gesetz ist hart und unerbitterlich, und deswegen sollte man nicht unnötig endlose  >karmas< anhäufen, weil man dadurch ständig gebunden bleibt.

 

Nur der ist frei von der bindenden Wirkung der Karmas, der

sich mit dem heiligen Wort verbindet.

Guru Amar Das

 

 

So ist das Yogasystem seinem Wesen nach ein vollständiges Ganzes und kann nicht in künstliche Sparten aufgeteilt werden. In der Bhagavad Gita oder dem Hohen Lied, das im überragenden Maße ein >Yoga Sutra< ist, gibt Lord Krishna, der Herr der Yogis, dem Kshatriya-Prinzen Arjuna eine klare Darstellung der verschiedenen Yoga-Arten, um ihm die Bedeutung des  >Swadharm< oder des Pfades vom Dienen klarzumachen, und dies von verschiedenen Standpunkten aus gesehen; denn Arbeit ist im wahren Sinne des Wortes nichts anderes als Gottesdienst, wenn man sie als solchen verrichtet und frei ist von der Bindung an den Lohn dafür.

 

Weiter