Das Wesen von Brahman

 

Die bloße Idee einer  >Begrenztheit< zeigt die Existenz eines unbegrenzten an, so wie das Wort  >unwirklich< etwas Wirkliches einschließt - die Grundlage aller Intelligenz und Vorstellungskraft.

 

Auch haben wir das überragende Zeugnis der Schriften, die von der religiösen Erfahrung der  >Seher< aller Zeiten und Länder sprechen.

 

Das Wesen von  >Brahman< kann nicht in Worte gefaßt werden. Es ist die Grundlage von allem, was existiert. Es breitet sich überall aus und ist dennoch nirgends an etwas Bestimmtes gebunden. Es ist eine paradoxe Erscheinung von Sein und Nichtsein zugleich. Man kann dieses Problem auf zweierlei Weise betrachten: auf eine positive und eine negative. Zum einen ist Gott der unbegreifliche Absolute, zum anderen der Erschaffende und Wirkende, die erste Ursache alles Seienden: der Logos oder der heilige Geist, >Kalma< oder  >Bang-i-Qadim<,  >Nad< oder  >udgit<,  >Naam< oder  >Shabd<.

 

Die letztgenannten Begriffe weisen auf das Lebensprinzip hin, auf das  >Wort< oder die Gotteskraft, die allem innewohnt und in allem vibriert, vom Höchsten bis zum Untersten im Universum. Es ist die wesentliche wie auch die wirkende Ursache der Welt. Es ist das Prinzip der Wahrheit und des Gottesgeistes (der waltende Gott – Ekankar). Von dieser Gotteskraft sagt uns das Evangelium: >>Das Licht erscheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.<< Diese Kraft  >Brahmans< (Ishvar) oder der Gottheit ist der Mittler zwischen  >Brahman< und dem Universum und hat an der Natur beider Anteil. Ihre Einheit wird jedoch durch den Selbstausdruck in der Vielheit (Eko aham bahusiam) nicht berührt. Beide existieren als Wirklichkeit und Erscheinung, und der Unterschied entsteht nur durch die begrenzte Einsicht des Menschen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die höchste Wirklichkeit ist die Grundlage der Welt, wie wir sie kennen, von ihr sprechen und sie sehen. Die Vielheit oder Mannigfaltigkeit in der Einheit ist eine Folge irriger Beurteilung. Die Welt ist zwar unwirklich, aber keine subjektive Täuschung.

 

Das Absolute ist in der Welt, aber die Welt ist nicht im Absoluten; denn ein Schatten kann nicht den Platz der Wirklichkeit einnehmen. Etwas, das auf dem Wirklichen fußt, kann nicht selbst das Wirkliche sein. Die Welt ist nur die äußere Erscheinung der Wahrheit, aber nicht die wesentliche Wahrheit der einen Wirklichkeit oder der zentripetalen Kraft im Kern ihres Wesens.

 

Das individuelle Selbst ist eine Verflechtung von Neigungen und Abneigungen, Bevorzugungen und Vorurteilen, Absichten und Plänen, Erinnerungen und Assoziationen. Die bedingte individuelle Seele (jiva) ist ihrem Wesen nach der unbedingte  >Atman<. Dieses erfahrungsmäßige Selbst oder der individuelle Verstand ist durch Unkenntnis über seine wirkliche Natur der aktiv Handelnde, der, welcher sich freut und leidet im reinen Licht des  >Atman<, von dem er weder Wissen noch Erfahrung hat. Im physischen Körper, der aus fünf Elementen (Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde) zusammengesetzt ist, befindet sich der feinstoffliche Körper, der siebzehn Grundbestandteile hat (fünf Wahrnehmungsorgane: Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut; fünf Tätigkeitsorgane: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und äußeres Fühlen; fünf Lebensenergien sowie  >manas< und  >buddhi<) und in ihm eingeschlossen ist wie auch der Kausal- oder Ursachenkörper. Das begrenzte Selbst folgt dem unerbittlichen karmischen Gesetz, indem es auf dem gewaltigen Lebensrad von einem Körper zum anderen wandert.

 

Dieses begrenzende Beiwerk – das physische, mentale und kausale – bringt den  >Atman< auf die Ebene des  >jiva< (individuelles Bewußtsein) herunter und bestimmt sein Schicksal, indem er in den endlosen Kreislauf hineingezogen wird. Im Innersten des  >jiva< ist das bezeugende Selbst, das lediglich auf den gesamten Schauplatz niederblickt und sein Licht darüber verbreitet, welches das Ego, das Gemüt, die Sinne und die Sinnergegenstände beleuchtet und dennoch weiterhin in seinem eigenen Glanz erstrahlt, auch wenn der Schauplatz wieder geräumt ist. Letzterer ist einem silbernen Bildschirm vergleichbar, auf dem allein sich diese ganze Schau abspielt.

 

Diese Stufe zu erlangen, auf der der  >Atman< weiß, was seine Bestimmung ist, und erkennt, daß er und >Brahman< eins sind, ist das Ziel des Advaitismus. Dieser Zustand besteht in der direkten Erfahrung, und wie Shankara deutlich klargemacht hat, kann er nicht durch bloßen Vernunftschluß, Lesen von Schriften oder durch Vollziehen von Ritualen erreicht werden. Er kann nur zustande kommen, wenn man Yoga übt. Es ist wesentlich, sich zu vergegenwärtigen, daß der Advaitismus an sich kein Yoga ist, sondern strenggenommen die Philosophie des Yoga in ihrem Feinsten und Tiefsten darstellt.

 

Wie Shankara selbst erklärte, sprach er von nichts Neuem. Er befaßte sich lediglich mit der Aufgabe, das, was in den Upanishaden und der Gita bereits zum Ausdruck gebracht war, neu zu formulieren.

 

Mit einem außergewöhnlichen Verstand und einem verblüffenden Sinn für Logik begabt, ging er daran, die in den Shrutis enthaltenen Einsichten (Erkenntnisse) in zusammenhängender und systematischer Form von neuem zu erklären, die Einsichten, die in der Folgezeit durcheinandergebracht wurden und zu viel unnötigem Wortstreit geführt haben. Er hat ein für allemal nachgewiesen, daß jeder Versuch einer Beschreibung von  >Brahman<, der es versäumt, von einer nicht vielfältigen und nicht-dualistischen Wirklichkeit auszugehen, seiner Natur nach unlogisch sei und daß der Advaitismus in der Tat das logische Ergebnis des Yogagedankens ist. Darin einbezogen war die Ansicht, daß von allen  >Samadhi< -Zuständen derjenige, in dem der individuelle  >Atman< seine Identität in  >Brahman< verliert - >Nirvikalpa< - der höchste sei. Der Zustand sollte hier und jetzt erreicht werden, damit man in diesem Leben die Befreiung (jivan mukti) erlangt. Wer einmal durch die Welt, wie sie sich uns zeigt, zum Absoluten vorgedrungen ist, wird sich nie mehr von den Erscheinungsformen gefangen nehmen lassen. Er ist ein befreiter Geist, der im Lichte wahren Wissens lebt. Die frühere Antriebskraft mag ihn weiter zu physischen Dasein bringen, aber wenn sie sich einmal erschöpft hat, geht er gänzlich in  >Brahman<, der reinen Erkenntnis, auf.

 

Shankara war wirklich ein bemerkenswerter Mensch, dem Gelehrsamkeit und Einsicht eigen waren, und sein Beitrag zum indischen Denken ist ein dauerhafter. Indem er dieses zu seinem logischen Schluß führte, gab er ihm den Glanz beständiger Klarheit.

 

Aber genau wie Ritual und Schriften eine unmittelbare innere Erfahrung nicht erstzen können, so vermag auch das bloße Wissen, daß das Selbst und >Brahman< eins sind, nicht die Stelle tatsächlicher Erfahrung von dieser Einheit auszufüllen. Die Philosophie des Yoga ist nicht das gleiche wie der Yoga selbst. Sie kann bestenfalls unser Denken aus der gegenwärtigen Verwirrung befreien, aber das übrige muß eine Sache praktischer persönlicher Verwirklichung durch Yoga bleiben.

 

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