1. Der Satguru

 

Die erste Bedingung ist, daß man einen Satguru oder wahren Lehrer findet, der ein Adept in dieser mystischer Wissenschaft ist. Sie ist eine Sache der praktischen Selbstverwirklichung und nicht die einer philosophischen Erörterung oder einer intuitiven Empfindung. Wenn es eine der bloßen Theorie wäre, dann würden Bücher und Schriften ausreichen für diesen Zweck, und wenn es eine der bloßen Empfindung wäre, dann könnte jeder einfach auf die Eingebungen seines Gemüts bauen. Das Problem, welches vor uns liegt, ist jedoch, daß wir einen  >sechsten Sinn< erschließen müssen, den der direkten transzendenten Wahrnehmung, des inneren Hören und Sehens. Dies kann aber nicht lediglich durch das Lesen von Büchern kommen. Wenn einer blind und taub geboren ist, kann er mittels der Blindenschrift die ausführlichsten Erklärungen lesen über die verschiedenen und reichen Erfahrungen des Hörens und Sehens, die der Mensch gemacht hat. Aber sein Studium kann ihn niemals die direkte Erfahrung einbringen. Er kann durch die Bücher höchstens die Vorstellung von einer umfassenden Erfahrungsebene bekommen, die ihm völlig unbekannt ist, und dies mag in ihm den inneren Drang erzeugen, Mittel und Wege zu finden, um seine körperlichen Beschränkungen zu überwinden. Allein der erfahrene Arzt oder Chirurg kann Heilung bringen, vorausgesetzt, daß seine Krankheit überhaupt heilbar ist. Fällt er einem Scharlatan in die Hände, wird sein Zustand nur schlimmer und noch komplizierter. Gleicherweise muß der Strebende, der innere spirituelle Meisterschaft sucht, nach der Hilfe eines solchen Ausschau halten, der den Weg bereits kennt. Alles Lesen der Schriften, all sein Überlegen kann ihn bestenfalls (wenn er für das darin Enthaltene empfänglich ist) zu dem einzigen Schluß bringen: der Notwendigkeit eines lebenden Meisters. Ohne einen solchen kann er nicht einmal die wahre Bedeutung der offenbarten Schriften verstehen. Sie sprechen von Erlebnissen, die über seiner Erfahrungsebene liegen, und wenn sie eine Sprache gebrauchen, können sie nur in Bildern und Gleichnissen sprechen; denn wie könnte die Redeweise des Blinden das Geschaute direkt ausdrücken? Der Versuch, das reiche spirituelle Erbgut unseres religiösen Schrifttums völlig in Begriffen, die unserer begrenzten Erfahrung entsprechen, zu erklären, kann nur zu einer Verzerrung und Verdrehung ihres wirklichen Sinnes führen.

 

Wir können viel an psychologischer Weisheit anhäufen, aber die innere Bedeutung geht uns verloren, und unser ganzes verstandesmäßiges Theoretisieren kann uns lediglich in endlose theologische Widersprüche verwickeln, mit denen die verschiedenen institutionellen Religionen heutzutage überladen sind. Nur einer, der selbst erfahren hat, was die großen Schriften beschreiben, vermag uns ihren wirklichen Sinn zu vermitteln. Aber die Aufgabe eines spirituellen Lehrers endet hier nicht. Die Aufklärung über die wahre Bedeutung der Religion ist nur ein erster Schritt. Nachdem der Strebende die wahre Natur seines Ziels verstanden hat, muß er es praktisch und vernunftmäßig befolgen. Etwas zu erkennen ist die eine Seite, und es zu tun, ein ganz andere. Erst wenn dem Aspiranten das Ziel, das es zu erreichen gilt, erklärt ist, beginnt die Aufgabe des Meisters. Es ist nicht genug damit, daß ein Arzt die Ursache der Krankheit des Blinden erkennt und bestimmt, er muß auch die Operation vornehmen. So gibt der spirituelle Führer dem Schüler bei der Initiation eine Ersthand-Erfahrung des inneren Lichts und des inneren Tons.

 

Er bringt ihn in Verbindung mit dem göttlichen Strom, sei es auch an dessen unterstem Ende, und unterweist ihn im spirituellen  >sadhan< (Übung), dem er nachkommen muß, um diese innere Erfahrung in vollem Umfang zu festigen und zu entwickeln. Wer einen solchen Lehrer findet, ist wahrhaft gesegnet.

 

Aber ihn ausfindig zu machen und von ihm initiiert zu werden, reicht nicht aus. Die noch im Keimen begriffene spirituelle Erfahrung, die er gibt, muß genährt und zur vollen spirituellen Blüte entwickelt werden. Um dazu imstande zu sein, muß man das, was man hört, aufnehmen und sich bemühen, es in die Praxis umzusetzen. Einen solchen Menschen zu kennen heißt, ihn zu lieben; und ihn zu lieben heißt, seine Gebote zu halten. Solange man nicht lieben, gehorchen und sein Leben umformen kann, bleibt die Gabe des Meisters wie eine in der Stahlkammer verschlossene Saat, die nicht gedeihen und zur Frucht gebracht werden kann.

 

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