3.  Sadhan

 

Und nun kommen wir zum dritten Eckstein des spirituellen Gebäudes: dem der spirituellen Übungen oder der  >sadhans<. Das eine immer wiederkehrende Thema eines  >Puran Guru< oder vollendeten Lehrers ist, daß ein gutes Leben, obgleich sehr wünschenswert und unerläßlich, nicht das Ziel in sich ist. Das Ziel des Lebens ist etwas anderes, etwas Inneres: das Übersteigen dieser Ebene der Bedingtheit und des physischen Daseins in eine des absoluten Seins. Einer, der das erkennt, wird seinem Leben dementsprechend ausrichten. Erstens darum, weil eine solche Erkenntnis zu einem Gemütszustand führt, der sich, frei von Ego und Verhaftetsein, in einem tugendhaften und schöpferischen Tun ausdrückt, und zweitens, weil man ohne einen solchen Gemütszustand und die sich daraus ergebende Lebensweise nicht die Ausgeglichenheit und Konzentration gewinnen kann, die für die innere Erhebung unerläßlich ist.

 

So liegt die Hauptbetonung eines erleuchteten Lehrers immer auf dem transzendentem Ziel. Er lehrt, daß die pranischen und vigyanischen Energien nicht vom Wesen des  >Atman< sind, sondern daß sie aus Ebenen stammen, die unterhalb derer des reinen Geistes liegen. Wer sie als Leiter benutzt, kann durch sie das körperliche Bewußtsein übersteigen und die Ebenen erreichen, von denen sie ausgehen; aber er kann nicht über diese hinausgelangen. Da der Geist in allen der nämliche ist, sollten auch die Mittel zur spirituellen Erleuchtung allen gleicherweise zugänglich sein. Aber wie wir bereits gesehen haben, stellen Yoga-Arten, die auf  >pranas< oder  >jnana< begründet sind, besondere Anforderungen, die nicht alle erfüllen können. Die Prana-Systeme sind für die alten und die ganz jungen Menschen wie auch für solche, die unter Atmungs- und Verdauungsbeschwerden leiden, nicht geeignet. Der Pfad des  >jnana< setzt mentale und intellektuelle Fähigkeiten voraus, mit denen die Natur nur sehr wenige bedacht hat. Wenn diese Wege der Annäherung an Gott wirklich die natürlichen wären, die uns offen sind, dann würde die logische Schlußfolgerung die sein, daß die Natur in ihren Segnungen sehr parteiisch ist, weil sie zwischen den einzelnen Menschen Unterschiede macht. Wenn die Sonne für alle scheint und der Wind für alle weht, warum sollten dann die inneren Schätze nur für wenige Auserwählte sein? Sie sind ebenfalls für alle, seien sie gebildet oder ungebildet.

 

Yogas, die sich in der Auswahl ihrer Anhänger so sehr unterscheiden und so anspruchsvoll sind, können ganz natürlich sein. Die Methode, die von den Meistern des  >Surat Shabd Yoga< gelehrt wird, ist eine andere. Dem Sucher wird die Natur der Schöpfung erklärt wie auch der Weg zurück zu der Quelle, wo das Leben seinen Anfang nahm. Bei der Initiation wird ihm eine innere Ersthand-Erfahrung gegeben, die er weiter zu entwickeln hat. Der Sitz der Seele liegt hinter und zwischen den Augenbrauen. Dies wird von allen Yogas anerkannt. Es ist dieser Punkt, auf den sich die Mystiker beziehen, wenn sie von >shiv netra<,  >divya chakshu<,  >tisra til<,  >brahmrendra<,  >triambka<,  >trilochana<,  >nukta-i-sweda<,  >koh-i-toor<,  >drittes Auge< und  >Einzelauge< sprechen, das bildlich der  >>der Ruhepunkt<<, der  >>Berg der Verklärung<< usw. genannt wird. Auf diesen Punkt muß der  >Sadhak< mit geschlossenen Augen seine Aufmerksamkeit konzentrieren, aber die Bemühung der Konzentration muß ohne Anstrengung geschehen, und es darf keine physische oder mentale Anspannung zu spüren.

 

Um bei dieser Bemühung zu helfen, gibe der Lehrer dem Schüler ein Mantram oder eine geladene Wort-Formel, welche für die Reise, die vor ihm liegt, symbolisch ist. Wenn man diese langsam und liebevoll mit der  >Zunge< der Gedanken< wiederholt, hilft sie dem Schüler, die verstreuten Gedanken nach und nach an einem einzigen Punkt zu sammeln. Was dieser Formel ihre Kraft gibt, ist nicht etwas Magisches, das den Worten als solchen anhaftet, sondern die Tatsache, daß sie von einem gegeben worden sind, der sie durch seine eigene spirituelle Praxis und Meisterschaft mit der inneren Kraft geladen hat. Wenn nun der Schüler durch Konzentration und die mentale Wiederholung dieser geladenen Worte dahin gekommen ist, seinen inneren Blick scharf auf diesen festen Brennpunkt einzustellen, wird er merken, daß die Dunkelheit, der er sich zunächst gegenübergesehen hat, allmählich durch sich verändernde Lichtpunkte erhellt wird. Sowie seine Konzentrationsfähigkeit zunimmt, hören die Lichter zu flackern auf und entwickeln sich zu einem einzigen strahlenden Punkt.

 

Dieser Konzentrationsvorgang oder das Sammeln des  >surat< zieht die Geistesströme, die normalerweise über den ganzen Körper verteilt sind, automatisch zum spirituellen Zentrum hinauf.

 

Dieses Zurückziehen wird durch  >simran< oder die Wiederholung der geladenen Worte sehr erleichtert, und die Wahrnehmung des inneren Lichts, was zu  >dhyan< oder der zielbewußten Konzentration führt, beschleunigt den Vorgang noch mehr. >Dhyan< wiederum führt, wenn er völlig entwickelt ist, zu  >bhajan< oder dem inneren Hören. Das innere Licht beginnt zu klingen.

 

In dir ist ein Licht und in ihm der Ton, und dieser

wird dich an den Wahren Einen gebunden halten.

Gurbani

 

Wenn der Übende seine leiblichen Ohren schließt, wird er schnell in diese Musik vertieft sein. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß das Licht, obgleich es vom Auge aufgefangen wird, von diesem nicht sehr lange festgehalten werden kann und daß ihm keine sehr große Anziehungskraft eigen ist. Ganz anders ist es bei der Musik. Wer sie im Schweigen der tiefen Stille hört, wird von ihr unweigerlich sozusagen in eine andere Welt hineingezogen, in einen anderen Erfahrungsbereich. Und so wird der Vorgang des Zurückziehens, der mit  >simran< beginnt, durch  >dhyan< weitergeführt und durch  >bhajan< sehr rasch ausgedehnt. Die spirituellen Ströme, die sich bereits langsam bewegen, werden nach oben gebracht und sammeln sich schließlich im dritten Auge – dem Sitz der Seele. Das Übersteigen des physischen Bewußtseins durch den Geist, oder der Tod im Leben, wird mit so einem Minimum an Mühe und Arbeit erreicht.

 

Wenn Schüler anderer Yoga-Arten nach langer Zeit und anstrengender Arbeit die verschiedenen niedrigen  >chakras< gemeistert haben und das Physische vollkommen übersteigen, nehmen sie allgemein an, daß sie am Ziel ihrer Reise angelangt sind. Die innere Ebene, auf der sie sich befinden, der Bereich von >sahasrar< oder  >sahasdal kamal<, der häufig durch das Sonnenrad, den Lotos oder die vierblättrige Rose symbolisiert wird, ist wirklich unvergleichlich schöner als alles, was es auf der Welt gibt, und scheint im Vergleich dazu zeitlos. Aber wenn sich der Schüler des  >Surat Shabd >Yoga< über das Körperbewußtsein erhebt, wird er, ohne suchen zu müssen, von der strahlenden Form seines Meisters empfangen, der ihn dort erwartet. Es ist in der Tat an dieser Stelle, wo die wirkliche  >guru Shishya< oder Verbindung zwischen Lehrer und Schüler hergestellt wird. Bis dahin ist der Meister wenig mehr als ein menschlicher Lehrer, aber nun wird er als göttlicher Führer oder  >gurudev< gesehen, der den inneren Weg zeigt.

 

Die Füße meines Meisters haben sich in meiner Stirne offenbart;

und alles Wandern und jede Trübsal hat nun ein Ende.

Guru Arjan  

 

Beim Erscheinen der strahlenden Form des Meisters im Innern bleibt kein Geheimnis,

das im Schoße der Zeit liegt, verborgen.

 

Auch Christus sagt:

 

                Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und es ist

                nichts heimlich, das man nicht wissen werde.

                                                                                                       Matth. 10, 26

 

Unter Führung dieses himmlischen Wegweisers lernt die Seele den ersten Freudenschock zu überwinden, und sie erkennt, daß ihr Ziel noch weit vorne liegt. Begleitet von der strahlenden Form des Meisters und durch den hörbaren Lebensstrom vorangebracht, überquert sie eine Region um die andere, eine Ebene um die andere und legt nach nacheinander alle  >koshas< ab, bis sie zuletzt aller Hüllen, die nicht ihrer wahren Natur entsprechen, ledig ist und sie, so gereinigt und geläutert, das Reich betreten kann, wo sie sieht, daß sie vom selben Geist wie das höchste Wesen ist und daß dieses, der Meister in seiner strahlenden Form und sie selbst nicht getrennt,sondern eins sind, und es nichts gibt außer dem großen Meer des Bewußtseins, der Liebe und der unaussprechlichen Glückseligkeit.

 

Wer vermag die Herrlichkeit dieses Reiches zu beschreiben?

 

Die Glückseligkeit derer, die das Mystische kennen, kann

nur von Herz zu Herz besprochen werden; kein Bote kann

davon berichten, und kein Sendschreiben kann es enthalten.

Hafiz

 

Als die Feder ansetzte, dieses Reich zu schildern,

brach sie in Stücke und die Seite zerriß.

Persischer Mystiker

 

Wenn der Sucher am Ende der Reise angelangt ist, geht er im Wort auf und zählt zu den Befreiten. Er vermag weiterhin wie die anderen Menschen in dieser Welt der menschlichen Wesen leben, aber sein Geist kennt hinfort keine Grenzen mehr und ist unendlich wie Gott selbst. Das Rad der Wiederverkörperung kann ihm nichts mehr anhaben, und sein Bewußtsein ist ohne jede Beschränkung. So wie sein Meister vor ihm, ist er ein bewußter Mitarbeiter am göttlichen Plan geworden. Er tut nichts für sich selbst, sondern wirkt im Namen Gottes. Wenn es tatsächlich einen >Nehkarmi<< gibt (einer, der frei ist von bindenden Handlungen), so ist er es, denn es gibt kein mächtigeres Mittel zur Freiheit als die Kraft des Wortes.

 

Nur der ist nicht durch die Tat,

der sich mit dem Wort verbindet.

                                         Gurbani

 

Für ihn bedeutet Freiheit nicht etwas, das nach dem Tode kommt (videh mukti), sondern etwas, das während des Lebens erreicht wird. Er ist ein  >Jivan mukti< (frei im Leben), und gleich wie eine Blume ihren Duft von sich gibt, verbreitet er die Botschaft der Freiheit, wohin immer er geht.

 

Jene, die sich mit dem Wort verbunden haben,

deren Mühen werden enden,

und ihr Antlitz wird voll Glanz erstrahlen.

Nicht nur werden sie erlöst sein, o Nanak,

sondern viele andere werden mit ihnen die Freiheit finden.

Jap Ji

 

In der wirklichen Praxis der spirituellen Schulung wird auf  >simran<,  >dhyan< und >bhajan< besonderer Nachdruck gelegt, denn jede dieser Übungen spielt eine ausschlaggebende Rolle bei der Entfaltung des Selbst. Der Meister gibt  >simran< oder die Wiederholung der geladenen Worte, die das Sammeln der wandernden Verstandeskräfte des Schülers am stillen Punkt der Seele, hinter und zwischen den Augenbrauen, erleichtert, und wohin die Sinnesströme, die den Körper jetzt von Kopf bis zu den Füßen durchdringen, zurückgezogen werden, wodurch man sich desselben nicht mehr bewußt ist. Wird dieser Vorgang erfolgreich zu Ende geführt, leitet er aus sich selbst zu  >dhyan< oder Konzentration. >Dhyan< ist von der Sanskritwurzel  >dhi< abgeleitet, was soviel heißt wie  >binden< und  >festhalten<. Mit dem geöffneten inneren Auge sieht der Aspirant nun schimmernde Streifen himmlischen Lichts in sich, und dies hält seine Aufmerksamkeit verankert. Dieses Licht wird nach und nach stetiger, was ihn in seinem  >sadhan< sicher werden läßt, denn er wirkt gleich einem Notanker für die Seele. Wenn  >dhyan< oder die Konzentration vervollkommnet ist, führt dies zu