Eine vollkommene Wissenschaft

 

Selbst der vorangehende kurze Überblick über das Wesen und die Reichweite des  >Surat Shabd Yoga< vermittelt einige seiner einmaligen Merkmale. Wer ihn im Hinblick auf andere Yogaformen studiert, kann nicht umhin, die Vollständigkeit zu bemerken, mit der er alle Probleme löst, denen der Sucher gegenübersteht, wenn er andere Systeme verfolgt.

 

Auf dem äußeren Tätigkeitsgebiet fußt er nicht auf einer trockenen und starren Disziplin, die vielfach seelische Hemmungen zur Folge hat. Er sagt, daß eine bestimmte Schulung notwendig ist, fügt aber hinzu, daß sie letzten Endes durch innere spirituelle Erfahrung inspiriert und spontan gelebt werden muß und nicht die eines strengen Asketentums und allzu bedachter Selbstverleugnung sein soll. Der Sucher muß nach Ausgeglichenheit streben und hat darum die Tugend der Mäßigung in Gedanken und Taten zu üben. Die Sammlung, die er dadurch erreicht, befähigt ihn zu größerer Konzentration und somit zu höherer innerer Erfahrung; und diese innere Erfahrung muß wiederum eine Rückwirkung auf das äußere Denken und Handeln haben. Die Beziehung zwischen  >sadachar< und innerem  >sadhan< wirkt wechselseitig: das eine belebt das andere und gibt ihm Bedeutung, und das eine ist ohne das andere wie ein Vogel mit nur einem Flügel. Wie kann der Geist zu vollkommener Zielstrebigkeit gebracht werden ohne die Reinheit des Herzens und des Körpers? Und wie kann die Seele aller menschlichen Bindungen und Unvollkommenheiten ledig werden, ohne daß sie in der Liebe des Göttlichen verankert ist?

 

Als sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten,

verbrannte Moses alle Eigenschaften der vergänglichen

Dinge.

Maulani Rumi

 

Der >Surat Shabd Yoga< liefert nicht nur Mittel und Wege, um das schwierige Ideal von >sadachar< in der Praxis zu verwirklichen, sondern er bietet auch eine Lebensweise, die uns, während sie uns über diese physische Ebene erhebt, doch nicht dem Bereich von Name und Form versklavt. Die Meister dieses Pfades wissen nur zu gut, daß abstrakte Spekulationen über den eigenschaftslosen Aspekt des Absoluten nicht zu ihm führen können. Wie kann der durch Name und Form beschränkte Mensch direkt zu dem gezogen werden, was jenseits davon liegt? Liebe sucht etwas, das sie begreifen und dem sie sich verbinden kann. Und somit muß Gott Form und Gestalt annehmen, um dem Menschen zu begegnen.

 

Es ist diese Erkenntnis, durch welche die Hingabe des >Bhakta< an Shiva, Vishnu oder Kali – die göttliche Mutter – inspiriert wird. Aber diese göttlichen Wesen stellen bestimmte Offenbarungen Gottes dar, und wenn der Ergebene ihre Ebene einmal erreicht hat, verhindert diese bestimmte Offenbarung, wie wir bereits gesehen haben, den weiteren Fortschritt. Die Meister des  >Surat Shabd Yoga< übersteigen diese Begrenzung völlig, indem sie den Sucher nicht mit einer festgelegten oder bestimmten, sondern mit der alles durchdringenden Offenbarung Gottes verbinden: dem strahlenden Tonstrom. Es ist  >Anhat< oder  >Anhad Naam< - dieses unübertreffliche und unergründliche Wort, das die verschiedenen Schöpfungsebenen erhält, die sich von Pol zu Pol und vom reinen Geist bis zur groben Materie erstrecken. Seine Weisen durchdringen jeden Bereich, jede Region; und er durchläuft sie gleich einem Fluß, der durch die Täler fließt, die er entstehen ließ. Sein Zustand ist fließend wie der des Flusses; er ändert sich auf jeder Ebene und bleibt dennoch stets derselbe. Der Sucher, der durch die Liebe des Wort-Stromes inspiriert wurde, ist in der Tat gesegnet, denn er kennt nicht die Begrenzungen, welche jene erfahren, die Gott in anderen Formen verehren. Sowie er sich diesem Strom zuwendet und durch seine beseligende Kraft nach oben gezogen wird, merkt er, daß dieser sich wandelt, verändert, immer stärker und reiner wird und ihn zu immer größerer Anstrengung anspornt, die ihm niemals erlaubt, anzuhalten oder zu zaudern, sondern ihn von Ebene zu Ebene, von Tal zu Tal führt, bis er an der Quelle anlangt, wo das Unoffenbarte offenbar wird, das Formlose Form annimmt und das Namenlose einen Namen. Es war diese Vervollständigung der inneren Reise, möglich gemacht durch den Yoga des Tonstromes, die Kabir zu der Erklärung veranlaßte.

 

Alle Heiligen sind der Verehrung würdig,

aber ich verehre nur einen, der das Wort

gemeistert hat.

 

Der  >Surat Shabd Yoga< ist nicht nur der vollkommenste der verschiedenen Yogawege, sondern ist vergleichsweise auch leicht zu praktizieren und zudem einer, der für alle gangbar ist. Wer diesem Pfad folgt, erreicht nicht nur das letzte Ziel, sondern er bewältigt es auch mit weit weniger Anstrengung, als es durch andere Methoden möglich wäre. Das Übersteigen des physischen Bewußtseins, das der Yogi mittels der  >pranas< zu erreichen sucht, gelingt nur nach einer langen und anstrengenden Schulung; wohingegen es bei denen, die sich auf den Pfad des  >Surat Shabd Yoga< verlegen, manchmal schon bei der Initiation erreicht wird. Dies ist jedoch kein bloßer Zufall. Tatsache ist, daß der  >Surat Shabd Yoga< auf wissenschaftlichere und natürlichere Art an die spirituellen Dinge herangeht. Warum, fragt er sich, sollte es notwendig sein, jedes dieser Chakras der Reihe nach zu meistern, wenn der spirituelle Strom die Körperchakras nicht von unten, sondern von oben her erreicht? Ein Mensch, der in der Mitte eines Tales steht, wird, wenn er die Quelle des Flusses erreichen möchte, nicht erst dorthin gehen, wo er mündet, um dann die ganze Strecke zurückzulaufen. Er ist weiter der Meinung, daß  >prana< und Gemüt (auch in ihrem verfeinerten Zustand), wenn sie nicht vom Wahren Wesen des Geistes sind, auch nicht die geeigneten Mittel sein können, um ihn von seinen Hüllen zu befreien. Könnte er mit etwas, das von seinem Wesen ist, in Verbindung gebracht werden, dann würde er davon angezogen und das erwünschte Ziel mit einem Minimum an Anstrengung erreicht. Von  >Tisra til<, dem  >dritten Auge<, aus verbreitet sich der spirituelle Strom im Körper. Das einzige, dessen man somit bedarf, ist, sein Abwärtsfließen an dieser Stelle aufzuhalten, indem man die Sinne unter Kontrolle bringt; denn dann sammelt er sich von selbst und fließt zu seinem Ursprung zurück.

 

Verschließe deine Lippen, deine Ohren und deine Augen;

und wenn du dann die Wahrheit nicht entdeckst, steht

es dir frei, mich zu verhöhnen.

Hafiz   

 

Der Sucher hat es nicht nötig, am untersten Ende zu beginnen; alles, was er tun muß, ist, den spirituellen Strom in eine andere Richtung zu lenken, und alles weitere wird folgen.

 

Wodurch können wir den Herrn erreichen?

Man braucht nur das Herz umzupflanzen.

                                                   Inayat Shah   

 

Diese Einfachheit der Annäherung, verbunden mit nur geringer Anstrengung, hat viele bewogen, den  >Surat Shabd Yoga< als den >Sahaj Marg< oder den leichten Weg zu bezeichnen. Er beginnt dort, wo die anderen Yogas normalerweise enden.  >Sahasrar<, die Region des tausendfältigen Lichts, die das Ziel der gewöhnlichen Yogi-Reise kennzeichnet, nachdem die verschiedenen Körperchakras durchquert sind, ist in etwa die erste Stufe, die der Übende des >Surat Shabd Yoga< nehmen muß. Weiter vermindert dieser Yoga die Anstrengung beim Übersteigen des Physischen in hohem Maße, weil er davon abläßt, auf die  >Prana<- und  >Kundalini<-Energien störend einzuwirken. Durch die Berührung mit dem Tonprinzip werden die Sinnesströme automatisch nach oben gezogen, ohne daß der Übende dieses Ziel bewußt anstrebt und die motorischen Ströme beeinträchtigt würden. Dies vereinfacht nicht nur das Eingehen in den  >Samadhi<-Zustand, sondern ebenso den des Zurückkehrens.

 

Der Adept auf diesem Pfad braucht keine äußere Hilfe, um wieder zum physischen Bewußtsein zu gelangen, wie es bei einigen anderen Yogaformen der Fall ist, denn der spirituelle Aufstieg wie auch der Abstieg kann aus völlig freien Stücken erfolgen und in Gedankenschnelle erreicht werden.

 

Die Methode des transzendenten Hörens ist nur eine Ausweitung dessen, was wir normalerweise täglich tun. Wenn wir einem verwickelten Problem gegenüberstehen, sammelt sich unsere ganze bewußte Energie an einem einzigen Punkt – dem Sitz der Seele -, ohne daß dabei die pranisch-motorischen Energien, die automatisch in unserem Körper wirksam sind, beeinträchtigt würden. Einer, der den  >Surat Shabd Yoga< übt, erlangt diese Konzentration willentlich und zielbewußt durch  >simran< und  >dhyan<, und sobald er sich mit dem tönenden Wort verbunden hat, wird der sensorisch-spirituelle Strom, der noch im Körper ist, unweigerlich aufwärts gezogen, und dadurch ist das vollständige Übersteigen des Physischen erreicht.

 

Diese Natürlichkeit und Leichtigkeit des >sahaj< macht den  >Surat Shabd Yoga< allen zugänglich. Die Musik des göttlichen Wortes vibriert in allen gleich, und einer, der diesen Pfad verfolgt, bedarf keines speziellen physischen oder intellektuellen Rüstzeugs. Er steht den Alten genauso offen wie den Jungen, Frauen und Kindern wie den Männern. In der Tat machen Frauen und Kinder dank der ihnen eigenen einfacheren Denkweise und ihrem spotanen Vertrauen anfangs oft schnellere Fortschritte bei dieser Methode als ihre mehr weltklugen Brüder. Ein voller Erfolg auf diesem Gebiet hängt jedoch von einer unerschütterlichen Ausdauer und Bemühung ab, die nicht immer in Erscheinung treten. Da keine strenge und umfassende Schulung hinsichtlich der Ernährung und keine körperlichen Übungen verlangt werden, ist ein >sanyasa< oder völliger Verzicht auf die Welt nicht notwendig. Der  >Surat Shabd Yoga< kann von den >grehastis<, den Verheirateten, genauso verfolgt werden wie von den  >brahmacharis<, die das Zölibatsgelübde abgelegt haben. Wenn die  >pranischen< und  >vigyanischen< Systeme die natürlichen sein würden, dann müßten wir zu dem Schluß kommen, daß die Natur parteiisch ist; denn die physischen und geistigen Fähigkeiten, die sie voraussetzen, sind unter den Menschen sehr ungleich verteilt. Wenn die Sonne und die Luft für alle da sind, warum sollten dann die spirituellen Gaben nur ein paar wenigen auserwählten vorbehalten sein? Überdies können >prana< und >vigyana< bestenfalls bis zur Ebene ihrer Herkunft führen; und da sie nicht rein spiritueller Natur sind, wie vermöchten sie dann einen zum Bereich des reinen Geistes zu bringen?

 

Wenn es jedoch heißt, daß der  >Surat Shabd Yoga< die vollkommenste und natürlichste Yoga-Wissenschaft ist, so bedeutet das nicht, daß er keine Bemühungen erfordert und das man sich nur auf ihn zu verlegen braucht, um ganz von selbst Erfolg zu haben. Wenn das der Fall wäre, würde die Menschheit nicht so im Finstern einherttappen, wie heutzutage. Tatsache ist, daß kompetente Lehrer dieser Krone aller Wissenschaften selten sind und daß, selbst wenn man einen solchen findet, nur wenige vorbereitet sind, um sich der Schulung zu unterziehen, die erforderlich ist. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Die meisten Menschen sind so tief in die Liebe für die Welt verstrickt, daß sie selbst dann, wenn sie einen Schimmer der inneren Schätze erblickt haben, ihre weltlichen Wege nicht aufgeben wollen, um sich auf das zu konzentrieren, was einen zum Herrn über alle Dinge macht.

 

Da bei diesem Yoga die Betonung stets auf dem Inneren und niemals auf dem Äußeren liegt, gibt es kaum einen besseren Weg für die Menschen im allgemeinen. Wie viele gibt es, die ihr ganzes Leben äußeren Ritualen und Zeremonien widmen, und wie wenige vermögen, selbst nur für Augenblicke, vollkommene innere Konzentration zu erlangen, die nicht durch weltliche Gedanken gestört ist.

 

Dies hat Kabir veranlaßt, diesen Yoga mit dem Gehen auf der Schneide eines Schwertes zu vergleichen, während die Sufis von ihm als dem  >rah-i-mustqim<, feiner als ein Haar und schärfer als eine Rasierklinge, sprechen. Christus beschrieb ihn als  >>den schmalen und engen Weg<<, den immer nur wenige beschreiten.

 

Aber für einen, den die Welt nicht lockt und der Gott innig liebt, gibt es keinen einfacheren und schnelleren Weg. Er bedarf keiner anderen Kraft als der seines eigenen Dranges. Durch sein aufrichtiges und starkes Verlangen nimmt seine Seele, frei von allen irdischen Bindungen und vom Strom des

Shabd zum Ausgangspunkt getragen, den Flug heimwärts, zum Hafen des Friedens und der Glückseligkeit. Und sollte er auf seinem Heimwärtsflug irgendwelchen Behinderungen ausgesetzt sein, so ist sein strahlender Freund immer zugegen, um ihn davor zu bewahren und vor allen Fallgruben zu beschützen. Der Weg durch die höheren Ebenen liegt so vollständig gekennzeichnet vor ihm wie jener der  >Hatha<-Yogis für die niederen Körperchakras; und getragen von einer solchen Kraft und von einem solchen Freund geleitet, kann ihn nichts abschrecken oder gefangennehmen, und nichts vermag die Stetigkeit seines weiteren Weges zu beeinträchtigen.

 

Ergreife das Kleid von einem, o tapfere Seele, der alle Orte bestens kennt:

die physischen, mentalen, supramentalen und spirituellen; denn er wird dein Freund im Leben wie im Tode, in dieser Welt und in den jenseitigen Welten bleiben.

Jalalud-din Rumi

 

Und Guru Nanak kündete:

 

Wer einen wahren Meister gefunden hat und dem vollkommenen Weg des heiligen Wortes folgt, der wird, lachend und lebend in dieser Welt, völlige Befreiung finden.

 

Ferner heißt es:

 

Wie der Lotos soll er sich unbefleckt über den Sumpf der Welt erheben; und gleich dem Schwall soll er, unberührt und unbehindert durch die schlammigen Wasser, emporfliegen.

 

Weiter