Der Weg der Heiligen

 

Die Schriften berichten uns die treffende Geschichte von König Parikshat, der gehört hatte, daß einer, der den Vortrag aus dem Bhagwat, einem heiligen Text, durch einen Schriftgelehrten (Pandit) vernähme, zu einer erlösten Seele (jivan mukat) würde, zu einem Menschen, der von jeder Gebundenheit frei ist. Eines Tages rief er seinen Hofpriester zu sich und bat ihn, den erhebenden Text des Bhagawat zu rezitieren, damit er von der Gebundenheit durch Gemüt und Materie frei würde. Und er befahl, den Priester zu erhängen, falls sein Vortrag nicht die Richtigkeit der heiligen Lehren bestätigen sollte. Da der Priester nicht besser als irgendeiner von uns war, erschrak er sehr , denn er sah sich bereits im Angesicht des Todes, weil er sehr wohl wußte, daß er dem König nicht zu helfen vermochte, die Erlösung zu erlangen. Niedergeschlagen und über das ihm drohende Verhängnis zutiefst besorgt kam er nach Hause zurück. Am Vorabend des Tages, der für ihn die Rezitation des heiligen Textes bestimmt war, fühlte sich der Priester halbtot vor Angst. Zu seinem Glück hatte er eine sehr kluge Tochter. Auf ihre dringenden Bitten hin vertraute er ihr den Grund seiner unglücklichen Lage an. Seine Tochter tröstete ihn und versprach, ihn vor dem Galgen zu retten, wenn er ihr erlaube, ihn am nächsten Tag zum König zu begleiten. So ging sie am folgenden Tag mit ihrem Vater zum Königshof. Sie erkundigte sich, ob der König Befreiung von der Gebundenheit an die Welt wünsche, was er bejahte. Sie sagte dem König, daß sie ihm helfen könne, seinen tief gehegten Wunsch zu erfüllen, wenn er ihrem Rat folge und ihr erlaube, zu tun, was immer sie wolle. Sie brachte nun den König und ihren Vater in den Dschungel und band jeden mit einem starken Seil an einem anderen Baum fest. Dann forderte sie den König auf, seinen Priester loszubinden und zu befreien. Der König gestand seine Hilflosigkeit ein; das könne er nicht, weil er doch selbst festgebunden sei. Daraufhin erklärte ihm das Mädchen, daß einer, der sich selbst in der Gebundenheit Mayas, der Täuschung, befände, einen anderen nicht aus eben diesen fesseln lösen könne. Das Aufsagen des Bhagawat (Gemeint ist das Bhagawat gita, das „Lied des Erhabenen“, eines der heiligen Bücher Indiens [etwa 300 v. Christus]. Epos in Form eines Zwiegesprächs zwischen Krishna und Arjuna, seinem Schüler) könne sicherlich die magische Umhüllung der Täuschung zerbrechen, wenn es durch einen befreiten Menschen geschähe, der selbst die Täuschung durchbrochen hat; und so solle der König nicht von seinem königlichen Priester die Befreiung erwarten, der genauso gefesselt sei wie er selbst. Nur einer, der nicht im Spinnengewebe des Karmas verstrickt ist, besitzt die Fähigkeit, andere gleich sich selbst aus dem tödlichen karmischen Kreislauf zu befreien.

 

Das zeigt also, daß das bloße Studium der Schriften nicht viel dabei hilft, die Erlösung (Moksha) zu erlangen, denn sie ist eine rein praktische Angelegenheit; und nur wenn man von einem fähigen Adepten in dieser Wissenschaft geführt wird, erhält man die rechte Unterweisung und gelangt zur Vollendung. Der vollkommene meister (Murshid-i-Kamil) muß als erstes die Teile der zerbrochenen Tafel des Gemüts wieder zusammenfügen, die durch unsere zahllosen Wünsche und Sehnsüchte zersprang, und sie zu einem vollständigen Ganzen machen. Dann poliert er sie durch und durch, bis sie so rein ist, daß sie das Licht und die Herrlichkeit Gottes widerzuspiegeln vermag. Dies ist durch keine noch so große Buchgelehrsamkeit zu vollbringen.

 

Natürlich kann man die wahre Bedeutung der Schriften nicht erkennen und verstehen, bis sie einem von einer Meisterseele erklärt werden, die in der Werkstätte ihres eigenen Geistes eben das erfahren hat, wovon die Schriften berichten. Somit kann sie den Schüler aus eigener persönlicher Erfahrung in den höchsten esoterischen Lehren unterweisen und leiten, die uns die Schriften lediglich als knappe Sinnsprüche wiedergeben, die den Verstand nur verwirren, der in seinem Umfang und Fassungsvermögen doch recht begrenzt ist. Darum heißt es: „In der Gesellschaft einer geschulten Seele (Sadh) kann man Gott leicht erkennen.“ Nur eine befreite Seele vermag eine andere Seele zu befreien und niemand sonst. In diesem Zusammenhang heißt es:

 

Das Studium der Veden, der Puranas

und der Etymologie führt zu nichts.

Ohne die Ausübung des heiligen Wortes

verbleibt man immer in tiefster Dunkelheit.

 

Ein Mensch, der die Verwirklichung selbst erfahren hat, umfaßt alle Schriften und noch weit mehr als sie, die bestenfalls die theoretische Seite der lehren in feinsinniger Sprache enthalten, doch die Idee selbst nicht wörtlich erklären oder eine tatsächliche Erfahrung vermitteln können, wie es der Meister vermag.

 

Jeder versucht heutzutage die Schuld oder Ursache seines Mißgeschicks auf die „heutigen Zeiten“ zu schieben, und diese Klage ist die größte aller Zeiten. Die gegenwärtige wie auch die zukünftige Zeit gehört uns genausowenig wie die Vergangenheit. Diese Welt ist ein gewaltiges magnetisches Feld, und je mehr wir uns mühen, ihm zu entkommen, desto mehr werden wir in ihm gefangen und in seinem Netzwerk verstrickt. Der Mensch tanzt in dem Netz und glaubt, daß ihn keiner sähe. Der Kluge empfindet das Netz wohl, doch er weiß nicht, wo er sich unbekümmert niederlassen kann. So dreht sich das gewaltige Schwungrad der karmischen Mühle, dieses gigantische Rad des Lebens, leise und unaufhörlich und zerstampfte alles gleicherweise langsam, doch unverkennbar entzwei. Die Mühle der Natur mahlt langsam, aber sicher. Manche empfinden es und sagen: „Es scheint, daß die Natur den Menschen schuf und dann die Form zerbrach.“

 

Keiner jedoch versucht, das Warum und Wofür der Dinge, Ereignisse und Begebenheiten zu durchschauen, denn voll Selbstzufriedenheit nehmen wir ungefragt alles so hin, wie es der Lauf der Zeit mit sich bringt. Wir versuchen nicht, tief in die Dinge einzudringen, um die Glieder der Kette aufzuspüren, die zu dem führen, was wir sehen, spüren und erleben. Jeder vergißt bei seinem Umgang mit anderen, daß er einfach für alles in der Welt zu bezahlen hat. Sogar die Gaben der Natur wie Raum, Licht und Luft usw. sind nicht allen gleicherweise frei und in beliebigem Ausmaß verfügbar. Aber jeder hält sich selbst für den einzigen und alleinigen Treuhänder der freien Gaben Gottes. Er versucht, so tolerant als möglich zu sein, stößt auf einzelne schlecht gefaßte Diamanten (Menschen) und wird durch das „Gesetz des Gebens und Nehmens“ berührt. Nur nach harten Schlägen lernen wir, daß die Waagschale keinen Unterschied zwischen Gold und Blei machen, sondern nur auf das tote Gewicht reagieren. Ein jeder weiß, daß man den Nebel nicht mit einem Fächer vertreiben kann, und doch versuchen wir es und machen dadurch die Verwirrung nur noch schlimmer. Ein Mensch, dessen Hände und Füße in der endlosen Kette von Ursache und Wirkung gebunden sind, kann andere nicht befreien. Wenn jeder in der Welt in tiefem Schlaf liegt, wer soll dann wen aufwecken? Nur ein befreiter Mensch kann andere befreien, wenn er sich dazu entscheidet, denn die Sünden und Unterlassungen, die wir begehen, entsprechen dem Wesen des Naturgesetzes und suchen den Täter früher oder später in der einen oder anderen Form heim.

 

Wenn man Vögel im Käfig hält und Haustiere Halsbänder umlegt, sie an die kette legt und einsperrt, setzt man zu Unrecht voraus, daß diese armen, wehrlosen Tiere keinen Gerichtshof haben, um ihre Klage vorzubringen. Manche glauben, ein recht zu haben, sie so zu behandeln, wie es ihnen gefällt. Sie schrecken weder davon zurück, sie zu töten, noch zollen sie der allgemeingültigen Wahrheit „Wie du säst, so wirst du ernten“ irgendeine Beachtung. Doch Unkenntnis des Gesetzes ist keine Entschuldigung. Jedes Unrecht muß bestraft werden. Wer mordet, der wird selbst getötet. Wer durch das Schwert lebt, wird durch das Schwert umkommen. Man muß „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ bezahlen, was heutzutage genauso zutrifft wie zur Zeit von Moses. Wir feiern unsere Feste zweifellos sehr fröhlich, bis die furchtbare Abrechnung kommt. Wir mögen unsere Augen vor den Naturgesetzen schließen oder unser Vertrauen in die Wirksamkeit der priesterlichen Hilfe setzen, doch es wird vergebens sein. Für Töten, Blutsaugen und dergleichen muß man einen hohen Tribut entrichten. Jene, die vom Blut anderer leben und gedeihen, können kein reines Herz haben und noch weniger Zugang zum Himmelreich.

 

„Selig sind, die reinen Herzen sind,

denn sie werden Gott schauen.“

 

Die Heiligen sagen, daß der Mensch den höchsten Platz in Gottes Schöpfung einnimmt, daß er mit einem hervorragenden Verstand begabt ist und die begrenzte Spanne seines Lebens daher nicht wie andere Geschöpfe blindlings vorüberziehen lassen darf. Er sollte die goldene Gelegenheit, die er erhielt, um in die Arme Gottes und in seine ursprüngliche Heimat zurückzukehren, nicht versäumen. Solch eine unvergleichliche Gelegenheit erhält man nur, wenn man das Weltenschauspiel ganz durchblickt und seine Rolle im großen Drama des Lebens erfolgreich zu Ende gespielt hat. Im allgemeinen verstrickt sich der Mensch in die Reize dieser Welt. Wenn das geschieht, verliert er unter dem überwältigenden Einfluß der karmischen Rückwirkung nach Myriaden von Verkörperungen die einzige Gelegenheit, die er zur Rückkehr in die immerwährende Region des reinen Geistes erhielt. In endloser Folge hat er einen Körper nach dem anderen erhalten. Und allmählich beginnt er das Gewicht aller Arten von Gesetzen zu empfinden, seien sie sozialer, körperlicher oder natürlicher Art, die seinen Weg bei jedem Schritt gleich unüberwindlichen Hindernisse versperren. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als darauf zu warten, bis er wieder als Mensch geboren wird. Und wer weiß, wann das sein mag?

 

Die Heiligen bezeichnen die Sünde ganz einfach als Vergessen des Ursprungs oder Gottes. Jeder Gedanke, jedes Wort oder jede tat, die uns von Gott fernhält, ist wahrlich Sünde; und was auch immer den Menschen Ihm näher bringt, ist im Gegensatz dazu gottesfürchtig und heilig. Ein persischer Heiliger sagte, während er sich über die Natur der Welt äußerte: „Die Welt kommt nur ins Spiel, wenn man den Herrn vergißt. Durch die beständige Erinnerung an Gott ist man, während man mit Freunden und Verwandten in der Welt lebt, doch nicht von der Welt.“

 

Die meisten Sünden, ob grober oder feiner Art, sind reine Einbildung des Menschen unter dem Einfluß seines Gemüts. Die feineren Sünden werden von den Heiligen den lebenden Verkörperungen von Gottes Gesetzes  der Liebe und Barmherzigkeit auf Erden, als „verzeihliche Schwächen“ betrachtet. Solange ein Mensch als Geschöpf handelt, das von seinem eigenen Willen geleitet wird, unterwirft er sich selbst all den Gesetzen und ihren Härten. Doch wenn man seinen selbstbestimmten Willen dem eines Gottesmenschen unterwirft, kommt man unter den Einfluß von Gottes Gnade und Liebe. Das ist die rechte Einstellung zu den Sünden des täglichen Lebens.

 

Karmas sind die ansteckendste Form unsichtbarer Krankheiten, denen der Mensch immer ausgesetzt ist. Sie wirken sogar schneller, verheerender und zerstörerischer als die tödlichsten und giftigsten Keime, die in die innersten Zellen des menschlichen Körpers gelangen und sich ganz heimlich ins Blutsystem einschleichen. In der Gemeinschaft wirken sich die Karmas zunächst sehr stark in Form einer Änderung des Standpunktes und der Gedanken jener aus, die angeblich die öffentliche Meinung bilden. Dann beeinflussen sie unsere Gemütsverfassung und Laune und wurzeln sich schließlich in Form von Gewohnheiten ein, die dem Menschen zur „zweiten Natur“ werden. Die Vorfahren und Alten waren daher immer auf der Hut und rieten uns, schlechte Gesellschaft zu meiden. „Gute Gesellschaft bringt Gutes und schlechte nur Übles hervor.“ Man kann einen Menschen ganz deutlich an seinen Umgang erkennen.

 

Um all diesen Schwierigkeiten die Krone aufzusetzen, muß man unwissentlich sogar an den karmischen Reaktionen der eigenen Familie teilhaben, in der man geboren und aufgewachsen ist. Somit spielen Tugend und Laster eine wesentliche Rolle beim Aufbau der Kultur. Auf diese Weise nehmen wir täglich und stündlich Karmas aus unserer Umgebung auf. Der einzige Weg, den karmischen Einfluß zu entgehen, ist, mit der Hilfe von frommen Heiligen am Gottespfad festzuhalten. Denn diese sind fest im Höchsten verankert und stehen weit über der Reichweite der Karmas; sie sind in der Tat erlöste Seelen und frei von Karma. Es heißt, daß man im Reich eines wahren Gottmenschen (Darvesh) keine Rechenschaft über seine Karmas abzulegen braucht. Wer sich in die Gemeinschaft eines Heiligen (Sadhu) begibt, der wendet sich dem Besseren zu. Der Mensch neigt jedoch ganz natürlich dazu, eher das Übel anzunehmen als die grenzenlose Güte der Heiligen. Die Gemeinschaft mit einem Heiligen hat die wunderbare Wirkung, alle üblen Eindrücke zu beseitigen. Der atmosphärische Wirkungsbereich eines Meister- Heiligen ist von einer solch grenzenlosen Weite, daß man es sich kaum vorstellen kann. Die Heiligen kommen nicht nur zum Wohl der Menschen, sondern zum Nutzen der lebendigen und leblosen Schöpfung auf allen Ebenen der Welt, ob sichtbar oder unsichtbar. Das arme Geschöpf namens Mensch hat keinen wahren Freund. Selbst das Gemüt mit den drei Eigenschaften (Gunas) von Reinheit (Satva), Tätigkeit (Rajas) und Trägheit (Tamas), das stets als Komplize des Menschen wirkt, schaut auf ihn genau wie eine Katze, die ihren ruhelosen Blick auf eine Ratte wirft. Jene, die den Befehlen ihres Gemüts gehorchen, werden beständig von seinen Tücken beherrscht und liefern sich unsäglicher Not und qualvollen Schrecken aus. Das „Gemüt“ jedoch fürchtet dies, denen Gott durch seinen Mittler, den Gottmenschen (Satguru), wohlgesonnen ist. Das Gemüt wagt es nicht, die Privilegien und Rechte jener, die Er liebt und die sein eigen sind, zu verletzen, es hilft ihnen vielmehr wie ein ergebener Mitarbeiter, der den Weisungen seines Vorgesetzten Folge leistet. Wie das Feuer ist es ein guter Diener, aber ein schlechter Herr:

 

In der Gemeinschaft eines Sadh

hat man nichts zu bereuen;

in seiner Gemeinschaft erkennt man

den Herrn und folgt ihm getreulich;

in seiner Gemeinschaft erlangt man

der Gottheit höchste Gabe.

 

Darum betonte Guru Nanak mit Nachdruck:

 

O Nanak! Reiße all die vergänglichen Bande

der Welt entzwei und mache dich auf die

Suche nach dem wahren Einen. Während

alle anderen dich schon in deinem Leben

verlassen, wird der wahre Eine

dich sogar ins Jenseits begleiten.

 

Und wiederum:

 

O Seele, sei gewiß, daß der Gottmensch dir

vor dem Richterstuhl Gottes beistehen wird.

 

Baba Farid, ein Moslem- Heiliger, sagt auf fast die gleiche Weise:

 

O Farid! Begib dich eilends auf die Suche

nach einem Befreiten, denn nur er kann dich

(von der Bindung an die Welt) befreien.

 

Und wieder:

 

Das stets ruhelose Gemüt findet keinen

Frieden, bis es in einem Gottmenschen ruht.

 

Im Gurbani (Lehren der Gurus, Berichte von Heiligen) lesen wir:

 

In der Gemeinschaft mit einem Sadh

wird den umherwandernden Gedanken

Einhalt geboten; allein der beruhigte Geist

kann das Licht des Herrn widerspiegeln.

 

Jeder Mensch ist in den unsichtbaren Fesseln der Karmas physisch und geistig gebunden. Solange einer dem Einfluß von Gemüt und Materie unterworfen ist und nicht den Schutz eines Heiligen gesucht hat, wird er von allen Gesetzen der verschiedenen Ebenen beherrscht, und es wird ihm die reine und einfache Gerechtigkeit zuteil, ungemildert durch Barmherzigkeit. Er unterliegt der Bestrafung für alle seine Sünden – der unbedachten, ungenannten und subtilen. Ein Freund beim Gerichtshof kann in der Lage sein, das lange und qualvolle Verfahren abzukürzen, aber vor dem Richterstuhl des Höchsten ist der Meister- heilige zur Zeit des Gerichts der einzige wahre Freund. Im Jap Ji erklärt Guru Nanak:

 

Der Heilige ist der höchste Erwählte

und geachtet in seinem Reich,

er ziert die Schwelle zu Gottes Tür

und wird selbst von Königen verehrt.

 

Und wiederum:

 

Der Satguru hat mir die Gabe der Einsicht

verliehen, und ich sehe all meine Zweifel

beseitigt. Der Engel des Todes kann mir kein

Leid mehr bereiten, da der Bericht

über meine taten ausgelöscht ist.

 

Der Pfad der Heiligen führt in eine ganz andere Richtung. Für den Initiierten gibt es keinen Gerichtshof. Der Heilige ist überall gegenwärtig, und sein Einfluß erstreckt sich auf ungeahnte Bereiche. Niemals verläßt noch versäumt er seine Schüler, bis an der Welt Ende. Er versichert uns feierlich:

 

Jedermann, ich will mit dir gehen

und dein Führer sein; in der größten Not

will ich dir zur Seite stehen.

 

                  Aus „Jedermann“ von Hofmansthal

 

Wie ein gütiger und wohlwollender Vater wird er das irrende Kind selbst zurechtweisen, aber es niemals der Polizei zur Bestrafung übergeben.

Keiner ist mehr gebunden als einer, der zu Unrecht glaubt, frei zu sein. Die Falle für den hochgeborenen Geist ist der Ehrgeiz. Jene, die im weltlichen Sinn des Wortes reich sind, scheinen bequem zu leben. Sie mögen in der Vergangenheit manche gute Saat gesät haben und ernten in der Gegenwart offensichtlich eine reiche Ernte, oder sie handeln jetzt nach dem Grundsatz: horten, raffen, an sich reißen, und bauen sich somit ein Hornissennest für die Zukunft. Alle diese Menschen, die im Überfluß leben, vergessen unglücklicherweise, daß sie in jedem Fall durch „unsichtbare Fesseln aus Gold“ gebunden sind und Leid entgehen, ohne es zu wissen.

 

Ein bekanntes Sprichwort sagt, daß die Paläste und Mauern der Mächtigen mit dem Schweiß und den Tränen der Armen errichtet wurden. Wenn man in der Vergangenheit nicht Gutes gesät hat, kann man in der lebendigen Gegenwart keine reiche Ernte einbringen. Es kann auch sein, daß man unmerklich und für keinen sichtbar die Last einer Schuld mit sich trägt. Sät man jetzt gute Saaten, wie kann man dann erwarten, daß man später imstande ist, gute Früchte zu genießen, und für wie lange?

 

Darüber hinaus können einen gute Taten allein nicht von den Rückwirkungen schlechten Tuns befreien, geradeso wie schmutziges Wasser nichts reinwaschen kann. Wie ein christlicher Heiliger sagt, wir sind bei all unserer Rechtschaffenheit nichts als unreine Knechte. Keiner ist rein, nein, auch nicht einer. Der Mensch unterliegt immer dem Gesetz des Gebens und Nehmens oder der Belohnung und Bestrafung. Dem Weg des guten Handelns zu folgen ist fraglos etwas Wünschenswertes und besser als der Weg übler Taten, aber das ist nicht genug. Ein hohes ethisches Leben kann den Aufenthalt im Paradies für eine lange Zeit sichern, wo er sich in aller Wonne der himmlischen Glückseligkeit erfreut, aber auch dort ist er noch im astralen oder kausalen Körper gefangen und hat sich noch nicht vom Kreislauf der Geburten und Tode befreit. Solange man sich als den Handelnden betrachtet, kann man dem Rad der Geburten nicht entkommen und hat die Früchte seines Handelns zu ertragen. Einzig die Verbindung  mit dem Heiligen Geist, dem heiligen Wort oder Naam hilft dem Menschen bei seinem Aufstieg zu den höheren spirituellen Regionen, weit entfernt von den Geistern derer, die immer wieder Geburt und Tod erleiden und sich in endlosem Kreislauf auf- und abbewegen, ohne einen Ausweg zu finden.

 

Hölle und Himmel sind die Regionen, in denen die ohne Körper lebenden Geister relativ lange Zeit, entsprechend ihren guten und schlechten Taten, wie der Fall gerade liegt, zu bleiben haben. Wie lange sie sich dort auch aufhalten müssen, es ist nicht für immer und löst sie auch nicht aus dem unerbittlichen Kreislauf der Geburten und Tode heraus. Das Paradies, auch Himmel oder Garten Eden genannt, ist das Eldorado gewisser Glaubensgemeinschaften. Von vielen wird es auch als Erlösung bezeichnet. Das ändert nichts an der Tatsache, daß man wieder einen menschlichen Körper erhält, nachdem man die Wohltaten des Paradieses für eine Zeitspanne genossen hat, die durch die eigene guten Taten bestimmt wurde;  denn der irdische Körper allein bietet der Seele die Gelegenheit, jene Verdienste zu erwerben, die schließlich zur Befreiung führen. Selbst die Engel als Diener Gottes streben nach der menschlichen Geburt, wenn sie glauben, ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Wenn wir also dem allgemein anerkannten und für richtig befundenen Pfad des guten Handelns folgen, an den die meisten von uns glauben, findet man sich letztlich wiederum im Netz der unersättlichen Begierden und des Ehrgeizes verstrickt; und mit diesem glitzernden und stets flüchtigen Irrlicht vor Augen bleibt der Mensch unwissentlich im stählernen Griff der Karmas gefangen. Um sein Ziel zu erreichen, verrichtet er verschiedene Arten asketischer Härten und Bußübungen (Tapas), die ihm zu einem besseren Leben verhelfen sollen. Und gewinnt er die Herrschaft über ein Königreich, läßt er seinem Gemüt freien Lauf, setzt sich über alle Schranken hinweg und vollbringt gewaltige Heldentaten großer Tapferkeit, von denen die meisten schlimm genug sind, ihn in die Hölle zu bringen. Nachdem er die bittere Lektion der Höllenfeuer erfahren hat, in die er sich gestürzt hat, versucht er von neuem, in den Bußübungen Trost zu finden. So bleibt er immer gefangen und in den unheilvollen Kreislauf der Versuchungen und Verlockungen verstrickt, der ihn von der Hölle zur Buße, von den Bußübungen zur Herrschaft und von dort wieder in die Hölle führt – immer wieder aufs neue in der Gestalt eines endlosen Kreislaufs, der ihn auf dem Rad des Lebens aufwärts und abwärts trägt. So schafft sich jeder selbst Himmel und Hölle und bleibt durch die eigenen üblen Taten in das feinmaschige Netz des Lebens verstrickt, das er sich selbst gewebt hat.

 

Wer dem Weg der Heiligen folgt, dem mittleren Pfad, der genau zwischen den beiden Augenbrauen beginnt, kommt mit den Regionen von Hölle und Paradies nicht in Berührung, denn er umgeht den Pfad des Karma- Yogi, der durch selbstlose soziale Arbeit frei wird von Bindungen. Selbst wenn eine Seele, die unter dem Schutz eines Meister- Heiligen steht, für eine Weile in die Irre geht, ist ihre Errettung dennoch gewiß. Obgleich die Heiligen lebende Beispiele der Demut sind und nicht von der Befugnis sprechen, die ihnen übertragen wurde, weisen sie doch zuzeiten indirekt auf die erlösende Kraft der Heiligen hin, die vor ihnen lebten. Die Schriften zeigen auf, daß der heilige Nanak einen Schüler rettete, der sich auf einem Irrweg  befand, welcher in die Hölle führte. Der Heilige mußte um eines verlorenen Schafes willen die Höllenglut aufsuchen und seinen Daumen in die flüssigen Höllenfeuer tauchen. Und er kühlte dadurch den ganzen Schmelzofen der Hölle ab, was nicht nur einer, sondern einer Vielzahl sündiger Seelen Linderung verschaffte, die dort in großer Not mitleiderregend wehklagten. Aus der Zeit König Janakas und anderer werden uns ähnliche Ereignisse berichtet. Auch mein Meister Huzoor (Baba Sawan Singh [1858-1948]: Meister des Autors) mußte einmal einen Schüler, der sich auf Abwegen befand, dem Verderben entreißen. Wie kann es dann für einen gewöhnlichen Menschen Erlösung von der Hölle geben?

 

Jene, die hingebungsvoll das heilige Wort

über, deren Mühen werden enden;

Ihr Antlitz erstrahlt voll Herrlichkeit,

o Nanak! und viele werden mit ihnen

gerettet werden.

 

Es gibt noch eine andere Region, die von den Moslem- Heiligen Fegefeuer (Eraf) genannt wird und die Freuden wie auch Schrecken in variierendem Ausmaß bereithält. Mehrere Meister verschiedener Grade beschrieben unterschiedliche Erfahrungen von Ängsten und Höllenqualen. Das alles entspringt nicht irgendeiner einfallsreichen Phantasie, sondern ist sehr ernst gemeint und des Nachdenkens wert. Und ob man es glaubt oder nicht, der Schüler eines Heiligen wird von all dem nicht betroffen. Solange er seinem Meister- Heiligen treu ist, kann ihm keine Macht der Welt auch nur ein einziges Haar auf dem Kopf krümmen. Ein wahrer Schüler eines Meister- Heiligen sagt treffend:

 

Ich handle nur mit den Heiligen

und habe allein mit ihnen zu tun;

durch das Guthaben, das sie mir gewährten,

wurde ich von aller Täuschung frei,

und der Todesengel kann mir nun

kein Haar mehr krümmen,

da die gesamte Aufzeichnung meiner Taten

den Flammen übergeben worden ist.

 

Wiederum heißt es:

 

Der Engel des Todes ist in der Tat unbesieg-

bar, und keiner kann ihn bezwingen;

aber in der Gegenwart des Tonstromes

des Meisters ist er machtlos;

der bloße Klang Seines Wortes erfüllt ihn

mit Schrecken und läßt ihn entfliehen,

denn er fürchtet, der Herr der Heerscharen

könne ihn selbst zu Tode treffen.

 

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