Soziales Verhalten

 

Eine weitere Aufgabe der Heiligen ist, uns zu Menschen zu machen. Ihre erste und wichtigste Mission ist es, den Menschen das uneingeschränkte Anrecht auf das höchste Wissen über die Seele und All- Seele zu verleihen. Die Heiligen weisen den Wahrheitssuchenden an, die völlige Reinheit von Körper, Gemüt und Verstand anzustreben, was ihn erst zu einem vollständigen und heilen Menschen macht, bevor er sich daran wagen kann, den Gordischen Knoten zwischen Körper und Geist zu lösen. Ein verletzter und verstümmelter Mensch kann weder sich selbst noch  Gott erkennen. Nach welchen Grundsätzen soll denn nun der Strebende sein Handeln ausrichten? Das ist die wichtigste und doch am wenigsten beachtete Frage, die meist gedankenlos übergangen wird. Die dürftigen Informationen, die uns allgemeinen zugänglich sind, verdanken wir entweder geistige Gemeinschaften, verstreuten Hinweisen religiöser Menschen oder dem Studium der heiligen Bücher. Die Menschen bemühen sich jedoch nicht einmal auf die Verstandesebene, ihrem Leben eine feste Richtung zu geben. Sie haben nie genug Zeit, sich mit dieser Frage zu befassen. Vielleicht hat die religiöse Engstirnigkeit oder dir Furcht der Priesterschaft nicht erlaubt, die Aufmerksamkeit der Massen diesem Problem zuzuwenden. Bei dem weit verbreiteten Materialismus mögen sie es las hoffnungslose Aufgabe empfunden haben, Ernährungsgebote aufzustellen. Doch trotz alledem gibt es einige Menschen, die ohne Vorurteile sind und die Literatur des Ostens unvoreingenommen studieren. Aber durch die besondere Ausdrucksweise, die ihnen gänzlich fremd ist, sehen sie sich dabei vielen Schwierigkeiten gegenübergestellt. Die Worte sind entweder in sich nicht deutlich genug oder geben das, was der Verfasser sagen wollte, nur ungenau wieder.

 

Die alten Weisen, die Rishis und Munis von einst, haben die Frage des menschlichen Lebens gründlich durchdacht. Sie haben seine verschiedenen Aspekte erschöpfend untersucht und einen vernünftigen Lehrplan und Übungsweg entwickelt, der dem Menschen auf der Suche nach seiner Vollendung hilft. Auf diese Weise wurde eine zufriedenstellende Richtlinie umfassender Kultur oder Neugestaltung ausgearbeitet, die das Wissen um das Selbst oder die Seele und das Erreichen der höchsten, endgültigen Wirklichkeit, der großen Wahrheit, einschloß. Sie begannen mit der planmäßigen Erforschung der angeborenen Eigenschaften (Gunas), dem Rückgrat und der Urquelle aller karmischen Aktivitäten, von der jede Bewegung des Gemüts ausgeht. Danach zergliederten sie diese Eigenschaften und teilen sie in drei ganz unterschiedliche Gruppen ein:

 

1.     Harmonie und Wahrheit (Satogun): Die höchste Handlungsweise. Man kann sie als ein reines Leben in geistiger Ausgeglichenheit beschreiben.

2.     Aktivität (Rajogun): So wird der Mittelweg des Handelns genannt. Eine geschäftsmäßige Haltung des Gebens und Nehmens.

3.     Unwissenheit und Trägheit (Tamogun): Die niedrigste Handlungsweise, die allein auf selbstsüchtige Ziel gerichtet ist und keinerlei Gedanken an andere kennt.

 

Durch einige Beispiele wird das Thema verständlicher:

 

a)     Bedenkt zum Beispiel die Frage des Dienens und Helfens:

1.     „X“ hat es sich zum Grundsatz seines Lebens gemacht, anderen zu dienen, aber für das, was er getan hat, erwartet er von den anderen keinerlei Hilfe oder Dienst als Gegenleistung. Seine Lebensregel lautet: Tue Gutes und denke nicht mehr daran.

2.     „Y“ dient und hilft und erwartet eine dementsprechende Gegenleistung. Das kann man mit einem Austausch von Dienstleistungen vergleichen, wie er im Geschäftsleben nach dem Grundsatz des Gebens und Nehmens oder des Tausches üblich ist: Behandle andere so, wie du auch behandelt werden möchtest.

3.     „Z“ dient und hilft anderen überhaupt nicht; er glaubt vielmehr, daß er ein Recht auf Hilfe und Dienst hat, was ihn aber zu keinerlei Gegengabe verpflichtet.

b)    Betrachten wir nun die Frage der Nächstenliebe:

1.     „X“ gibt und vergißt und möchte dafür keinerlei Gegengabe; denn sein Grundsatz lautet, den Armen und Hilfsbedürftigen selbstlos zu dienen.

2.     „Y“ gibt und erwartet für die guten Dienste, die er anderen erwiesen hat, irgendeine Art von Gegenleistung.

3.     „Z“ erwartet Hilfe und Dienst, wann immer er in Not ist, doch er gibt dafür keinesfalls etwas zurück, selbst wenn ein anderer sich direkt vor seinen Augen in größter Not befindet.

 

Wir sehen also, daß das Verhalten von „X“ das beste ist und der höchsten Handlungsweise (Satogun) entspricht. Seine guten Taten zeichnen ihn vor den Augen aller Welt und vor seinem Schöpfer aus. „Y“ erntet keinen Ruhm für seine guten Taten, da sie durch sein geschäftsmäßiges Geben und Nehmen fast schon beglichen sind, so daß nichts mehr zu seinen Gunsten verbleibt. „Z“ andererseits belädt sich mit einer Bürde oder Last, zu deren Begleichung er sich den karmischen Auswirkungen ausliefert, die sich unter Umständen über Generationen ohne Ende hinzieht.

 

Die Meister raten uns also, den unter 1. geschilderten Weg zu gehen und auf keinen Fall den Weg von 2. zu unterschreiten, wenn das überhaupt nötig sein sollte. Wie oben beschrieben kann sich jeder von uns seinen Lebensweg vorzeichnen und seine Handlungsweise bestimmen. Soviel zum Verhalten des Menschen als Mitglied der Gesellschaft, der er angehört. Dies anzustreben, ist jedoch kein Ziel an sich, sondern nur ein Mittel zum Ziel – nämlich frei von Karma zu werden (neh- karma), das heißt, Karmas nicht nur ohne jede Bindung oder irgendein Verlangen nach ihren Früchten zu vollbringen, sondern als ein „Tun im Nichtstun“ (swadharm) und dann weiterzugehen, um das Selbst im Innern zu entwickeln und die Quelle aller Liebe, allen Lebens und allen Lichts zu erfahren, in der wir wirklich leben und unser wahres Sein innehaben, wie ein Fisch, der im Wasser lebt und dennoch nicht weiß, was Wasser ist.

 

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