Ein Leben der Selbsthingabe

 

Um auf dem spirituellen Pfad voranzuschreiten , ist es von höchster Bedeutung, die Frage des persönlichen Verhaltens (Ahar) zu beantworten. Für den Wahrheitssuchenden stellen der liebende Glaube und die völlige Hingabe an den Willen Gottes oder den seines Auserwählten die grundlegenden Prinzipien seines Leben dar.

 

Die Weisen und die Schriften sagen uns gleicherweise, daß wir, während wir in der Welt leben, uns nicht so verhalten sollten, als ob wir von der Welt seien, sondern eine Haltung der Selbstverleugnung oder des völlig Losgelöstseins von der Welt und allem, was weltlich ist, beibehalten sollten. Wir sollten also leben wie die Lotospflanze, die unten im Schlamm wurzelt, doch ihre Blüte weit darüber ins Licht der strahlenden Sonne erhebt, die über dem trüben Wasser scheint; oder wie der königliche Schwan, der majestätisch über die Oberfläche des Wassers, seines natürlichen Lebensraumes, gleitet und doch unbenetzt darüber hinwegfliegen kann, wenn er es will oder es ihm geboten scheint.

 

Diese Art unbeteiligter Absonderung oder Losgelöstheit von der Umgebung und vor allem von dem niederen Selbst, dem Körper, dem Gemüt und der Gefühlswelt, kommt nur zustande, wenn man das Ich oder den persönlichen Willen im willen Gottes oder dem seines Gurus, des Gottmenschen, aufgehen läßt, denn dann handelt man wie eine Marionette in einem Pantomimentheater, die nach dem Willen des Drahtziehers der Bühne spielt und tanzt. Dieser Zustand, der uns bitten läßt: „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille möge geschehen, o Herr!“ wird völlige Selbsthingabe genannt. Solch eine Haltung verhilft einem Menschen auf einfache Weise von Karma frei zu werden. Obwohl er augenscheinlich dies oder jenes bewirkt, tut er doch nichts mehr aus sich selbst, sondern führt nur den Willen Gott- Vaters oder des göttlichen Lehrers aus, denn er sieht in sich den göttlichen Plan, wie er ist, und treibt einfach dahin im großen Strom des Lebens und erkennt sich als bewußtes Werkzeug in den unsichtbaren Händen, die all seine Bewegungen lenken.

 

Selbsthingabe heißt also, daß man alles, was man hat, Gott oder seinem Auserwählten, dem Lehrer (Gott im Menschen) übergibt, einschließlich Körper, Besitz und das eigentliche Selbst (das denkende Gemüt). Dies bedeutet für das Individuum jedoch nicht den Zustand eines völligen Bankrotts der Handlungsfähigkeit, wie mancher zu denken geneigt dein könnte. Der allmächtige Gott und sein Auserwählter sind die Spender aller Dinge, und sie benötigen jene Gaben nicht, die sie ihren Kindern bereits umsonst und im Überfluß zu ihrem rechtmäßigen Gebrauch und Wohlergehen gewährt haben. Doch aus Unwissenheit betrachten wir sie als unser eigen und nehmen eine Haltung aggressiver Besitzstrebens ein. Wir versuchen sie mit allen Mitteln, ob recht oder unrecht, zu erlangen, und verteidigen sie dann eifersüchtig , ist aller Kraft. An diese Gaben gebunden und fest umklammernd, vergessen wir Ihn, den großen Geber. Dadurch schleicht sich unmerklich die große Täuschung in uns ein, die Grundursache all unserer Leiden. Diese Dinge, die wir erlangt haben, gehören uns natürlich, doch sie wundern uns als heiliges Gut zu unserem vorübergehenden Gebrauch gegeben, damit wir sie in Übereinstimmung mit dem Willen des Spenders nutzen, der zweifellos vollkommen, makellos rein und fehlerlos ist. Doch da wir im Bereich der Materie leben, können wir trotz all unserer Weltklugheit nicht vermeiden grobe Eindrücke an uns zu ziehen und ihnen zu erlauben, sich ungehindert Tag für Tag anzuhäufen, bis sie eine Mauer wie Granit um uns bilden. Wir verlieren dadurch unser klares Wahrnehmungsvermögen, werden der Wirklichkeit gegenüber blind und gelangen dazu, das Selbst in uns mit dem Körper (pinda) und dem physischen Gemüt (pindi- manas) zu identifizieren. Diese rauchgeschwärzten und mit Scheuklappen versehenen Gläser trüben unsere Sicht so sehr, daß wir die weiße Strahlung der Wirklichkeit nicht mehr erkennen können, sie bleibt uns verborgen, als ob wir durch einen Dom mit vielfarbigen Glasfenster blickten. Die Heiligen berichten uns von der Wirklichkeit und helfen uns, die täuschenden Gläser zu zerbrechen, die Scheuklappen, die unsere Sicht begrenzen, herunterzureißen und die Welt, die sich uns zeigt, als herrliches Gotteswerk zu erkennen. Sie sagen uns, daß die Welt, die wir sehen, eine Widerspiegelung Gottes ist und Gott in ihr wohnt. Da dies so ist, müssen wir Körper, Gemüt und Besitz, die Gaben Gottes, so sauber und rein halten, wie sie uns gegeben wurden, und wie sie in seinem Dienst und im Dienst für seine Schöpfung weise nutzen, wie es seinem göttlichen Willen entspricht, der bereits in das Grundmuster unseres Seins gewirkt ist; oder wie könnten wir sonst bestehen? Doch durch eine fortwährende Empfindung des Getrenntseins von der Wirklichkeit haben wir Gott im mächtigen Wirbel der Welt aus den Augen verloren, ebenso wie den Halt an den lebendigen Rettungsleine im Inneren: dem Licht und dem Ton Gottes. Die Heiligen gebieten uns, den Vorgang des Nachaußen- Wendens zur inneren Wirklichkeit hin umzulenken, indem wir die wahren Werte des Lebens verstehen lernen;  denn das „Leben“ ist viel wertvoller als das Fleisch (der Körper); und das Fleisch ist mehr wert als das Gewand (weltlicher Besitz), mit dem wir unser geringes Selbst in Form von Körper und Gemüt bedecken. Beide sehen wir fälschlich als unser eigen an und verwenden sie bedenkenlos und selbstsüchtig für Sinnesfreuden und irdische Zurschaustellung. Wenn wir uns einmal über das Köperbewußtsein erhoben haben, wissen wir, was wir sind und wie wir unsere Gaben im Dienst an Gott und Gottes Schöpfung am besten nutzen können. Wir werden sie nicht länger zu sündhaften Handlungen, die aus sinnlichen Gelüsten und dem Wunsch nach Selbsterhöhung geboren wurden, mißbrauchen und auch nicht als Mittel zu weltlicher Macht oder für persönlichen Nutzen und Gewinn einsetzen. Das war die große Lehre, die der Weise Ashtavakra dem König Janaka vermittelte, nachdem er ihn eine tatsächliche Erfahrung der Wirklichkeit gegeben hatte. In der Tat müssen wir nichts anderes aufgeben als das egoistische Verhaftetsein an die Schatzkammer des Herzens. Dadurch werden wir nicht ärmer, sondern lenken weit mehr der liebevollen Gaben des höchsten Vaters auf uns, wenn er die Weisheit seines Kindes sieht, das einst war wie der verlorene Sohn, doch nun klüger geworden ist. Das wird Hingabe des niederen Selbst genannt, mit allem, was zu ihm gehört, also mit Körper, Gemüt und Besitz, um des höheren Selbst, der Seele willen, wie es dem göttlichen Willen entspricht, und um das wahre Ziel des Lebens zu erreichen, nämlich frei zu werden von Karma.

 

Ein Beispiel zum besseren Verständnis: Aus der Zeit Guru Arjans, dem fünften Guru nach Nanak, wird uns von einem vorbildlichen Schüler (Sikh) namens Bhai Bhikari berichtet. Einst bat ein Schüler den Guru, ihn mit einem ergebenen Schüler, einem Gurbhakta, bekannt zu machen. Der Guru sandte ihn mit einem Brief zu Bhai Bhikari und bat ihn, ein paar Tage bei dem frommen Bhai zu bleiben. Bhikari empfing seinen Glaubensbruder sehr herzlich und bewirtet ihn, so gut er nur konnte. An dem Tag, als er ankam, nähte sein Gastgeber gerade in aller Ruhe an einem Stück Stoff, das wie ein Leichentuch aussah. Nachdem der Schüler ein paar glückliche Tage in der Gesellschaft Bhais verbracht hatte, wollte er wieder heimkehren, aber Bhikari bat ihn, noch ein wenig zu bleiben und der Hochzeit seines Sohnes beizuwohnen, die sie bald feiern würden. Da sein Gastgeber ihn so liebevoll bedrängte, stimmte er zu. Der Hochzeitstag nahte. Im Haus wurde gefeiert, doch Bhikari blieb so ruhig wie immer. Wie allen anderen, begleitete der Schüler den Hochzeitszug, nahm an den fröhlichen Trauungsfeierlichkeiten teil und ging mit den Brautleuten zum Hause Bhikaris zurück. Doch wie es das grausame Geschick befahl, wurde am nächsten Tag Bhikaris einziger Sohn, der frisch vermählte junge Mann, ganz unvermittelt krank und starb. Bhikari nahm ruhig das Tuch heraus, das er vor ein paar Tagen für diesen Zweck genäht hatte, hüllte den toten Körper seines Sohnes darin ein, trug ihn zum Verbrennungsplatz und vollzog das letzte Ritual mit der für ihn üblichen Gelassenheit. Der Schüler war sprachlos vor Staunen über Bhikaris unerschüttlichen Gleichmut, der von allen Wechselfällen des Lebens unbeeinträchtigt blieb, denn er bemerkte in Bhikari nicht eine Spur von Freude oder Kummer, sondern völlige Ergebenheit in den Willen des Herrn. Bhai hatte ihn von Anfang an gekannt und befolgt, ohne persönliche Gefühle oder die geringste Gemütsbewegung zur Schau zu stellen.

 

Guru Nanak betet immer: „O Herr! Tue nicht das, was ich erbitte, sondern lasse Deinen Willen geschehen.“

 

Ähnlich bezeichnete sich Sant Kabir häufig als einen Hund namens Moti und schrieb alle seine Taten seinem Herrn und Gott zu, der die Leine in den Händen hielt und ihn zog, wohin Er wollte.

 

Christus betete immer: „Dein Wille geschehe, im Himmel wie auf Erden.“ „Dein Wille geschehe“ war auch stets das Schlußwort der täglichen Gebete der Hindu- Mönche, Moslem- Derwische und christlichen Priester, denen die Worte „Tatha Astu“ oder „Amen“ folgten, die „Möge es so sein“ bedeuten.

 

Aus Vorstehendem sollte deutlich zu erkennen sein, wie sehr wirklich aufrichtigen Schülern des Meisters und auch dem Meister selbst bewußt ist, daß sie keine eigene, individuelle Existenz getrennt von der des Gottmenschen oder von Gott haben. Solche Menschen lesen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in einem offenen Buch und handeln in Übereinstimmung mit dem göttlichen Plan. Das führt zu dem unweigerlichen Schluß, daß Gott jenen Seelen hilft, die seinen Willen befolgen. Doch das gilt nur für Menschen mit starkem Glauben, es ist kein Rettungsweg für den gewöhnlichen Menschen, der immer auf der Sinnesebene lebt; denn er wird durch das Gesetz beherrscht: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“. Jede Art von Selbsthingabe bringt rasch ihre eigene Frucht, die der Tiefe des Glaubens entspricht und der Ebene, auf der sie erfolgt. Wenn man auf dem Pfad fortschreitet, lernt man durch allmähliche Erfahrung den vollen Wert der Selbsthingabe kennen, bis man ein Stadium erreicht,  in dem man das Ich oder Ego gänzlich im göttlichen Willen verliert, selbst frei wird von Karma und somit die Krönung und Herrlichkeit aller menschlichen Existenz verwirklicht. Der liebende Glaube an die Gott innewohnende Güte und die völlige Selbsthingabe an den göttlichen Willen führen uns also auf die erhabene Straße der Spiritualität, ohne daß der Strebende länger größere Mühen auf sich nehmen muß. Diese beiden Eigenschaften stellen das geheime „Sesam, öffne dich“ und den magischen Schlüssel dar, der die Tore zum Reich Gottes weit aufstößt. Dieses Reich liegt im Inneren des Tempels des menschlichen Körpers, den jeder von uns besitzt. Alle Schriften künden: „Wisset ihr nicht, daß ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“

 

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