Die Notwendigkeit der Spiritualität

Wohin man sich auch wendet, begegnet man äußerster Spannung und Angst, und überall herrscht Ungewissheit vor. Ursache dieses allgemeinen Chaos ist die Ruhelosigkeit im menschlichen Gemüt. Der Mensch hat auf verschiedenen Gebieten des Lebens einen kolossalen Fortschritt gemacht, hat sich aber leider nicht darum gekümmert, etwas über den Geist im Innern zu erfahren und ist so in dieser Hinsicht gänzlich unwissend. Er hat die Geheimnisse des gestirnten Himmels enträtselt, die Tiefen der Meere ergründet, das Erdinnere umfassend erforscht, ist tapfer den blendenden Schneestürmen und Lawinen beim Ersteigen der schwindelnden Höhen des Mount Everest begegnet und ist nun darauf aus, den Raum zu erkunden, um interplanetarische Beziehungen herzustellen; doch es ist traurig, sagen zu müssen, dass er das Mysterium der menschlichen Seele in seinem Innern nicht herausgefunden hat. Die Frage aller Fragen hat er immer übergangen und ist den Kernfragen des Lebens, die sich auf die Selbsterkenntnis oder das Wissen von der Seele beziehen, geflissentlich ausgewichen, so als ob sie ohne Bedeutung seien.
Ein Mensch mag alle Reichtümer der Welt besitzen, aber wenn er nichts über seine Seele weiß, ist alles umsonst. Der letzte Sinn allen Wissens ist, dass man sich selbst erkennt. Ein gottergebener Moslem sagte in diesem Zusammenhang:
Das ein und alles des Wissens ist nur das, dass man den wirklichen Wert seiner Seele kennt. Du kennst den Wert von allem anderen, doch welche Torheit, dass du deinen eigenen Wert nicht kennst.
Wie bedauerlich ist es, dass wir in allen Lebensbereichen einen wunderbaren Fortschritt machten, aber der Selbsterkenntnis, in deren Licht und Leben wir tatsächlich sind und unser Sein haben, gänzlich ermangeln. Aus der Unwissenheit über die lebendige Wirklichkeit in uns ist es kein Wunder, dass wir uns selbst zum Toren gemacht haben. 

Christus sagte: 

Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?

Ein Teil bleibt immer nur ein Teil, bis er mit dem Ganzen verschmilzt und seine Individualität in seiner Quelle oder dem Ursprung aufgeht. Ein Bergstrom gurgelt, tost und sprüht in seinem Abwärtslauf, bis er sich ins Meer ergießt. So ist es auch der Fall mit dem individuellen Geist. Er weiß nichts über seine wesentliche Natur, kennt nicht einmal seinen Ursprung, und so plätschert und schäumt er wie der Strom des Lebens sein steiniges Bett entlang, das durchsetzt ist mit großem Geröll und unter Wasser befindlichen Felsblöcken. Die eigene Ruhelosigkeit wird durch die Rastlosigkeit, die wir bei den Völkern der Erde finden, widergespiegelt. Der Mensch hat die große grundlegende Wahrheit der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft des Menschen vergessen. Daher kommt all der Kampf zwischen Menschen, Klassen, Gemeinschaften und Ländern.
Die dringende Notwendigkeit der Stunde ist, der alten Wissenschaft der Spiritualität eine Neuorientierung zu geben und die Menschen anzuweisen, dass sie ein spirituelles Leben führen sollen. Die gesamte Menschheit befindet sich in äußerster Unwissenheit. Die meisten führen ein rein egoistisches Leben und bereichern sich auf Kosten anderer; aber zugleich stehen sie verwirrt wie zwischen zwei Mühlsteinen: erstens der Wahrheit, welche durch die Meister wissenschaftlich erklärt und gelehrt wird, und zweitens den strengen Formen oder verhärteten Überbleibseln der Religion, die meist durch unwissende religiöse Fanatiker gelehrt wird. Die sogenannten Lehrer und Prediger, welche die irrende Menschheit richtig leiten sollten, sind selbst Opfer der großen Täuschung und wissen nicht, wo sie stehen und was sie tun sollen.
Die meisten von uns werden vom Zauber der äußeren Welt, dem Leben der Sinne gefesselt und unwiderstehlich angezogen; sie glauben wirklich an die epikureische Doktrin: »Esst, trinkt und seid fröhlich!« Wir haben Gott, die Grundlage des ganzen Universums, überhaupt nicht nötig. Wir haben unseren Glauben an eine Nussschale befestigt und können den darin verborgenen Kern nicht sehen. Wir wollen die Schale schlucken und nicht den süßen, köstlichen Kern, den sie mit ihrer harten Hülle umschließt. Auch unsere sogenannte Suche nach Gott betreiben wir auf der Ebene der Sinne, in der äußeren Welt. Wir suchen Ihn auf schneebedeckten Bergspitzen, in den Wassern heiliger Flüsse, im brennenden Wüstensand, in Tempeln, Moscheen, Kirchen, und darum finden wir Ihn nicht. Je mehr wir Ihn im Äußeren suchen, desto mehr weicht Er uns aus, ist nun praktisch nicht mehr erreichbar für uns, und wir haben allen Glauben an Ihn verloren.

O ihr Sucher nach Gott! Ihr habt Gott verloren; im Strudel der Sinne habt ihr Ihn verloren.

In einer solch traurigen Lage kommen von Zeit zu Zeit Meisterseelen in die Welt, um die irrende Menschheit zu leiten. Ihre Botschaft ist eine der Hoffnung und nicht der Verzweiflung. Sie kommen nicht, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen - das Gesetz der Erlösung durch Gnade. Sie haben grenzenlose Liebe für alle Religionen und sagen kein Wort gegen sie. Andererseits suchen sie alle gleichermaßen neu zu orientieren, um frisches Blut in ihre blutarmen Teile zu übertragen und die verfallenden Nerven und Zellen wiederzubeleben; ihnen die Glut des Lebensimpulses einzuflößen und sie wieder auf das hohe Postament zu stellen, von dem sie heruntergefallen sind. Sie geben lediglich die rechte Führung und weisen auf den rechten Pfad, der innen liegt und nicht außen. Es ist der älteste Pfad - Sanatan -, genau so alt wie die Schöpfung selbst, und der natürlichste (Sahaj). Es ist der Pfad, welcher durch den Schöpfer selbst vorgezeichnet wurde und nicht vom Menschen. Diese Meisterseelen sagen uns, dass es Gott gibt und dass alle Religionen, die durch den Menschen geschaffen wurden, nur ein Ziel haben: die Annäherung an Gott.
Das Wort Religion stammt von der lateinischen Wurzel ligare, mit der Ableitung ligament, was »binden« bedeutet. Die Vorsilbe re heißt »wieder«. So bedeutet also das Wort Religion wieder binden, was getrennt, abgesondert und gelöst wurde, d.h. die Seele mit der Überseele oder Gott, oder wie immer man die Quelle, den Ursprung allen Lebens, nennen mag. Wahre Religion in diesem Sinne ist allgemeines Erbgut der Menschheit, und nur der ist religiös, ein wahrer Bhagat oder Ergebener, ein wirklicher Sikh oder Schüler, ein wahrer Moslem oder Christ, der seine Seele mit der Gotteskraft, die in ihm liegt, verbunden hat. Sie sagen uns weiter, dass der menschliche Körper der wahre Tempel Gottes ist, da Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde schuf. Der Geist (die Seele) und Gott (die Überseele) wohnen beide in diesem Körper, aber leider sind sie durch den eisernen Vorhang des Egoismus oder des selbstbestimmenden Willens im Menschen getrennt.

Die beiden halten sich in enger Gemeinschaft in der gleichen Wohnung auf, doch so seltsam es auch erscheinen mag, sie haben nie miteinander gesprochen.

Gauri M. 5

Mit anderen Worten gesagt, die Braut (die Seele) und der Bräutigam (Gott) liegen in demselben Brautbett, doch durch alle Zeitalter hindurch haben sie ihr Gesicht nicht gesehen.

Der Geliebte liegt in ein und demselben Bett, aber leider schnarcht die Gattin tief, während der Gemahl die ganze Zeit über ihr wacht.

Suhi M. 5

Unglücklicherweise haben im Laufe der Zeit alle Religionen die ursprüngliche Idee aus den Augen verloren und bilden nur noch einen Sittenkodex für die rechte Lebensführung oder höchstens ein Kompendium ethischer und moralischer Prinzipien. Die Heiligen mischen sich darum nicht in die verhärteten Überreste der Religionen ein, denn der Mensch muss sich notwendigerweise der einen oder anderen Gesellschaftsordnung anpassen und darin leben. Sie weisen auf das ursprünglich allgemeine Ideal aller Religionen, den inneren Pfad, der zu Gott führt, und sagen uns, wie Gott zu erreichen ist.

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