Was Religion ist und was aus ihr wurde

Religion ist weit davon entfernt, ein Leitfaden spiritueller Wahrheiten zu sein und wird heutzutage meist verstanden als: das Studium der Schriften, Epen und Biographien der alten Weisen; das daraus folgernde notwendige Wissen über die Existenz Gottes; Abhandlungen und Darstellungen der verschiedenen Geistesrichtungen, wie sie durch Philosophen zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Gegenden übermittelt wurden.
Manche Menschen wollen die neuen Gedanken mit den alten in Einklang bringen, während andere die Regeln für soziale Lebensweise und die ethischen Grundsätze als das ein und alles einer Religion betrachten. Die sogenannten und angeblichen Führer religiösen Gedankenguts befassen sich damit, die Wichtigkeit des einen oder anderen Lehrsatzes, an den sie sich hartnäckig klammern, zu verkündigen. Wieder andere sind der Ansicht, dass man Erlösung durch blinden Glauben an die alten Meisterseelen erlangt, die ihre jeweilige Rolle längst ausgespielt haben und von diesem irdischen Planeten schon vor Hunderten oder Tausenden von Jahren gegangen sind. Jeder einzelne von ihnen ist auf seine Art so eifrig, dass er die tatsächliche Wahrheit aus den Augen verloren hat; die Folge davon ist religiöse Blindgläubigkeit, Verfolgung, Inquisitionsgericht, Pranger, Verbrennen auf dem Scheiterhaufen, und das Schlimmste ist, dass all dies im gesegneten Namen der Religion geschieht.
Religion ist in der Tat der Weg zurück zu Gott oder das Verbinden der Seele mit der Überseele. Sie ist der Weg, der Pfad, der die Seele zu Gott führen sollte. Aber durch engherzige Vorurteile, kleinliche Gesinnung und umnebelten Verstand wurde es unglückseligerweise für ausreichend angesehen, wenn man einige Riten und Rituale befolgt, verdienstvolle Taten ausführt, besondere Kleidung trägt, gewisse unterscheidende Zeichen am Körper beibehält und verschiedene Regeln der sozialen Lebensführung von der Geburt bis zum Tod beachtet, oder sich darauf verlegt, bestimmte Mantras aufzusagen und bei besonderen Gelegenheiten Verse aus den Schriften zu singen.
Während sich die ganze Welt auf die eine oder andere Weise mit äußerlichem Tun und Treiben befasst, liegt das Reich Gottes gänzlich vernachlässigt im Innern - eine verlorene Provinz -, und nicht einer wendet sich ihm zu. Alle Meisterseelen weisen auf dieses Königreich hin, und auch alle Schriften sprechen von ihm in unmissverständlicher Sprache. Doch infolge des Mangels an erfahrenen Persönlichkeiten, die die Wahrheit verwirklicht haben, indem sie alle körperlichen und mentalen Begrenzungen hinter sich ließen, haben wir die Wirklichkeit nicht begriffen. Die Religion in ihrem eigentlichen Sinn hat ihre Bedeutung verloren und ist nun von einer Menge zeremonieller und ritualistischer Wortmacherei verdeckt.
Es gibt kaum einen Menschen, der uns etwas über den Weg im Innern des Körpers sagen kann, über die Methode, wie man ihn findet, über die vorbereitenden Bedingungen für die Sucher und vor allem einen, der ein unfehlbarer und sicherer Führer auf dem Weg von Ebene zu Ebene ist, bis man das Ziel erreicht hat. Andererseits gibt es viele Lehrer, die uns täglich begegnen, aber die uns nicht helfen können, aus der großen Täuschung herauszukommen. Sie verlangen von uns einfach, unser Vertrauen in den einen oder anderen der alten Weisen zu setzen, können uns aber nichts über den Weg sagen, durch den jene Weisen die Wahrheit verwirklicht haben und wir das gleiche erreichen können. Sonst würden sie uns erklären, dass die eine oder andere der Schriften eine direkte Offenbarung Gottes sei und ihr Studium als eine Lehre der Disziplin für die Seele beschreiben. Doch sie wissen kaum, dass ein bloßer Bericht über die spirituellen Erlebnisse der Autoren uns nicht den Vorteil bringen kann, den diese hatten, solange wir nicht imstande sind, dieselben Erfahrungen zu machen. Die Schriften können uns von dem Weg berichten, der herausführt, und auch die spirituelle Reise beschreiben, sie können uns aber nicht tatsächlich auf den Pfad stellen, unsere Zweifel beheben und uns von einer Ebene zur anderen führen, die weit über dem Bereich der Worte liegen, noch können sie uns vor den Fallstricken und Gefahren schützen, die auf dem Weg lauern. Gelehrt, wie diese Lehrer sind, können sie uns die Schriften zitieren, um damit das zu bestätigen, was sie anführen, sind aber ganz und gar verloren, wenn es um die praktische Schulung und Führung geht, die für die Selbstverwirklichung und Gottverwirklichung erforderlich sind und über die sie ebenso wenig wissen wie ihre Zuhörer und Anhänger.
Die Wahrheit ist, dass, wenn ein Mensch nicht in vollem Bewusstsein seine Seele mit der Überseele verbinden kann, ihm all seine Werke und Taten (individuelle oder in der Gemeinschaft), wie verdienstvoll sie auch immer sein mögen, nicht viel nützen. Gott ist das Meer höchster und beruhigender Stille. Solange wir diese beruhigende Stille nicht in uns haben, kann die Seele der Stimme der Stille nicht lauschen, die sich aus der tiefsten Tiefe der Stille erhebt. Wenn wir dieser Stimme folgen, können wir die Quelle oder den Ursprung der großen Stille, genannt Gott, erreichen und sind für ewig gesegnet. Diese erhabene Stille ist die Wirklichkeit, die unwandelbare Beständigkeit, die Wahrheit oder Gott, man nenne sie, wie man will. Sie kann durch die individuelle Seele erfahren und verwirklicht werden, aber das Gemüt und der Verstand, die durch Zeit, Raum und Kausalität usw. begrenzt in der äußeren Welt wirken und durch sie allein charakterisiert sind, können es nicht begreifen.

Man kann eintauchen in das grenzenlose Meer, das im Innern liegt, aber sich nicht einmal durch die kühnste Phantasie eine Vorstellung davon machen.
Man kann Ihn nicht durch den Verstand erfassen, denkt man auch ewig darüber nach. Man kann durch äußeres Schweigen nicht inneren Frieden finden, und bliebe man für immer stumm.

Jap Ji, Strophe 1

Solange wir auf die Ebene der Sinne beschränkt sind, können wir Gott nicht erfahren. Nur wenn wir die Sinne, das Gemüt und den Verstand hinter uns lassen und weit über die physische, die mentale und die kausale Ebene hinausgehen, können wir die Verwirklichung der höchsten Seligkeit erfahren.
Erhaben ist der Herr und erhaben Seine Wohnstatt; noch erhabener ist Sein heiliges Wort.

Wer Seine Höhe erreicht, der allein kann Ihn schauen.

Jap Ji, Strophe 24

Nur mit den Schwingen der Liebe und Hingabe können wir Gott erreichen, nicht durch intellektuelles Ringen und die Flüge der Vorstellungskraft. Wir müssen erst durch fortwährende Praxis einen Zustand reinen Bewusstseins erwerben, der unbehindert ist von den Schwankungen des Gemüts und der Gedankenströme, die ständig und unbemerkt über die Seele hereinbrechen und sie innerhalb ihres Bereichs begrenzen. Spirituelles Leben bedeutet Vereinigung der Seele mit der Überseele und ist nicht eine Sache der Gedanken, wenngleich diese eine Brücke oder ein Mittel zum Ziel sind.

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