Der Pfad der Meister: Die drei vorgeschriebenen Praktiken

Der Mensch besteht aus drei verschiedenen Seinsformen:

1. dem physischen Körper, der hauptsächlich aus fester 
    Materie besteht, 

2. dem mentalen Körper, der feinstofflich ist, und 

3. dem kausalen oder Ursachenkörper, welcher die 
    ersten beiden erhält. 

Der Geist oder die Seele wirkt durch alle drei Körper. Die verschiedenen Körper sind früher oder später der Auflösung oder Zersetzung unterworfen, während die Seele, eine immerbestehende Seinsform, die jenseits des Einflusses von Zeit (Kal) oder Tod liegt, unzerstörbar ist. Sie ist ein Funken aus der göttlichen Schmiede, in welcher der Lebensstrom geschmiedet wird, um die Welt zu formen und sie ins Dasein zu bringen. Der Körper ist der wahrhaftige Tempel Gottes, und dieser Mikrokosmos arbeitet ganz einfach nach den Richtlinien des Makrokosmos.

Der Makrokosmos ist im Mikrokosmos, und wer den Makrokosmos sucht, muss ihn im Mikrokosmos finden.

Dhanasari Peepa

Allein die Wahrheit oder Naam wirkt unmerkbar im Menschen wie im Universum. Gott und Sein Geist sind im Wesen eins. Um Gott zu erkennen, muss man erst das Selbst im Innern erkennen. Ohne Selbsterkenntnis durch Selbstanalyse kann das Erkennen der Einheit weder im Inneren noch Äußeren beginnen. Die mohammedanischen Heiligen sagen ebenfalls, dass Alam-i-Saghir (die kleine Welt) ein Urbild von Alam-i-Kabir (die große Welt) ist

Der Mensch ist wahrhaft dreimal gesegnet. Er ist das Höchste und die Krone der Schöpfung. Ein vollkommener Mensch zu sein ist die Blüte des menschlichen Daseins.

Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist,
ist einer der Hauptgrundsätze im Christentum. Kabir sagt, dass der Ergebene wie Gott selbst sein sollte. Diese Vollkommenheit muss daher dreifältig sein: physisch, mental und spirituell. Bis zu einem gewissen Grad liegt das an der eigenen, persönlichen Anstrengung, aber viel hängt auch von der äußeren Hilfe ab. In der Natur bringen die Obstbäume in viel kürzerer Zeit Frucht, wenn sie nach wissenschaftlichen Grundsätzen kultiviert werden, als wenn sie sich selbst überlassen bleiben. Dasselbe Prinzip wirkt mit weit größerer Kraft im Falle von empfindenden, bewussten, menschlichen Wesen. Ein Mensch, der die Hilfe einer Meisterseele hat, kann viel leichter, viel einfacher und viel schneller spirituellen Erfolg erzielen als ohne sie. Doch man muss nach der Verbindung und Hilfe eines vollendeten Meisters suchen, der nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis der spirituellen Wissenschaft wohlerfahren ist.
Ein Höherstrebender muss sehr eigen sein hinsichtlich seiner Ernährung, seines Verhaltens und seiner Umwelt, denn all dies übt auf seinen Körper wie auf seinen Geist einen gewaltigen Einfluss aus. Einfache Satwik-Nahrung (die alles Fleisch, Fisch, Geflügel und Eier ausschließt), Enthaltsamkeit von allen Rauschmitteln, von eitler Rede und eitlem Streben, ein vom Zauber der Welt losgelöster Geist, werden darum als Schulungsweg auf dem spirituellen Pfad eingeschärft. Mit diesen Voraussetzungen wird der Sadhak in die Praktiken eingeweiht, die seinem spirituellen Wohlergehen dienlich sind: 

1. Simran,   2. Dhyan,   3. Dhun Abhyas.

Unser Geist beschäftigt sich gegenwärtig so sehr mit dem Simran der Welt und den weltlichen Dingen, dass wir mit diesen völlig identifiziert sind. Wir wissen nichts darüber, ob wir getrennt von ihnen eine besondere Existenz haben. Wie sehr wir auch immer versuchen mögen, den Geist nach innen zu kehren, es gelingt uns nicht. Gedanken an Freunde und Verwandte, an Büroakten und Berichte, an Gerichtshöfe und Gesetzbücher, an Medikamente und Krankheiten, an Gewinn und Verlust, an Lohn und Streik usw. kommen auf den mentalen Bildschirm wie in einem Lichtspieltheater. Um den Geist davon wegzubringen, muss man den Simran der Namen Gottes üben und über etwas anderes meditieren. Deshalb empfehlen die Heiligen den Suchern oder Sadhaks, Simran mit der »Zunge des Gedankens« zu üben und Dhyan mit dem »Auge des Gedankens«. Durch diese beiden mentalen Vorgänge wird das Gemüt allmählich das Gleichgewicht erlangen, und seine immer schwankenden Neigungen kommen zur Ruhe. Zuletzt muss man mit den »Ohren des Gedankens« auf die Stimme der Stille hören.

Shabd, Naam oder das Wort vibriert unaufhörlich in jedem von uns, denn dadurch leben wir. Die Seele und der Tonstrom sind im Wesen eins. In ihr erklingt eine wunderbare Musik, welche die tausendköpfige Schlange des Gemüts gefügig macht, wenn sie sie hört. Die Aufmerksamkeit (die Essenz des Geistes), bisher Sklave des Gemüts, wird angezogen, gleichgestimmt und von den inneren Klängen der Musik absorbiert. Sie kann sich das Gemüt nicht länger dienstbar machen und die Folge davon ist, dass letzteres hilflos wird und wie ein Kadaver abfällt. Der Tropfen des Geistes, der durch den Tonstrom aus dem Meer der physischen Existenz gezogen wurde, verliert seine getrennte Wesenheit und vereint sich mit ihm. Wenngleich man danach weiter in der Welt lebt, um seine zugeteilte Lebensspanne zu Ende zu bringen, ist man ein Jivan Mukta (ein befreites Wesen oder ein entpersonifizierter Geist). Der Mensch ist nicht länger ein gefesselter Sklave des Gemüts und der Sinne, sondern ist nun festbegründet in der Gottheit und sonnt sich immer im inneren göttlichen Licht, er lauscht der göttlichen Musik, die in seiner Seele erklingt. Die einzelnen Anweisungen in diesem dreifältigen Atam Sidhi oder der spirituellen Wissenschaft werden vom Meister jedem Sadhak (Aspiranten) bei der Initiation gegeben.

Durch Simran und Dhyan werden die Sinnesströme im Körper allmählich gesammelt und auf das Zentrum des Geistes zwischen den beiden Augenbrauen konzentriert. Von hier aus wird der Geist durch den Tonstrom geleitet, und nachdem er die verschiedenen Ebenen überschritten hat, erreicht er seine ursprüngliche Heimat Sach Khand oder Mukam-i-Haq, die der Ursprung und die Quelle des Tonstroms ist.

Das ist Moksha, Nijat, Nirvana oder Erlösung im wahren Sinne des Wortes.

 

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