Das Licht des Lebens

Wie so viele verlorenen Kinder Gottes sind wir alle in das ferne Land, genannt Erde, herabgekommen und haben die Kraft des Vaters mitgebracht, die wir Tag für Tag und jeden Augenblick vergeuden, indem wir die vergängliche Schönheit und Pracht dieses irdischen Bereichs erforschen. Darüber büßen wir jede Erinnerung an unsere göttliche Heimat ein, die glückselige Heimat des Vaters, an unsere Abstammung und unser großes Erbe. „Aus dem Fleisch geboren“, leben wir im Fleisch und haben unsere Verbindung mit der rettenden Lebensschnur im Innern verloren; somit sind wir spirituell tot - tot trotz des hektischen Lebens auf der physischen und mentalen Ebene und der erstaunlichen Errungenschhaften auf den Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Technik. Bei allen Bequemlichkeiten des Lebens, mit denen Mutter Natur ihr Pflegekind, den Menschen, versehen hat, leben wir dennoch in einem Zustand ständiger Furcht und dauernden Mißtrauens - nicht nur anderer, sondern auch uns selbst gegenüber. Denn hilflos und ohne Hoffnung treiben wir auf dem Meer des Lebens dahin, ohne irgendeine Verankerung, die uns Halt bietet und dafür sorgt, daß unser Schiff in den stürmischen Wogen fest und stetig auf Kiel bleibt.

Der Mensch ist ein Mikrokosmos, ein Abbild des Makrokosmos (Universums). Beide, das Individuelle und das Universale, sind in allen Teilen miteinander verbunden. Alles, was außen ist, findet sich auch innen, und der Geist im Menschen hat ungeachtet der schweren Last seiner physichen und mentalen Fesseln die Möglichkeit, die ihn umgebenden dichten Schleier zu durchbrechen. Er kann einen Blick in das Jenseits tun, in den immerwährenden Bereich des höchsten Gottes, die ewig durch sich selbst seiende Wahrheit, die seit Anbeginn der Zeit immer dieselbe ist.

Wir haben hierfür das Zeugnis einer Reihe von Mystikern:

Obgleich du im Raum lebst, hast du deine Wurzeln außer-
halb des Raumes.
Lerne, dich nach dieser Seite abzuschließen, und erhebe
dich in unbegrenzte Weiten.
Denn solange man sich nicht über die Welt der Sinne
erhebt, bleibt man der Welt Gottes völlig fremd.
Bemühe dich unablässig, bis du dem Käfig ganz entron-
nen bist, dann wirst du die Nichtigkeit der unteren Berei-
che erkennen.
Wenn du dich erst über den Körper und was zu ihm
gehört erhoben hast,
wird dein Geist die Herrlichkeit Gottes schauen.
Dein Sitz ist fürwahr Gottes Thron;
schäme dich, daß du es vorziehst, in einer elenden Hütte
zu leben.
Du hast auch dann einen Körper, wenn du außerhalb des
Körpers bist,
warum hast du dann Angst, den Körper zu verlassen?

O Freund, entsage dem Leben des Fleisches,
damit du das Licht des Lebens erfährst.
Du bist wahrlich das Leben von allem, was hier existiert;
ja, beide Welten, die hier und die danach, sind in dir.

Von dir ging alle Weisheit aus,
du bist es, dem Gott seine Geheimnisse enthüllt.
Kurz: obwohl du so unbedeutend erscheinst,
ist doch das ganze Universum in dir.
Ausgestattet mit einem menschlichen Körper und einem
engelgleichen Geist,
kannst du nach Belieben durch die Welt streifen oder dich
in den Himmel erheben.
Welch große Freude wäre es, den Körper hier unten zu
lassen und zum höchsten Himmel emporzufliegen.
Verlasse dein stoffliches Haus aus Fleisch und Blut
und nimm Gemüt und Geist weit mit hinauf.

Könntest du nur dem Tabernakel des Fleisches entrinnen,
dann wäre es dir möglich, zu dem Ort zu gelangen, wo es
keinen Körper gibt.
Das Leben des Körpers kommt von Wasser und Nahrung
allein; denn auf Erden bist du in ein Gewand desselben
Stoffes gehüllt.
Warum verläßt du nicht nachts das Leichenhaus?
Hast du doch Hände und Füße, nicht von dieser Erde
geformt.
Es mag dir genügen zu wissen,
daß in dir ein Zugang ist, der zum Geliebten führt.
Wenn du einmal dem Gefängnis des Körpers entkommst,
wirst du ohne Mühe in eine neue Welt gelangen.

Immer wieder spricht der vollendete Meister von unserem verlorenen Reich, das im Innern liegt, aber seit langem vernachlässigt und in dem gewaltigen Wirbel der Welt des Gemüts und der Materie, in der wir uns die ganze Zeit über treiben ließen, völlig vergessen wurde. Dies ist nun die uns von Gott gegebene Gelegenheit, den unbetretenen Pfad zu beschreiten, das Unerforschte zu erforschen und in uns wiederzuentdecken, was uns bereits gehört: das wirliche innere Sein. Die menschliche Geburt ist wahrlich ein seltenes Vorrecht. Sie erfolgt am Ende eines langen Entwicklungsprozesses, der beim Gestein und den Mineralien beginnt, sich im Pflanzenreich fortsetzt und dann durch die Welt der Insekten, Reptilien und Nagetiere führt. Als nächstes kommt die Bruderschaft der Vögel und des Federviehs, danach die anderen Tiere, bis hin zu den Vierfüßlern. Der Mensch schließlich hat ein weiters Element in sich, das allen anderen Gecschöpfen fehlt oder das sie nur in ganz geringem Maße haben, das luftige oder ätherische Element. Dieses stattet ihn mit der Vernunft und Unterscheidungskraft aus, die ihn befähigt, Recht von Unrecht, Tugend von Laster zu unterscheiden, die höheren, edleren Werte des Lebens zu verstehen und sie - durch die ihm eigene Willens- und Wahlfreiheit - in die Tat umzusetzten. So kann er sie für den weiteren Fortschritt nutzen, damit er aus dem Geiste geboren wird. Es befähigt ihn, seiner Bewußtheit neue Dimensionen hinzuzufügen, indem er sich ins supramentale Bewußtsein erhebt, erst ins kosmische und dann in das des Jenseits. Das alles ist eine sichere Möglichkeit, wenn wir auch gegenwärtig noch nichts von ihr wissen.

„Unser Selbst“, sagt der Philosoph und Psychologe Jung, „schließt unser ganzes Lebenssystem in sich ein und umfaßt daher nicht nur alle Ablagerungen und die Summe all dessen, was in der Vergangeheit erlebt wurde, sondern ist zugleich der Ausgangspunkt, der fruchtbare Mutterboden, der alles zukünftige Leben hervorbringt. Die Vorahnung kommender Dinge ist unserem inneren Gefühl ebenso klar wie die historische Vergangenheit. Der Gedanke der Unsterblichkeit, der diesn psychologischen Grundlagen erwächst, besteht völlig zu Recht.“

Gefangen in der irdenen Form und durch das Gemüt beherrscht, ist der Mesnch in der gewaltigen Schöpfung doch nur ein schwaches Kind aus Staub, unbedeutend an Wuchs und Kraft. Aber als Seele ist er grenzenlos und durchdringt alles. Der scheinbar individualisierte Geist in ihm ist ein kostbares Kronjuwel von unschätzbarem Wert. So sagt Bheek, ein Weiser der Mystik:

O Bheek, keiner in der Welt ist arm,
denn jeder trägt in seinem Gürtel einen kostbaren Rubin;
doch leider weiß niemand den Knoten zu lösen, um an
den Rubin zu kommen, und so geht er betteln.

„Gott ist in allen, aber nicht alle sind in ihm“, sagt der Weise von Dakshineswar (Paramhansa Ramakrishna). Guru Nanak nennt uns den Ausweg, die Möglichkeit, das große Geheimnis zu ergründen und die Meisterschaft über alles andere zu erlangen: „Sieg über das Gemüt ist Sieg über die Welt“ heißt seine einfache Lösung. Gegenwärtig wird das Gemüt durch zahllose Wünsche aller Art hin- und hergerissen, und jeder drängt in eine andere Richtung. Es muß nach und nach wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden - zu einem ungeteilten Ganzen - dessen Sein bis in jede Faser von der Liebe Gottes durchdrungen ist, denn nur dann wird es zu einem willigen Werkzeug, das dem Geist dient, anstatt ihn, wie es jetzt der Fall ist, ständig nach unten und außen, in die engen, beklemmenden Winkel, hierhin, dorthin und überallhin zu ziehen. Ehe dieses hydraköpfige Ungeheuer nicht gebändigt und gezähmt ist, wird es weiter wie der Meeresgott Proteus unter verschiedenen Masken und allerlei Formen wilde Possen treiben und wie ein Chamäleon nach Belieben die Farben wechslen. Solange es weiterhin an der Erde und allem, was irdisch ist, festhält, nimmt es an Kraft und Stärke zu, die es von Mutter Erde empfängt. Es muß daher hoch in die Luft gehoben und dort gehalten werden, wie es Herkules mit Antäus tat, um sich von dem Riesen zu befreien, der unbesiegbar war, solange er die Verbindung mit Mutter Erde hatte, von der er seine Kraft nahm. Wenn das Gemüt einmal mit der göttlichen Musik von oben in Verbindung kommt, wird es emporgetragen und verliert für immer alles Interesse an den herabziehenden Sinnesfreuden der Welt. Dies führt allmählich zu einem todesähnlichen Zustand des Körpers, welcher nun weit unten gelassen wird, wie auch des Gemüts, das höhersteigt, um in seine ursprüngliche Heimat chit-akash, das große Lagerhaus von Erinnerungen aus undenklichen Zeiten, einzugehen. Von hier gelangte es weiter hinab, indem die Lebensenergien (pranas) sich auf das reine Bewußtsein senkten und es mit einer zweifachen Hülle (mano-mai und pran-mai kosh) umgaben. Diese bildet das mentale Werkzeug für die Seele, um auf der irdischen Ebene durch eine weiter Hülle, die phyische des Körpers (ann-mai kosh), wirken zu können, ausgestattet mit groben Sinnesorganen, wie sie in der Welt der Sinneswahrnehmungen so sehr notwendig sind.

In das Zaubergelaß des Körperrs geschlossen, in ihn gefesselt und eingezwängt, sind wir doch nicht daran gekettet, wenn wir auch fortwährend als Gefangene denken und handeln.Denn wir wissen nicht, wie wir den im Körper wohnenden Geist von seinen Fesseln befreien und uns darüber erheben sollen. Alle Meister der früheren Zeiten haben uns einstimmig aufgefordert, „nach innen zu gehen und nach innen zu schauen“, nach dem Leitstern, dem „Licht des Lebens“, das unerschaffen und schattenlos ist und in seinem eigenen vollen Glanz erstrahlt. Es ist der einzige Hoffnungsschimmer, der uns Befreiung aus der Finsternis verheißt, die uns in desem dunklen Gefängnis umgibt. Darüber ist gesagt:

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis
hat’s nicht begriffen.

Joh. 1,5

So schaue darauf, daß nicht das Licht in dir Finsternis sei.

Luk. 11,35

Dieses Licht wird als der „Morgenstern“ begrüßt und dient den Gläubigen als „des Fußes Leuchte“. Es beglückt Gemüt und Geist, die beide, wenn auch unwissentlich, gleicherweise davon angezogen werden. Sie beginnen, sich mit dem leuchtenden Strom des Lebens, dem hörbaren Lebensstom (Shabd), gleichsam von den Schwingen der göttlichen Musik getragen, die von dem heiligen Licht ausgeht, in die Bereiche höheren Bewußtseins - des Überbewußtseins - zu erheben. Dieses Licht wird bildhaft beschrieben als Pegasus, das weißgeflügelte Roß der Götter, oder „barq“(der Blitz), von dem es heißt, er habe den Propheten in den Himmel (almiraj) gebracht.

Die großen Meister aller Zeiten und aller Himmelsgegenden sprechen von diesem einzigartigen und wundervollen Haus, dem menschlichen Körper, dem wahren Tempel Gottes, in dem der Vater, der Sohn und der heilige Geist wohnen. Solange nicht der Sohn (der menschliche Geist) durch die Gnade eines Gottmenschen mit dem heiligen Geist (der Gotteskraft, die durch einen Gottmenschen im Fleisch offenbart wird) getauft ist, kann der verlorene Sohn, der zwischen den Wundern der wunderbaren äußeren Welt umherwandert, nicht selbst den Weg aus diesem Labyrinth zur Heimat des Vaters (Gott) finden; denn das ewige und fundamentale Gesetz lautet: „Im Fleisch (der irdenen Form) und durch das Fleisch (das fleischgewordene Wort) kommen wir zu Ihm, der jenseits des Fleisches ist“ (Augustinus). In uns ist das Licht des Lebens. Diese himmlische Lampe brennt ewig Tag und Nacht in der Kuppel des Körpertempels. „Wer immer durch dieses Licht der Lichter in höhere Bereiche gelangt, erhebt sich ungebunden.“ Dies ist die Wahrheit und führt zur Wahrheit. „Wer die Wahrheit kennt, weiß, wo dieses Licht ist, und wer dieses Licht kennt, der kennt die Ewigkeit, und indem ihr sie (die Wahrheit) erkennt, werdet ihr frei werden“ (frei von aller unbezwinglichen Knechtschaft, dem Bedauern über die Vergangenheit, den Ängsten der Gegenwart und den Schrecken des Todes, mit denen wir ständig leben). Das Wort oder der heilige Geist ist die große Wahrheit, die der ganzen Schöpfung zugrunde liegt.“ Alle Dinge sind durch dasselbe (das Wort) gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“, sagt Johannes. „Die ganze Welt ist aus Shabd hervorgegangen“, verkündet Guru Nanak. Und weiter sagt er: „Nur mit einem einzigen Wort brachte er diese gewaltige Schöpfung ins Sein, und tausend Lebensströme sind ihr entsprungen.“ In den Upanishaden finden wir: „Eko-aham, Bahu syaam“, was bedeutet: „Ich bin einer und will vieles werden.“ Die Mohammedaner nennen das Wort „Kun-fia-kun“: Er wollte es, und siehe, das ganze Universum entstand. Es ist somit die wirkende Gotteskraft (Licht und Leben - die Melodie Gottes), die alles durchdringt und allmächtig ist, die allem Sichtbaren und Unsichtbaren innewohnt und zahlose Schöpfungen ins Leben ruft und erhält. Indem er über die Schöpfung spricht, sagt uns Guru Nanak: „Ohne Zahl sind Deine Stätten; fern und unzugänglich Deine unzähligen himmlischen Ebenen.“ Selbst durch das Wort „ohne Zahl“ können wir Ihn nicht beschreiben. Die Wörter „Zahl“ und„zahllos“ sind in der Tat von geringer Bedeutung für den Allmächtigen. Er, der allem innewohnt und das Leben der Schöpfung selbst ist, kennt jedes ihrer kleinsten Teilchen.

Um das höhere Leben, das Leben des Geistes, besser zu verstehen, muß man die Grenzen des irdischen Lebens tatsächlich überschreiten, durch die Pforte des sogenannten Todes gehen und in die geistige, unirdische Welt jenseits davon wiedergeboren werden. „Was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dich’s nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden.“ (Joh. 3,6-7). Diese Verbindung mit dem ‘Licht des Lebens’, das im Innern durch einen Gottmenschen offenbart wird, setzt den Wanderungen der Seele in dem sich ewig drehenden Rad der Geburten und Wiedergeburten ein Ende. Es heißt, daß die gesamte Schöpfung in acht Millionen vierhunderttausend Schöpfungsarten (84 lakhs) eingeteilt ist: 1) 900 000 Geschöpfe des Wassers, 2) 1 400 000 Geschöpfe der Luft, 3) 2 700 000 Insekten, Nagetiere, Reptilien usw., 4) 3 000 000 Bäume, Sträucher, Kräuter und andere Pflanzen sowie Schlinggewächse usw., 5) 400 000 aller Arten von Verfüßlern und anderen Tieren, dann die Menschen, einschließlich der Götter und Göttinnen, der Halbgötter und göttlichen Kräfte, der Dämonen und umherziehenden Geistwesen usw. Ein ‘jiva-atman’ oder eine individuelle Seele bleibt durch die zwingende Kraft der karmas und der Eindrücke, die von einem Leben zum anderen gesammelt worden sind, so lange and den einen oder anderen stofflichen Körper gebunden, bis er befreit oder ein Atman wird. Dies ist dann der Anfang zum wirklichen und ewigen Leben, das aus der Verbindung mit „der Stimme des Sohnes Gottes“ kommt (das heißt mit der inneren Musik, die durch ihn offenbart wird); „und die sie hören werden (wenn sie auch gegenwärtig taub dafür sind), die werden leben (und durch sie ewig leben).“ (Joh. 2,25). Denn es heißt: „Alsdann werden der Blinden Augen aufgetan werden und der Tauben Ohren weren geöffnet werden; alsdann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch und der Stummen Zunge wird Lob sagen. Denn es werden Wasser (des Lebens) in der Wüste (des menschlichen Herzens) hin und wieder fließen und Ströme im dürren Lande.“ (Jes. 35,5-6). „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin.“ (1. Kor. 13,12). Ähnlich sagte Guru Nanak: „Wenn der Geist auf den Tonstrom abgestimmt ist, beginnt er (das Licht Gottes) ohne Augen (des Fleisches) zu sehen, (die Stimme Gottes) ohne Ohren zu hören, hält sich (an der göttlichen Musik) ohne Hände fest und geht (gottwärts) ohne Füße.“ Und der große Lehrer fährt fort: „Die sehenden Augen sehen nicht (die Wirklichkeit), aber durch die Gnade des Gurus beginnt man, (die Gotteskraft) von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Darum kann ein würdiger und ehrfurchtsvoller Schüler Gott überall sehen.“ Unsere Sinnesorgane sind so beschaffen, daß sie uns allein in der physischen Welt helfen, und auch das nur unvollkommen; sie versagen, wenn wir auf die überirdischen Ebenen kommen. „Denn sehenden Auges sehen sie nicht und hörenden Ohres hören sie nicht, denn sie verstehen es nicht und haben ein Herz, das weder Gefühl noch Verstand hat.“ Eine vollständige und wunderbare Wandlung kommt nur zustande, wenn man lernt, sich nach innen zu wenden und sich dem Prozeß des freiwilligen Todes praktisch zu unterziehen, solange man lebt. Darum die Mahnung: Lerne zu sterben (stirb für das Erdenleben), so daß du zu leben beginnen kannst (frei und furchtlos im lebendigen Geist und frei von dem begrenzenden Beiwerk der Körperhüllen). Man muß deswegen dem „Fleisch um des Geistes willen entsagen.“ Liebt das Fleisch nicht mehr als den Geist, ist der uralte Rat des Propheten von Galiläa.

Solange wir „im Körper zu Hause sind, sind wir Gott fern.“ Und „je mehr man sich von sich selbst zurückzieht, desto näher kommt man Gott.“ Nichts in der Schöpfung ist mit dem Schöpfer vergleichbar, denn was nicht Gott ist, ist nicht. Wenn man durch die Verbindung mit der Meisterkraft, die den Körper durchströmt, das Bewußtsein von der irdischen Ebene (allgemein als Tod bekannt) auf die spirituelle Ebene verlegt (Wiedergeburt oder zweite Geburt - die Geburt des Geistes, wie es heißt,) stirbt man nie. „Wenn alle anderen euch zuletzt verlassen, werde ich euch nicht verlassen noch dulden, daß ihr zugrunde geht.“ „Wer überwindet (das Phyische übersteigt, indem er vom Menschen zum Übermenschen wird), dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tod“ (Offenb. 2,11), denn „regiert euch der Geist, so seid ihr nicht unter dem Gesetz (von Säen und Ernten oder Ursache und Wirkung, das zu wiederholten Verkörperungen führt)“ (Gal. 5,18).

Dies alles ist keine bloße Theorie, sondern eine Tatsache, die Tatsache des Lebens, denn die Flamme des Lebens kommt mit jedem Menschen vom Augenblick der Geburt an; und jedem ist es gegeben, das Geheimnis des flammenden Tones und „die Geheimnisse des Himmelreiches“ zu vernehmen (Matth. 13,11). In dieser Wissenschaft des Jenseits haben Logik und Schlußfolgerungen keine Platz. Nur wirkliches Sehen führt zu Glauben und Vertrauen. Das Licht des Lichts, der Vater des Lichts „swayom jyoti swaroop Parmatma“ (der selbstleuchtende Gott), „nooran-ala-noor“ (das große himmlische Licht) und der Geist im Menschen (ein Funken vom göttlichen Licht des universalen Geistes, ein Tropfen des Bewußtseins vom Meer der Bewußtheit, der als individualisierter, in verschiedene Hüllen gekleideter Geist erscheint) sind alle im menschlichen Körper (narnaraini-deh); aber so seltsam es auch scheinen mag, obwohl sie einander so nahe sind, hat der eine das Antlitz des anderen nicht gesehen, da wir die öde Wildnis der Welt für unsere wahre Heimat halten. Die Meisterseelen unterrichten uns nicht nur über die Wirklichkeit und das reiche Erbe, auf das wir Anspruch haben, sondern verkünden wie Christus: „Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben ...“ (Matth. 16,19). Ebenso sagt Guru Nanak: „Der Meister hat den Schlüssel zum beweglichen Haus der Seele, die an Körper und Gemüt gekettet ist. O Nanak, ohne einen vollendeten Meister gibt es kein Entkommen aus dem Gefängnis!“ Aber wie viele von uns haben ihren heiligen Versprechen Glauben geschenkt? Und wie viele von uns sind bereit, die Schlüssel des Himmels zu erhalten und anzunehmen, und nehr noch, die stählernen Pforten hinter dn Augen aufzuschließen? Noch viel weniger sind es, die das Wort (das heilige Wort) hören, von dem Christus sagt: „Wer mein Wort hört, ... ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh. 5,24). Und dies trotz unserer inbrünstigen täglichen Gebete, vom Wahn zur Wirklichkeit, aus dem Dunkel zum Licht und vom Tod zur Unsterblichkeit geführt zu werden. Es ist in der Tat ein seltsames Paradox, seltsamer als alle Rätsel, die die Sphinx, das Ungeheuer von Theben, den Thebanern aufgegeben hat, oder als die Rätsel des Lebens, die Yaksha, der dämonsiche Hüter des Teiches mit dem erfrischenden Wasser, den Pandava-Prinzen stellt, die einer nach dem anderen hingingen, um ihren Durst zu löschen, es aber (mit Ausnahme von Yudishtra, dem Prinzen des dharma) nicht vermochten und wegen ihrer Unfähigkeit, sie zu lösen, in Steine verwandelt wurden. Führen wir nicht tatsächlich ein ödes und starres Leben, gleichsam zu Tode erstarrt wie viele empfindungslose Dinge, und warten auf das Kommen des Friedensfürsten, damit er uns wieder zum Leben erwecke (zum ewigen Leben), indem wir die Sphinx und den Yaksha von ehedem besiegen, die drachengleich mit strengem Auge über uns wachen, damit wir nicht, angelockt durch das legendäre Goldene Vlies, wie Jason mit dem vielbegehrten Preis ihrem allgewaltigen Machtbereich entkommen? Dies ist nun das große Rätsel des Lebens, das es zu lösen gilt: denn wenn es uns nicht gelingt, ist unser kurzes Dasein hier in seiner Entwicklung behindert.

Die meisten von uns fristen nur ein animalisches Dasein; wie die Tiere führen wir ein Leben ohne jede Vernunft. Wir haben uns niemals über die Welt der Gefühle und Gedanken erhoben, die wir selbst um uns herum geschaffen haben und die uns nun in ihrem eisernen Griff gefangenhält. „Das Licht des Himmels“ ist für die meisten von uns die Erfindung menschlicher Fantasie und keine Wirklichkeit.

Obwohl Er bei uns im Körper ist,
Sehen wir Ihn nicht.
Schande über ein lebloses Leben wie dieses!
O Tulsi, ein jeder ist stockblind.

Kabir sagt uns:

Die ganze Welt tappt im Dunkeln;
wäre es nur die Sache von einem oder zweien,
könnten sie auf die rechte Bahn gebracht werden.

Nanak erklärt ebenso:

Für den Erleuchteten sind alle blind,
denn keiner kennt das innere Geheimnis.

Nanak erklärt dann, was Blindheit ist:

Nicht die sind blind, die keine Augen haben,
blind sind jene, die den Herrn nicht sehen.
Und die Augen, die den Herrn schauen, sind ganz anders.

Und wiederum heißt es:

Die Augen des Fleisches sehen Ihn nicht,
doch wenn der Meister die Augen im Innern erleuchtet,
beginnt ein würdiger Schüler, in sich die Kraft
und Herrlichkeit Gottes zu schauen.

Wie kommt es, daß wir Ihn trotz all unseren ernsthaften und wohlgemeinten Bemühungen nicht sehen?

In Finsternis gehüllt, streben wir dunkel nach Gott durch Taten, die nicht weniger dunkel sind; ohne einen vollendeten Meister hat noch niemand den Weg gefunden, noch kann man ihn finden; aber wenn man einem vollendeten Meister begegnet, beginnt man, Ihn mit dem geöffneten Auge im Gemach des Herzens zu sehen.

Nur durch eine direkte Verbindung mit dem Namen (dem heiligen Wort) erkennt man, daß außer diesem nichts zu erkennen übrigbleibt. Im Jap Ji führt der große Lehrer die zahllosen Segnungnen auf, die einem von selbst zufließen, so daß man zur Wohnstatt aller Tugenden wird:

Durch die Verbindung mit dem Wort kann man
ein Siddha*, ein Pir*, ein Sura* oder ein Nath* werden.
Durch die Verbindung mit dem Wort kann man die
Mysterien der Erde, des tragenden Bullen
und der Himmel verstehen.
Durch die Verbindung mit dem Wort werden die
irdischen Regionen, die himmlischen Ebenen
und die niederen Welten enthüllt.
Durch die Verbindung mit dem Wort können
wir unversehrt durch die Pforten
des Todes entkommen.
O Nanak, seine Ergebenen leben in ständiger
Verzückung, denn das Wort wäscht
alle Sünden und Sorgen fort.

Durch die Verbindung mit dem Wort kann man die Kräfte
von Shiva, Brahma und Indra erlangen;
durch die Verbindung mit dem Wort kann man die
Achtung aller gewinnen, ungeachtet seiner Vergangenheit;
durch die Verbindung mit dem Wort kann man die Ein-
sicht eines Yogi in die enthüllten Geheimnisse des Lebens
und des Selbst gewinnen;
durch die Verbindung mit dem Wort kann man den wah-
ren Sinn der Shastras*, Smritis* und der Veden* erkennen.
O Nanak, seine Ergebenen leben in ständiger Verzückung,
denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

Durch die Verbindung mit dem Wort wird man zur
Wohnstatt von Wahrheit, Zufriedenheit und wirklichem
Wissen;
durch die Verbindung mit dem Wort erwirbt man die
Früchte des Badens an den achtundsechzig Pilgerorten*;
durch die Verbindung mit dem Wort erlangt man die
Achtung der Gelehrten;
durch die Verbindung mit dem Wort erlangt man Sahaj*;
O Nanak, Seine Ergebenen leben in ständiger Verzückung,
denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

Durch die Verbindung mit dem Wort wird man zur
Wohnstatt aller Tugenden;
durch die Verbindung mit dem Wort wird man ein
Sheikh, ein Pir und ein wahrer König der Spiritualität;
durch die Verbindung mit dem Wort finden die spirituell
Blinden ihren Weg zur Verwirklichung;
durch die Verbindung mit dem Wort durchquert man das
grenzenlose Meer der täuschenden Materie.
O Nanak, Seine Ergebenen leben in ständiger Verzük-
kung, denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

Wir sehen also, daß sowohl hier als auch im Jenseits das Geheimnis des Erfolges darin liegt, das „Selbst“ im Innern mit dem Überselbst oder dem Tonstrom in Einklang zu bringen, was das höchste Ziel aller Existenz ist. Nanak mahnt uns daher:

Durch großes Glück bekommt man eine menschliche Ge-
burt, und man muß das Beste aus ihr machen.
Aber man steigt auf der Stufenleiter der Schöpfung hinun-
ter, wenn man sich bewußt von der Lebensschnur im
Innern trennt.

Wer die ganze Welt gewinnt und doch Schaden an seiner Seele nimmt, befindet sich wahrlich in einer traurigen Lage. Weit davon entfernt, irgendeinen Gewinn zu haben, hat er im Gegenteil einen vollständigen, nicht wiedergutzumachenden Verlust und muß für lange Zeit leiden, ehe er wieder die Stufe des Menschen erreicht. Hat man sich erst die günstige Gelegenheit aus der Hand gleiten lassen, geht das bisher Erworbene über Bord, und man strandet hilflos auf den Riffen und Sandbänken im Strom des Lebens. Der Sturz von der höchsten Sprosse der Lebensleiter ist in der Tat ein schrecklicher Sturz.

  • Siddha: ein Mensch, der mit übernatürlichen Kräften begabt ist.
  • Pir: ein Moslem-Heiliger oder spiritueller Lehrer.
  • Sura: eine Gottheit.
  • Naht: Yogi- ein Adept in Yoga.
  • Dhaul: ein erdichteter Bulle, der angeblich Himmel und Erde trägt.
  • Shastras: philosophische Abhandlung der Hindus.
  • Smritis: die alten Hindu-Schriften.
  • Veden: Die ersten Bücher der Mesncheit und des Göttlichen.
  • Hier bezieht sich Nanak auf den Hindu-Glauben, wonach ein Bad an
    achtundsechzig Pilgerorten von allen sündhaften Handlungen reinigt.
  • Sahaj: dieses Wort bezieht sich auf den Zustand, in dem die Wirren der
    physischen, astralen und kausalen Welt mitsamt ihrem zauberhaften 
    Panorama überschritten sind und das große Lebensprinzip im Innern 
    geschaut wird.

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