SURAT
SHABD YOGA
(1. Fortsetzung) Die
religiösen Lehrer der ganzen Welt legten größten Nachdruck auf die höheren
moralischen Werte und diese bildeten wahrlich die Grundlage ihrer Lehren. Ein
wahrer Meister besteht immer darauf, daß man seine Fehltritte in Gedanken,
Worten und Taten im Hinblick auf die fünf Haupttugenden aufzeichnet:
Nicht—Schädigen, Wahrhaftigkeit, Keuschheit, universale Liebe und selbstloses
Dienen allen gegenüber, da diese den Weg zur Spiritualität bahnen. Nur wenn wir
unsere Fehler erkennen, können wir sie ausmerzen und nach der rechten Richtung
streben. Durch
diesen ganzen Vervollkommnungsprozeß hindurch wird er durch das Beispiel seines
Meisters und der inneren Erfahrung, die er gibt, inspiriert. Seines Meisters
Leben wird für ihn ein lebendiges Vermächtnis sein, das ihn zu den Idealen des
‘sadachar‘ aufruft und die Erfahrung, die er vom inneren Wort hat, wird ihm ein
Beweis der Wahrheit dessen sein, was sein Meister ihn lehrt. Sadachar ist keine
trockene Disziplin, die dadurch erlangt wird, daß man gewissen festgelegten
Formeln folgt. Es ist eine Lebensweise, und in solchen Dingen kann nur Herz zum
Herzen sprechen. Das ist es auch, was den Satsang oder die Gemeinschaft mit
einem wahren Meister so wesentlich macht. Er dient nicht nur dazu, daß er
beständig an das Ziel, das vor dem Sucher liegt, erinnert, sondern durch die
magische Berührung des persönlichen Kontaktes wandelt er allmählich die ganze
Art und Weise seines Denkens und Empfindens um. Da sein Herz und sein Gemüt
unter diesem heilsamen und gütigen Einfluß nach und nach immer reiner wird,
zentralisiert sich sein Leben mehr und mehr im Göttlichen. Kurz, indem er in
zunehmendem Maße das Ideal von ‘sadachar‘ in der Praxis verwirklicht, werden
seine verstreuten und wandernden Gedanken Gleichgewicht und Vollkommenheit
erlangen, bis sie so ganz verfeinert am Brennpunkt zusammenkommen, daß dadurch
die Schleier der inneren Dunkelheit zunichte werden und die innere Glorie
enthüllt ist. Sadhan: Und
nun kommen wir zum dritten Eckstein des spirituellen Gebäudes: dem der
spirituellen Übungen oder der sadhans. Das eine immer wiederkehrende Thema
eines ‘puran guru‘ oder vollendeten Lehrers ist, daß ein gutes Leben, obwohl
sehr wünschenswert und unerläßlich, nicht das Ziel in sich ist. Das Ziel des
Lebens ist etwas anderes, etwas Inneres: Das Übersteigen dieser Ebene der
Bedingtheit und des physischen Daseins ist eine des absoluten Seins. Einer, der
das erkennt, wird sein Leben dementsprechend ausrichten. Erstens darum, weil
eine solche Erkenntnis zu einem Gemütszustand führt, der frei von Ego und
Verhaftetsein, sich in einen tugendhaften und schöpferischen Tun ausdrückt, und
zweitens, weil man ohne einen solchen Gemütszustand und die sich daraus
ergebende Lebensweise, nicht die Ausgewogenheit und Konzentration gewinnen
kann, die für die innere Erhebung unerläßlich ist. So
liegt die Hauptbetonung eines erleuchteten Lehrers immer auf dem transzendenten
Ziel. Er lehrt, daß die pranischen und vigyanischen Energien nicht vom Wesen
des Atman sind, vielmehr, daß sie aus Ebenen stammen, die unterhalb denen des
reinen Geistes liegen. Wer sie als Leiter benutzt, kann durch sie das
körperliche Bewußtsein übersteigen und die Ebenen erreichen, von denen sie
ausgehen, aber er kann nicht über diese hinausgelangen. Da der Geist in allen
der nämliche ist, sollten auch die Mittel zur spirituellen Erleuchtung allen
gleicherweise zugänglich sein. Aber wie wir bereits gesehen haben, stellen
Yoga-Arten, die auf pranas oder gyan begründet sind, besondere Anforderungen, die
nicht alle erfüllen können. Die Prana-Systeme sind für die Alten oder Menschen
zarten Alters, wie auch für solche, die unter Atmungs- und
Verdauungsbeschwerden leiden, nicht geeignet. Der Pfad des Gyan setzt mentale
und intellektuelle Fähigkeiten voraus, mit denen die Natur nur sehr wenige
bedacht hat. Wenn diese Wege der Annäherung an Gott wirklich die natürlichen
sein würden, die uns offen sind, dann würde die logische Schlußfolgerung sein,
daß die Natur in ihren Segnungen sehr parteiisch ist, weil sie zwischen den
einzelnen Menschen Unterschiede macht. Wenn die Sonne für alle scheint und der
Wind für alle weht, warum sollten dann die inneren Schätze nur für wenige
Auserwählte sein? Sie sind ebenfalls für alle, seien sie gebildet oder
ungebildet. Yogas,
die in der Auswahl ihrer Anhänger so sehr unterscheiden und so anspruchsvoll
sind, können nicht ganz natürlich sein. Die Methode, die von den Meistern des
Surat—Shabd Yoga gelehrt wird, ist anders. Dem Sucher wird die Natur der
Schöpfung erklärt, wie auch der Weg zurück zu der Quelle, wo das Leben seinen
Anfang nahm. Bei der Initiation wird ihm eine innere Ersthand-Erfahrung
gegeben, die er weiter zu entwickeln hat. Der Sitz der Seele liegt hinter und
zwischen den Augenbrauen. Dies wird von allen Yogas anerkannt. Es ist dieser
Punkt, auf den sich die Mystiker beziehen, wenn sie von ‘Shiv netra, divya
chakshu, tisra til, Brahm—rendra, triambka, trilochana, nukta-i-sweda,
koh-i-toor, drittes Auge und Einzelauge‘ sprechen, der bildlich ‘der
Ruhepunkt‘, der ‘Berg der Verklärung‘ etc. genannt wird. Auf diesen Punkt muß
der ‘sadhak‘ mit geschlossenen Augen seine Aufmerksamkeit konzentrieren, aber
die Konzentrationsbemühung muß ohne Anstrengung geschehen und es darf keine
physische oder mentale Anspannung zu spüren sein. Um bei dieser Bemühung
behilflich zu sein, gibt der Lehrer dem Schüler eine geladene Wort-Formel,
welche für die Reise, die vor ihm liegt, symbolisch ist. Wenn man diese langsam
und liebevoll mit der ‘Zunge der Gedanken‘ wiederholt, hilft sie dem Schüler,
die verstreuten Gedanken nach und nach an einem einzigen Punkt zu sammeln. Das,
was dieser Formel seine Kraft gibt, ist nicht etwas Magisches, das den Worten
als solchen anhaftet, vielmehr die Tatsache, daß sie von einem gegeben worden
sind, der sie durch seine eigene spirituelle Praxis und die Meisterschaft mit
der inneren Kraft geladen hat. Wenn nun der Schüler durch Konzentration und die
mentale Wiederholung dieser geladenen Worte dahin gekommen ist, seinen inneren
Blick scharf auf diesen festen Brennpunkt einzustellen, wird er merken, daß die
Dunkelheit, der er sich zunächst gegenübergesehen hat, allmählich durch sich
verändernde Lichtpunkte erhellt wird. Sowie seine Konzentrationsfähigkeit
zunimmt, hören die Lichter zu flackern auf und entwickeln sich zu einem
einzigen strahlenden Punkt. Dieser
Konzentrationsvorgang oder das Sammeln des ‘surat‘ zieht die Geistesströme, die
normalerweise über den ganzen menschlichen Körper verteilt sind, automatisch
zum spirituellen Zentrum. Dieses Zurückziehen wird durch ‘simran‘ oder die
Wiederholung der geladenen Worte sehr erleichtert, und die Wahrnehmung des
inneren Lichtes, was zu ‘dhyan‘ oder die zielbewußte Konzentration, führt,
beschleunigt den Vorgang noch mehr. Dhyan führt, wenn es völlig entwickelt ist,
zu ‘bhajan‘ oder dem inneren Hören. Das innere Licht beginnt zu klingen. In dir ist ein Licht und in ihm der Ton, und dieser wird dich an den Wahren Einen gebunden
halten. Gurbani
Wenn
der Übende seine leiblichen Ohren schließt, wird er schnell in diese Musik
vertieft sein. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß das Licht, obgleich es vom
Auge aufgefangen wird, von diesem nicht sehr lange festgehalten werden kann und
daß ihm keine sehr große Anziehungskraft eigen ist. Ganz anders ist es bei der
Musik. Wer sie im Schweigen der tiefen Stille hört, wird von ihr unweigerlich,
sozusagen in eine andere Welt hineingezogen, in einen anderen
Erfahrungsbereich. Und so wird der Vorgang des Zurückziehens, der mit Simran
beginnt, durch dhyan weitergeführt und durch bhajan sehr rasch ausgedehnt. Die
spirituellen Ströme, die sich bereits langsam bewegen, werden nach oben
gebracht ünd sammeln sich schließlich im dritten Auge — dem Sitz der Seele. Das
Übersteigen des physischen Bewußtseins durch den Geist oder der Tod im Leben
ist so mit einem Minimum an Mühe und Arbeit erreicht. Wenn
Schüler anderer Yoga-Arten nach langer Zeit und anstrengender Arbeit die
verschiedenen niedrigen ‘chakras‘ gemeistert haben und das Physische vollkommen
übersteigen, nehmen sie allgemein an, daß sie am Ziel ihrer Reise angelangt
sind. Die innere Ebene, auf der sie sich befinden, der Bereich von ‘sahasrar‘
oder ‘sahasdal-kamal‘, der häufig durch das Sonnenrad, den Lotos oder die
vielblättrige Rose symbolisiert wird, ist wirklich unvergleichlich schöner als
alles auf der Welt und scheint im Vergleich dazu zeitlos. Aber wenn sich der
Schüler des Surat-Shabd-Yoga über das Körperbewußtsein erhebt, wird er ohne
suchen zu müssen von der strahlenden Form seines Meisters empfangen, der ihn
dort erwartet. Es ist in der Tat an dieser Stelle, wo die wirkliche
‘guru—shishya‘ oder Verbindung zwischen Lehrer und Schüler hergestellt wird.
Bis dahin ist der Meister wenig mehr als ein menschlicher Lehrer, aber nun wird
er als göttlicher Führer oder ‘guru-dev‘ gesehen, der den inneren Weg zeigt. Die
Füße meines Meisters haben sich in meiner Stirne offenbart; und
alles Wandern und jede Trübsal hat nun ein Ende. Gauri M.5
Beim
Erscheinen der strahlenden Form des Meisters im Innern bleibt kein Geheimnis,
das im Schoße der Zeit liegt, verborgen. Christus sagt: Es ist nichts verborgen, das nicht offenbar
werde, und es ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde. Matth. 10,26
Unter
Führung dieses himmlischen Wegweisers lernt die Seele den ersten Freudenschock
zu überwinden, und sie erkennt, daß ihr Ziel noch weit vorne liegt. Begleitet
von der strahlenden Form des Meisters und durch den hörbaren Lebensstrom
vorangebracht, überquert sie eine Region um die andere, eine Ebene nach der
anderen und legt nacheinander alle ‘koshas‘ ab, bis sie zuletzt aller Hüllen,
die nicht ihrer wahren Natur entsprechen, ledig ist und so gereinigt und
geläutert das Reich betreten kann, in dem sie sieht, daß sie vom selben Geist
wie das höchste Wesen ist und daß Es, der Meister in Seiner strahlenden Form
und sie selbst nicht getrennt, sondern eins sind, und daß es nichts gibt außer
dem großen Meer des Bewußtseins, der Liebe und der unaussprechlichen
Glückseligkeit. Wer vermag die Herrlichkeit dieses Reiches zu beschreiben? Die
Seligkeit der Wonne des, der das Mystische kennt, kann
nur von Herz zu Herz besprochen werden; kein
Bote kann davon berichten und
kein Sendschreiben kann es enthalten. Hafis
Als
die Feder ansetzte, dieses Reich zu schildern, brach
sie in Stücke und die Seite zerriß. Persischer Mystiker
Wenn
der Sucher am Ende der Reise angelangt ist, geht er im Wort auf und zählt zu
den Befreiten. Er mag weiterhin wie die anderen Menschen in dieser Welt der
menschlichen Wesen leben, aber sein Geist kennt hinfort keine Grenzen mehr und
ist unendlich wie Gott Selbst. Das Rad der Wiederverkörperung kann ihm nichts
mehr anhaben und sein Bewußtsein ist ohne jede Beschränkung. So wie sein
Meister vor ihm, ist er ein bewußter Mitarbeiter am Göttlichen Plan geworden.
Er tut nichts für sich selbst, sondern wirkt im Namen Gottes. Wenn es
tatsächlich einen ‘Neh-Karma‘ gibt (einen, der frei ist von bindenden
Handlungen), so ist er es, denn es gibt kein mächtigeres Mittel zur Freiheit
als die Kraft des Wortes. Er
allein ist nicht gebunden durch die Tat, der
sich mit dem Wort verbindet. Gurbani
Für
ihn bedeutet Freiheit nicht etwas, das nach dem Tode kommt (videh mukti),
sondern etwas, das während des Lebens erreicht war. Er ist ein ‘jivan-mukti‘
(frei im Leben), und gleich wie eine Blume ihren Duft von sich gibt, verbreitet
er die Botschaft der Freiheit wohin immer er geht. Jene,
die sich mit dem Wort verbunden haben, deren
Mühen werden enden und ihr Antlitz wird voll Glanz erstrahlen. Nicht
nur werden sie erlöst sein, o Nanak, sondern
viele andere werden mit ihnen die Freiheit finden. Jap Ji — Schluß
In
der wirklichen Praxis der spirituellen Schulung wird auf ‘Simran, Dhyan und
Bhajan‘ besondere Betonung gelegt, denn jede dieser Übungen spielt eine
ausschlaggebende Rolle bei der Erhaltung des Selbst. Der Meister gibt Simran
oder die Wiederholung der geladenen Worte, welche das Sammeln der wandernden
Verstandeskräfte des Schülers am stillen Punkt der Seele hinter und zwischen
den Augenbrauen erleichtert, und wohin die Sinnesströme, die den Körper jetzt
von Kopf bis zu den Füßen durchdringen, zurückgezogen werden, wodurch man das
Wissen um diesen verliert. Wird dieser Vorgang erfolgreich zu Ende geführt,
leitet er aus sich selbst zu ‘Dhyan‘ oder Konzentration. ‘Dhyan‘ ist von der
Sanskritwurzel ‘dhi‘ abgeleitet, was soviel heißt wie ‘binden‘ und
‘festhalten‘. Mit dem geöffneten inneren Auge sieht der Aspirant nun
schimmernde Streifen himmlischen Lichtes in sich und dies hält seine
Aufmerksamkeit sozusagen verankert. Dieses Licht wird nach und nach stetiger,
was ihn in seinem sadhan sicher werden läßt, denn er wirkt gleich einem
Notanker für die Seele. Wenn Dhyan oder die Konzentration vervollkommnet ist,
führt dies zu Bhajan, d.h., man stimmt sich auf die Musik der Seele ab, die vom
Mittelpunkt des heiligen Lichtes ausgeht. Diese bezaubernde Melodie hat eine
magnetische Anziehungskraft, der man nicht widerstehen kann und die Seele kann
nicht umhin, ihr zu der spirituellen Quelle zu folgen, von der sie ausgeht.
Dieser dreifache Prozeß hilft der Seele, den Fesseln des Körpers zu entgleiten,
um in der himmlischen Strahlung ihres Selbst (des Atman) verankert zu sein, und
so in die himmlische Heimat des Vaters zu gelangen. Wiederum
wird dieser ganze Vorgang durch Sat-Naam, den Satguru und Satsang gewährleistet,
in der Tat gleichbedeutend mit der wirkenden Meisterkraft sind. Sat Naam ist
die Kraft des Absoluten, zum Mitleid bewegt, und wenn sie sich verkörpert,
nimmt sie die Gestalt des Meisters an (das Wort wurde Fleisch) und wirkt durch
ihn mittels des inneren und äußeren Satsang, und dies hilft den ‘jivas‘, welche
für die Wiedergeburt reif sind. Diese Kraft wirkt, entsprechend den
Bedürfnissen des Einzelnen, auf allen Ebenen gleichzeitig: mündlich als Meister
in menschlicher Gestalt, der alle Freuden und Sorgen der Menschen teilt; durch
die innere Führung als Guru-Dev, in seiner leuchtenden oder strahlenden
Astralform und schließlich als Satguru, einem wahrhaftigen Meister der
Wahrheit. Es
gibt zwei innere Wege:‘jyoti marg‘ und ‘sruti marg‘ oder den Weg des Lichts
bzw. den Weg des Tones. Das heilige Licht hält die Seele fest und in sich
vertieft, und führt sie bis zu einem gewissen Grade; aber das heilige Wort
zieht sie nach oben und bringt sie, trotz der verschiedenen Behinderungen auf
dem Weg, wie blendendes und verwirrendes Licht oder dichte pechschwarze
Dunkelheit etc., von einer Ebene zur anderen, bis sie ihre Bestimmung erreicht
hat. Eine
vollkommene Wissenschaft Sogar
der vorangehende kurze Überblick über das Wesen und die Reichweite des Surat-Shabd
Yoga vermittelt einige seiner einmaligen Merkmale. Wer ihn im Hinblick auf
andere Yogaformen studiert, kann nicht umhin, die Vollständigkeit zu bemerken,
mit der er alle Probleme löst, denen der Sucher gegenübersteht, wenn er andere
Systeme verfolgt. Auf dem äußeren Tätigkeitsgebiet fußt er nicht auf einer
trockenen und starren Disziplin, die oftmals seelische Hemmungen zur Folge hat.
Er sagt, daß eine bestimmte Schulung notwendig ist, fügt aber hinzu, daß sie
letzten Endes durch innere spirituelle Erfahrung inspiriert und spontan gelebt
werden muß, und nicht die eines strengen Asketentums und allzu bedachter
Selbstverleugnung sein soll. Der Sucher muß nach Ausgeglichenheit streben und
hat darum die Tugend der Mäßigung in Gedanken und Taten zu üben. Die
Fertigkeit, die er dadurch erreicht, befähigt ihn zu größerer Konzentration und
somit zu höherer innerer Erfahrung; und diese innere Erfahrung muß
wiederum eine Rückwirkung auf das äußere Denken und Handeln haben. Die
Beziehung zwischen ‘sadachar‘ und inneren ‘sadhans‘ wirkt wechselseitig: das
eine belebt das andere und gibt ihm Bedeutung, und das eine ist ohne das andere
wie ein Vogel mit nur einem Flügel. Wie kann der Geist zu vollkommener
Zielstrebigkeit gebracht werden ohne die Reinheit des Herzens und des Körpers?
Und wie kann die Seele aller menschlichen Bindungen und Unvollkommenheiten
ledig werden, ohne daß sie in der Liebe des Göttlichen verankert ist? Als
sich die Eigenschaften des Urewigen offenbarten, verbrannte Moses (der Mittler)
alle Eigenschaften der vergänglichen Dinge. Maulana Rumi
Der Surat-Shabd Yoga liefert nicht nur
Mittel und Wege, um das schwierige Ideal von ‘sadachar‘ in der Praxis zu
erlangen, sondern er bietet auch eine Lebensweise, die, während sie uns über
diese unsere physische Welt erhebt, uns doch nicht den Bereich von Name und
Form versklavt. Die Meister dieses Pfades wissen nur zu gut, daß abstrakte
Spekulationen über den eigenschaftslosen Aspekt des Absoluten nicht zu ihm
führen können. Wie kann der durch Name und Form beschränkte Mensch direkt zu
dem gezogen werden was jenseits davon liegt? Liebe sucht etwas, das sie
begreifen und dem sie sich verbinden kann. Und somit muß Gott Form und Gestalt
annehmen, um dem Menschen zu begegnen. Es ist diese Erkenntnis, durch welche
die Hingabe des ‘bhakta‘ an Shiva, Vishnu oder Kali — die göttliche Mutter —
inspiriert wird. Aber diese göttlichen Wesen stellen bestimmte Offenbarungen
Gottes dar und wenn der Erbene ihre Ebene einmal erreicht hat, verhindert diese
bestimmte Offenbarung den weiteren Fortschritt; wie wir bereits gesehen haben.
Die Meister des Surat—Shahd Yoga übersteigen diese Begrenzung völlig, indem sie
den Sucher nicht auf eine festgelegte oder bestimmte, sondern auf die
allesdurchdringende Offenbarung Gottes festlegen: den strahlenden Tonstrom. Es
ist ‘anhat‘ oder ‘anhat‘ Naam — dieses unübertreffliche und unergründliche
Wort, welches die verschiedenen Schöpfungsebenen erhält, die sich von Pol zu
Pol und vom reinen Geist bis zur großen Materie erstrecken. Seine Weisen
durchdringen jeden Bereich, jede Region und sie durchlaufen sie gleich einem
Fluß, der durch die Täler fließt, die er entstehen ließ. Sein Zustand ist
fließend wie der des Flusses; er ändert sich auf jeder Ebene und bleibt dennoch
stets der gleiche. Der Sucher, der durch die Liebe des Wort—Stromes inspiriert
wurde, ist in der Tat gesegnet, denn er kennt nicht die Begrenzungen, welche
jene erfahren, die Gott in anderen Formen verehren. Er hat etwas Bestimmtes und
Ausdrückliches vor sich, das ihn zu sich zieht und an das er sich halten kann;
es ist etwas, das keiner festen Begriffsbestimmung unterliegt, doch in
beweglichem und fließendem Zustand existiert. Sowie er sich ihm entgegen bewegt
und durch diese beseligende Kraft nach oben gezogen wird, merkt er, daß er sich
wandelt, verändert, immer stärker und reiner wird, und ihn zu immer größerer
Anstrengung anspornt, die ihm niemals erlaubt anzuhalten oder zu zaudern,
sondern ihn von Ebene zu Ebene, von Tal zu Tal führt, bis er an der Quelle
anlangt, wo das Unoffenbarte offenbar wird, das Formlose Form annimmt und das
Namenlose einen Namen. Es war diese Vervollständigung der inneren Reise, durch
den Yoga des Tonstromes möglich gemacht, die Kabir zu der Erklärung veranlaßte: Alle
Heiligen sind der Verehrung würdig, aber
ich verehre nur einen, der das Wort gemeistert hat. Der
Surat-Shabd Yoga ist nicht nur der vollkommenste der verschiedenen Yogas,
sondern ist vergleichsweise leicht zu praktizieren und zudem einer, der für
alle gangbar ist. Wer diesem Pfad folgt, erreicht nicht nur das letzte Ziel,
sondern er bewältigt es auch mit weit weniger Anstrengung als es durch andere
Methoden möglich wäre. Das Übersteigen des physischen Bewußtseins, das der Yogi
mittels der ‘pranas‘ zu erreichen sucht, gelingt nur nach einer langen und
anstrengenden Schulung; wohingegen es bei denen, die sich auf den Pfad des
Surat—Shabd Yoga verlegen, manchmal schon bei der Initiation erreicht wird.
Dies ist jedoch kein bloßer Zufall. Tatsache ist, daß der Surat—Shabd Yoga auf
wissenschaftlichere und natürlichere Art an die spirituellen Dinge herangeht.
Warum, fragt sich, wenn der spirituelle Strom die Körper-Chakras nicht von
unten, sondern von oben her erreicht, sollte es notwendig sein, jedes dieser
Chakras der Reihe nach zu meistern? Ein Mensch, der in der Mitte eines Tales
steht, wird, wenn er die Quelle des Flusses erreichen möchte, nicht zuerst
dorthin gehen, wo er mündet, um dann die ganze Strecke zurückzulaufen. Er ist
weiter der Meinung, daß, wenn Prana und Gemüt (auch in ihrem verfeinertsten
Zustand) nicht vom wahren Wesen des Geistes sind, sie auch nicht die geeigneten
Mittel sein können, um ihn von seinen Hüllen zu befreien. Könnte er mit etwas,
das von seinem Wesen ist, in Verbindung gebracht werden, dann würde er davon
angezogen und mit einem Minimum an Anstrengung das erwünschte Ziel erreicht. (Fortsetzung
folgt) |