KOMMT HER ZU MIR ALLE

 

von L. Gurney Parrot

 

“Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater.

 

Joh. 6:44

 

“Diejenigen, von denen es Gott will, werden von selbst zum Gottmenschen gezogen, oder der Gottmensch findet sie auf, wo immer sie sein mögen.”

 

Kirpal Singh

 

Diese Worte sind wahr. Ich weiß es aus Erfahrung, nicht aus bloßem Glauben. Dies ist ein Bericht, wie ich zum Meister, Sant Kirpal Singh, kam, dem Gipfel meiner lebenslänglichen Suche nach Gott und meine ersten Schritte auf dem spirituellen Pfad.

 

1957, nach zweijährigem Aufenthalt in Nilgiri Hills, verließ ich Bombay, um nach London zu fliegen. Ich hatte Gelegenheit, am Flughafen einen jungen indischen Beamten kennenzulernen und führte in den nächsten neun Jahren einen gelegentlichen Briefwechsel mit ihm. Der Herbst 1966 fand mich in Malta, wo ich schwere geistige Niederlagen erlitt. Ich war elend und ganz aus dem Gleichgewicht, völlig unfähig, spirituelle Kraft und geistiges Verständnis in mir zu entwickeln, die ich glaubte, in den langen Jahren des Studiums und der Bemühungen errungen zu haben.

 

In diesem Gemütszustand schrieb ich an meinen Freund in Bombay, daß ich daran dachte, wieder nach Indien zu kommen. Ich bekam eine begeisterte Antwort. Er schrieb, daß ich dann unbedingt seinen Meister, Sant Kirpal Singh, besuchen müsse, der während der Weihnachtswoche in Bombay sei. Es folgte eine begeisterte Lobrede auf seinen Meister, die mich völlig kalt ließ. Ich hatte ziemlich umfassende Kenntnisse der verschiedenen Bücher über die Weltreligionen, besonders der Veden, der Upanishaden, der Bhagavad—Gita und der verschiedetien Formen des Yoga. Ich hatte auch die Lehren Ramakrishnas und die Werke Vivekanandas studiert, für die ich eine große Verehrung und Liebe hatte.

 

Indessen war ich zu dem Schluß gekommen, daß - welche Wahrheiten auch immer in diesen Persönlichkeiten und Schriften waren - sie mir doch der Vergangenheit anzugehören schienen, und es war mir zweifelhaft, ob sie noch Bedeutung für die Gegenwart hatten. Es hat frühere Meister gegeben; aber gab es heute noch welche - gab es noch einen? Ich bezweifelte es. Wie es auch sei, ich war nicht in Stimmung für einen Meister. Ich wußte nichts über Kirpal Singh. Ich hatte noch nicht einmal gewußt, daß mein Freund einen Meister hatte. So war meine Stimmung aber dennoch hielt ich an meinem Plan fest. Warum? Ich weiß es nicht. Drei Wochen lang versuchte ich, eine Schiffskarte zu bekommen - umsonst. In einer plötzlichen Anwandlung entschloß ich mich, nicht zu fahren und schrieb meinem Freund ab.

 

Wenige Tage später indessen wurde ich mir auf einmal einer sanften, ungesehenen Gegenwart bewußt und hörte deutlich eine Stimme sagen: “Fahre nach Indien.” — Einbildung? Vielleicht. Ich besorgte mir sofort eine Rückflugkarte nach Bombay, wo ich am 19. Dezember ankam und herzlich am Flughafen empfangen wurde.

 

Am nächsten Morgen nahm mich mein Freund mit zu dem Hause, wo der Meister wohnte. Ich war immer noch in einer kritischen und unguten Stimmung, als ich selbstbewußt in meinen Socken (die Schuhe mußten abgelegt werden) in einem Korridor stand, apathisch die Menschen betrachtend, die in einem Raum am Ende des Korridors auf Einlaß beim Meister warteten. Ich kam mir sehr töricht vor, als Außenseiter und Eindringling, als einziger Europäer hier — ganz englisch - ohne die geringste Ahnung, was das alles sollte, und gerade nicht optimistisch, ob der Meister mich überhaupt sehen wollte, oder wenn, mich wahrscheinlich hinauswerfen würde. Das Wort des Meisters Jesus: “Wer zu mir kommt, den weise ich nicht zurück”, hatte ich ganz vergessen.

 

Plötzlich wurde ich aus meinen Träumen gerissen. Jemand berührte mich am Ellenbogen und sagte: “Der Meister möchte Sie jetzt sehen.” Ich wandte mich und sah einen lächelnden jungen Mann mit blauem Turban und rief unwillkürlich: “Sehen? – mich?” “Ja” antwortete er. “Kommen Sie bitte”. In einem Aufruhr widerstreitender Gefühle folgte ich ihm.

 

Als ich den Raum betrat, erhob sich eine hochgewachsene kräftige bärtige Gestalt von der Couch und kam mir entgegen, um mich zu begrüßen, nahm meine beiden Hände in seine und sagte: “Hallo”. Das überraschte mich. Ich hatte irgendeine orientalische Begrüßung erwartet, fromme Worte, einiges, das auf Religiosität hindeutete — aber nichts dergleichen. Es war nichts Ungewöhnliches in seiner Kleidüng — weißer Turban, schwarzer dreiviertellanger Rock, lange Hosen und Schuhe — keine religiösen Embleme, keine Gebete, kein Weihrauch, keine Musik. Aber gerade diese Einfachheit und Natürlichkeit, die durch sich selbst wirkte, beeindruckte mich mehr als Pomp und Pracht es hätten tun können.

 

Mit liebenswürdiger Höflichkeit holte der Meister einen Sessel herbei und setzte mich hinein, seinen Platz wieder auf der Couch einnehmend. Nun saß er niedriger als ich - so bescheiden ist er — so daß ich auf ihn herabsehen mußte. Plötzlich überwältigte mich eine solch stürmische innere Bewegung und erkannte, daß ich unmöglich in dieser Situation bleiben konnte und glitt auf den Boden zu seinen Füßen. In diesem Moment geschah unbewußt ein augenblickliches Wiedererkennen und Annehmen der spirituellen Gnade und Kraft, die vom Meister ausging. Er lächelte nur und sagte ruhig: “Erzählen Sie mir von Ihnen.” “Sie wissen es schon, Meister,” antwortete ich. “Was ist da zu sagen?” “Das macht nichts”, sagte er. “Erzählen Sie etwas und wir werden daran anknüpfen.” Ich versuchte, von meinem vergangenen Leben zu sprechen, aber die Bewegung packte mich und ich mußte nach einigen Sätzen innehalten, mühsam um Selbstbeherrschung kämpfend. Als der Meister meine Not sah, machte er eine kleine Geste und augenblicklich war ich ruhig. Er fuhr fort, von Christus und seinen Lehren zu sprechen, vom Reich Gottes in uns und von dem Licht “das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.” — Als ich aufstand, um zu gehen, sagte er: “Kommen Sie morgen früh wieder, gegen 8 Uhr.”

 

Am nächsten Morgen fand ich mich in einem großen Raum unter ungefähr 70 oder 80 Menschen, die auf dem Boden kauerten, während ich (dank Meisters Fürsorglichkeit) auf einem Stuhl im Hintergrund saß. Der Meister nahm seinen Platz vorne vor den Versammelten ein und hatte die Männer zur Rechten, die Frauen zur Linken. Mit Wenigen einfachen Worten sagte er uns, daß die Meisterkraft uns einen Blick nach innen geben würde und daß jeder von uns spirituelle Erfahrung haben würde, entsprechend seiner spirituellen Entwicklung und Empfänglichkeit. Alles was wir zu tun hatten, war, unser Gemüt nach innen zu kehren, unsere Gedanken zu beruhigen und unsere Aufmerksamkeit am Punkt zwischen den Augenbrauen zu sammeln, dort in Achtsamkeit still und voller Ruhe zu warten, ohne irgendeine Anstrengung oder Sorge.

 

Es war ein wunderbarer Zustand. Hier wurde in der einfachsten Weise, wieder ohne eine der üblichen ritualen Begleiterscheinugen einer Annäherung an Gott, die Erklärung gegeben, daß einzig durch des Meisters Gnade unser inneres Auge, das “Dritte Auge”, geöffnet würde und wir das Licht Gottes sehen sollten. Nur die Kraft eines Gottmenschen (das Wort wurde Fleisch) vermag das. Als ich mich sammelte zur dann folgenden Meditation — und es ist nicht verwunderlich, daß ich für einige Zeit die Kontrolle über meine wirbelnden Gedanken verlor - muß ich bekennen, daß ich noch wachsam und kritisch war und noch recht skeptisch. Hier war der praktische Beweis der Wahrheit, die von allen Religionen gelehrt wird. Mit der Theorie war ich vertraut - hier war die Praxis. Doch unbegreiflicher als alles war mir die bloße Tatsache, daß ich daran teil hatte. Kann man mich wegen meiner Zweifel tadeln? Niemand konnte sich unwürdiger fühlen als ich, ein solches Geschenk zu erhalten; es konnte einfach nicht möglich sein!

 

Einige Zeit schien es wirklich so; denn nichts ereignete sich, und der Dämon Zweifel erhob wieder sein häßliches Haupt. Mit Anstrengung schickte ich diese Gedanken weg und nahm die Meditation wieder auf, doch nicht, ohne vorher einen schnellen Blick auf die Runde zu werfen, um zu sehen, ob irgendetwas Außergewöhnliches vorging! Nein, da waren sie alle, ruhig dasitzend mit geschlossenen Augen, und vorne war der Meister, und die Sonne schien durch die Fenster herein, und draußen sangen die Vögel. Ich schloß wieder die Augen.

 

Plötzlich kam innen das Licht, langsam wie die anbrechende Dämmerung, und wuchs intensiv, bis es schien, als würde die Sonne sich über den Horizont erheben, und in diesem Licht stiegen andere Erscheinungen auf, über die nicht gesprochen werden darf.

 

45 Minuten nach meiner Uhr beendete der Meister die Meditation und fragte jeden einzelnen unter vier Augen, was er gesehen hatte, erklärte und erläuterte. Es ist unmöglich, mein Staunen, meine Freude, ja mein Entzücken zu schildern. Hier war der praktische Beweis: “Glaube den Worten einer Meisterseele nicht eher, bis du mit eigenen Augen siehst wovon er spricht. (Sant Kirpal Singh in “Gottmensch” S. 80). Und wenn die Theorie der Religion mir hierdurch demonstriert war — “im Laboratorium der Seele” — durch wen war sie realisiert? Und wer war dieser scheinbar gewöhnliche Mensch, der spirituelle Erfahrungen gehen konnte? Wer gab sie so als freies Geschenk? Wer sprach mit “Autorität”? Aber halt — da war noch ein weiterer Schritt zu tun, bevor eine volle Antwort gegeben werden konnte, und so wurden wir angewiesen, uns in ungefähr einer Stunde noch einmal zu versammeln, diesmal für den Tonstrom, das Wort, oder die Stimme Gottes.

 

War ich schon fast betäubt von den wunderbaren Enthüllungen der ersten Meditation — was würde in der zweiten geschehen? Wieder versammelten wir uns und sollten die Hände auf die Stirn legen und die Daumen in die Ohren, um äußere Geräusche abzuschließen, und ohne Anstrengung lauschen, was sich innen auftun würde. Wieder geschah lange Zeit nichts, und dann kam der Ton, einfallend in fünf Kategorien. Da endete diese höchst wundervolle Erfahrung. Unmöglich, die Freude und Gemütsruhe zu schildern, die Gewißheit der Realität des Geistes, wenn sie einmal gesehen.

 

Auf einmal kommt ein Rückfall in den früheren Zustand — wer ist dieser Mensch, der wirklich tut, was er verspricht, im Schauen und im Hören?

 

Als ich an diesem Abend zu meinem Hotel zurückfuhr, wurde mir plötzlich bewußt, daß all mein Elend und aller Kummer von mir gewichen und ich bis zum Rande von Seligkeit erfüllt war. Da verstand ich wie nie zuvor den Sinn jener Worte: “Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.”

 

Als ich in mein Zimmer ging, schaltete ich das Licht an, und als ich mich aus irgendeinem Grunde umwandte, schloß ich die Augen, und da stand der Meister vor mir in seiner strahlenden Gestalt, lächelnd, leuchtend wie Gold! Ich öffnete die Augen und schloß sie wieder und wieder war er da, ich öffnete sie und ging völlig ergriffen durch den Raum — und er war noch da. Da rief ich laut in jubelndem Staunen: “Es ist wahr, es ist alles wahr — es ist wirklich alles wahr!”

 

Weihnachtsabend 1966, nie werde ich ihn vergessen!

 



Weiter