Religion und Literatur

von Dr. Vinod Sena

Wenn wir uns mit so einem allgemeinen Thema befassen, muß uns klar sein, was die Begriffe, die wir verwenden, uns bedeuten. Das ist wesentlich, da das Wort ”Litera-tur” benutzt wird, um so gänzlich verschiedene Werke zu beschreiben wie die Schau-spiele Shakespeares und die billige politische Propaganda, die uns heutzutage über-flutet. Wenn wir von Literatur sprechen, beziehen wir uns auf diese Art von Werken, zu denen die Dramen Shakespeares gehören, also künstlerische und schöpferische Wer-ke als getrennt von bloßen propagandistischen Werken oder solchen wissenschaftli-cher Darlegung. Und wenn wir von Religion sprechen, wollen wir von unserer Deutung die schwarze Magie des afrikanischen Zauberdoktors ausschließen, sowie das Quäker-tum von Priestern und Pandits und den ausgearbeiteten Kodex von Riten und Zeremo-nien, obwohl sie oft mit dem Begriff Religion verknüpft werden. Wir wollen uns selbst die Frage vorlegen: ”Was ist das Wesen der Erfahrungen, das in allen Religionen verkörpert ist?” Was ist das Wesen der Erfahrung, das in jeder großen Litera-tur verkörpert ist? Und wenn wir eine annähernde Antwort darauf gefunden haben, wollen wir weitergehen und sehen, ob es die Möglichkeit einer Verwandtschaft zwi-schen beiden gibt.

Wir wollen mit der Religion beginnen. Was ist der Kern der religiösen Erfahrung? Nehmen wir uns einige wohlbekannte Definitionen vor, die uns zu einer Antwort ver-helfen sollen. Es gibt Mathew Arnolds Beschreibung als ”Moral verbunden mit Emoti-on”, was aber nicht das Thema, dessen Definition angestrebt wird, erklärt, sondern die persönlichen Vorurteile seines Autors. Moral ist ein bedeutsamer Aspekt der Re-ligion, aber nicht der wichtigste. Wie es ein moderner indischer Mystiker sagt, ist Moral nur ein Schrittstein zur Spiritualität. Wir können als nächsten E.B. Taylor heranziehen, für den als ”Minimal-Definition der Religion der Glaube an geistige Wesen” gilt. Wenn wir diesen Ausspruch als endgültig annähmen, dann müßten wir ei-nen anderen Begriff finden, um solche Glaubensrichtungen zu beschreiben wie den Buddhismus und den Konfuzianismus, die nicht auf den Glauben an ”geistige Wesen” bauen. Prof. J.E. McTaggart kommt der Wahrheit näher, wenn er das Wesen religiöser Erfahrung als ein Gefühl der Übereinstimmung zwischen sich selbst und dem Universum analysiert. Aber er versäumt es, das transzendente Wesen dieses Gefühls der Über-einstimmung herauszustellen, und nach ihn können auch so anerkannte Materialisten wie Dr. Julian Huxley oder die marxistischen Denker als religiös bezeichnet werden, denn sie sehen in allem Existierenden eine beständige Entwicklung gewisser natürli-cher Prinzipien, wobei jeder Gegenstand ursächlich mit seiner Umgebung verknüpft ist. Zeitgenossische Theologen kommen der Wahrheit noch näher. Sie betrachten das Wesen der Religion als ein Gefühl der Ehrfurcht und der Verwunderung vor einer un-sichtbaren Kraft, von der man irgendwie glaubt, daß sie das Rechte bewirkt. Zusam-menfassend können wir religiöse Erfahrung beschreiben als das Bewußtwerden einer geheimnisvollen Ordnung - sei es die christliche oder hinduistische Dreieinigkeit oder das unpersönliche buddhistische Rad des Karma -‚ einer Ordnung, die der mate-riellen Welt zugrunde liegt, sie umfaßt und sie übersteigt. Ein Absatz in Words-worths ”Tintern Abbey” beschreibt denkwürdig diese Erfahrung:

“... und ich erspür ein Etwas, das mich durch die Freude hoher Gedanken tief be-wegt: erhabnen Anhauch von etwas, das viel tiefer untermischt ist, behaust im Lichte untergehender Sonnen, im Ozean und der lebendigen Luft, im Himmelsblau und im Gemüt des Menschen; eine Bewegung und ein Geist, der alle die denkenden und die gedachten Dinge antreibt, und durch alle Dinge rollt ..

Nun wollen wir uns der Literatur zuwenden. Was ist Literatur? Oder anders, was ist das Wesen der Erfahrung, die in der Literatur verkörpert ist? Auf die erste Frage gibt es keine angemessene Antwort, die alles erklären kann, was je vom Men-schen geschrieben wurde, außer Hamlets Antwort an Polonius: ”Worte, Worte, Worte.” Und die zweite Formulierung der Frage, die wir uns selbst stellen, macht die Ant-wort keineswegs leichter. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sind so viele Richtun-gen der Philosophie und der Kritik entstanden, daß Streitigkeiten unvermeidlich ge-worden sind. Aber wir wollen sehen, ob wir etwas Unbestrittenes sogar aus den ge-genwärtigen Streitigkeiten herausfinden können. Wir wollen überlegen, was wir mit zwei Aussagen bezüglich des Wesens der Kunst anfangen können, die von zwei der be-kanntesten modernen Kritikern stammen, Dr. L.A. Richards und T.S. Eliot. Dr. Ri-chards zitiert in seinem Werk: ”Die Prinzipien der Literaturkritik” Coleridge be-züglich der Imagination:

”Diese verbindende und magische Kraft, die wir ausschließlich mit dem Namen Ima-gination verknüpfen, offenbart sich in dem Ausgleichen oder der Versöhnung ge-gensätzlicher oder voneinander abweichender Qualitäten ... ein mehr als gewöhn-licher Zustand mit mehr als gewöhnlicher Klarheit, stets wachem Urteil und stän-diger Selbstbeherrschung.”

Und in einer mehr wissenschaftlichen Art erklärt er weiter:

”Durch die Verbindung eines Durcheinanders von unverbundenen Impulsen in eine einzige geordnete Antwort zeigt sich in allen Kunstrichtungen die Imagination am meisten.”

T.S. Eliot sagt in seinem Essay aus dem Jahre 1919 ”Tradition und das individu-elle Talent”, das klassischen Ruhm erlangte und worin er seine ”unpersönliche Theo-rie der Poesie” erläutert: ”Der Dichter hat keine ‘Persönlichkeit!, um sich auszu-drücken, sondern ein bestimmtes Medium, das nur ein Medium ist und keine Persön-lichkeit, und in dem sich Eindrücke und Erfahrungen in einer besonderen und uner-warteten Weise vereinen.”

Keine zwei Kritiker könnten gegensätzlicher sein in ihrer Einstellung zur Lite-ratur, doch stimmen beide darin überein, daß die Literatur, was auch immer der Vor-gang sei, in dem sie geschaffen wird, ein bestimmtes Ordnen von Erfahrung sei. Um ein vertrautes Beispiel zu nehmen, gibt es das bekannte Liebeslied von Robert Burns:

“O meine Liebe ist wie eine rote, rote Rose.”

Das Stück ist aufgebaut aus einer Reihe von Silben. Diese Silben sind in einer bestimmten Ordnung gereiht, um Worte zu bilden. Diese Worte sind wiederum in einem zweifachen Muster von Klang und Sinn angeordnet, um eine Folge von abgemessenen Zeilen zu bilden, die eine Versform ergeben und Sätze, die gewisse Aussagen machen. Jeder Vers ist mit dem nächsten verbunden, und zusammen bilden sie das Gerüst des Gedichts. Jede Aussage ist mit der nächsten verbunden und zusammen ergeben alle Aussagen den Inhalt des ganzen Gedichts. Hier folgt, wie der erste Vers lautet:

”O meine Liebe ist wie eine rote, rote Rose,
die im Juni neu erblühte.
O meine Liebe ist wie die Melodie,
die lieblich erklang voll Harmonie.”

Der Vers verarbeitet zwei ganz verschiedene Erfahrungen: die Erfahrung, eine frische Rose im Monat Juni zu sehen und die Erfahrung, ein schön gespieltes Musik-Stück zu hören, und verbindet sie wirksam, indem sie auf eine dritte Erfahrung be-zogen werden - nämlich das Gefühl der Schönheit und das Gefühl der Harmonie, das in dem Liebenden erweckt wird durch seine Geliebte. Dies letztere ist in der Tat das eigentliche Thema des Gedichts, aber es wird dem Leser nur durch die Anrufung der ersten beiden Erfahrungen vermittelt. Nachdem der Dichter es poetisch verwirklicht und seine Erfahrung vermittelt hat, geht er unweigerlich zum Nächsten, nämlich der Liebe für die Frau, die in ihm diese Antwort hervorruft, und er führt es aus, in-dem er die unsterbliche Natur seiner Verehrung versichert. Auf diese Weise gelangen wir zu der Verwickelten Form von Entsprechungen, die als das Gedicht von Burns be-kannt sind. Und diese Schöpfung von Entsprechungen zwischen verschiedenen Erfahrun-gen, die künstlich in einem Vorgang auf verschiedenen Ebenen fortgeführt werden mit Worten, rhythmisch, empfindungsmäßig und gedanklich, liegt der ganzen Literatur zugrunde.

Wenn also das künstlerische Gestalten ein Ordnen menschlicher Erfahrung verkör-pert, erhebt sich die Frage, ob dies zum Einordnen der Erfahrung eine Beziehung hat oder nicht, die verkörpert ist in den Meinungen des Autors, oder was wir gewöhnlich seine Lebensphilosophie nennen. Und hier begeben wir uns auf gefährlichen Treib-sand, der schon der Untergang vieler vor uns war. Wenn wir Dr. Richards glauben, gibt es keine solche Beziehung. Denn nach ihm ist die Meinung eines Dichters für seine Dichtkunst unbedeutend; tatsächlich ist sie zuzeiten ein Hindernis für ihr Wachstum, da das Ordnen der Erfahrung einzig auf der unbewußten Ebene durchgeführt wird. Indem er die psychoanalytischen Formulierungen über das Bewußte und Unbewußte annimmt, betrachtet er rationale Gründe überwiegend als eine hemmende und aufhal-tende Kraft, die eine umfassendere und befriedigendere Organisation der im Menschen verborgenen Impulse und Erscheinungen verhindert. Auch T.S. Eliot sagt letzten En-des in seinem Essay, das wir schon zitiert haben, dasselbe, trotz seiner grundle-genden Unterschiede zu Dr. Richards. Auch für ihn ist die Meinung des Schriftstel-lers unbedeutend. Er sagt: “Der Dichter hat keine Persönlichkeit, um sich auszudrü-cken, sondern ein besonderes Medium.” Der Geist des Künstlers ist bloß ”Katalysa-tor”‚ der an sich mit dem künsterlischen Schöpfungsakt nichts zu tun hat, sondern durch sein bloßes Vorhandensein ermöglicht, daß sich ”Eindrücke und Erfahrungen auf besondere und unerwartete Art vereinen.”

Aber können wir die Erklärungen von Dr. Richards und T.S. Eliot annehmen? Können Zeilen wie die von Shakespeare:

”... die Menschen müssen ihr Vonhiergehen sowie
ihr Hierherkommen ertragen, Reife ist alles”,

oder die von Milton:

”Liebe dein Leben nicht, noch hasse es, aber was du liebst, lebe es aufrichtig, so lang oder kurz es vom Himmel erlaubt ist”,

oder die von Wordsworth:

”Die geringste Blume, die blüht, kann mir Gedanken eingeben, für Tränen, oft zu tief gelegen.”

Sind einige der berühmtesten Zeilen von den drei größten englischen Dichtern durch Zufall entstanden? Können sie denn ohne einen gewissen Glauben geschrieben sein? Die aufgeworfene Frage ist wesentlich, nämlich, ist das in der Kunst verkörperte Gestalten unbewußt und zufällig, oder ist es im wesentlichen auf ein bewußtes Ordnen der menschlichen Erfahrung im Geist des Künstlers bezogen, wie er sie sieht? Dr. Richards Ansichten sind durch seine Abhängigkeit von moderner klinischer Psy-chologie verfälscht, die auf der Analyse des menschlichen Gemüts in einer Prüfungs-situation beruht, aber nicht von gesunden, normalen Männern und Frauen, sondern von Neurotikern und Psychotikern. Durch Prüfung solcher Fälle kommt man zu dem Schluß, daß das Bewußte und Unbewußte stets im Kampfe miteinander liegen, und daß es das Bewußte ist, das all die Unruhe stiftet, indem es die instinktiven Antriebe und Er-scheinungen hemmt. Aber nichts könnte unwissenschaftlicher sein. Unsere modernen Psychoanalytiker halten das Negative fälschlicherweise für das Positive. Sie ver-gessen, daß das, was sie beschreiben, nur für das Anormale gültig ist, daß es in der Tat die wahre Ursache des Anormalen sein kann, und daß das normale Gemüt zum größten Teil gerade umgekehrt funktioniert. Ist nicht das Gefühl des Wohlseins, das wir in guten Momenten haben, ein sicheres Anzeichen einer vollkommenen Übereinstim-mung zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten? Und wo anders können wir dieses Ge-fühl des Wohlseins so mächtig empfinden als in der großen Kunst? Können wir also sagen, indem wir Dr. Richards eigene Begriffen benutzen, daß ein großes Kunstwerk eine vollkommene Harmonie zwischen dem Bewußten und Unbewußten verkörpert, eine Harmonie, in der man, wenn man das eine entfernt, das andere nicht haben kann? Nimm die bewußten Elemente hinweg und das Unbewußte fällt zusammen; entferne das Unbe-wußte, und das Bewußte bleibt wie ein vom Blitz getroffener Baum, ohne Saft und Le-ben, nur noch für des Holzfällers Axt geeignet. Wie können wir also sagen, daß die Ansichten eines Autors bedeutungslos für sein Werk seien, wenn ohne sie sein Werk nicht das wäre, was es ist.

Auf der anderen Seite ist der junge Eliot beeinträchtigt durch seine Ansicht, daß Kunst nur Kunst ist und mit nichts anderem vergleichbar, eine Meinung, die, bis zum Ende durchdacht, ihn mit den Künstlern vor Raphael verbindet, denen er so innig verbunden war. Hier folgt, was er in einem Essay sagt, der im Jahr 1927 veröffent-licht wurde (Shakespeare und der Stoizismus des Seneca):

”Der Dichter macht Dichtung, der Metaphysiker macht Metaphysik, die Biene macht Honig, die Spinne sondert den Faden ab; man kann schwerlich sagen, daß einer von diesen Tätigen ‘glaubt‘, er ‘tut‘ nur.” Und ein wenig vorher im gleichen Aufsatz: ”In Wahrheit haben weder Shakespeare noch Dante wirklich nachgedacht - das war nicht ihre Aufgabe.” Solch trügerische Überlegungen sind unverzeihlich, insbesonde-re wenn sie von so einem verantwortlichen Kritiker stammen, der erst zehn Jahre vorher mit Betonung erklärt hatte: ”Jeder schöpferische Geist ist auch ein Kriti-ker” (”Ben Jonsen”, 1919), oder möchte T.S. Eliot behaupten, daß Kritik auch so ein automatischer Vorgang ist wie das Absondern des Fadens der Spinne, ein Vorgang, der kein ernsthaftes Nachdenken einbezieht, ein Vorgang, unabhängig vom Denken? Der Fehler wird umso unverzeihlicher, als Eliot selbst vielleicht der bedeutendste Dichter unseres Jahrhunderts ist, und zwar einer wie Dante und Wordsworth, im we-sentlichen philosophischer Richtung. Hätten ”The Four Quartets” oder auch ”The Wasteland” - trotz der Anleihen von fünfunddreißig Autoren und trotz des Dichters Versuch, den verstandesmäßigen Aufbau aus dem Hauptteil des Gedichts herauszuhal-ten, und seiner Weigerung, sich bloßzustellen - hätten sie ohne ernstliches Nach-denken von Seiten des Autors hervorgebracht werden können? Es scheint, daß T.S. E-liot in seinem Bemühen, der Dichtkunst eine unpersönliche Bedeutung beizumessen und seinem Verlangen, sie aus der Verwicklung von Philosophie und Theologie, in die Ar-nold und Middleton Murry sie hineingebracht haben, zu befreien, über das Ziel hi-nausschoß und nur erreichte, die Verwirrung noch verwirrter zu machen. Er wurde je-doch weiser und versuchte seine alten Fehler auszubessern. So akzeptierte er 1933 in seinen Charles-Eliot-Norton Vorlesungen in Harvard nicht nur die Notwendigkeit, daß sich der Leser diese Absichten vor Augen hält, um einen größeren Genuß an des Autors Werk zu haben. Indem er von Wordsworth spricht, sagt er:

”Wenn wir Wordsworths Interessen und Absichten beiseite lassen, wieviel bleibt denn dann noch übrig? Sie im Gedächtnis zu behalten und sich daran zu erinnern, anstatt sie absichtlich zu verdrängen, bei der Vorbereitung, sich an seiner Dichtkunst zu erfreuen, ist das nicht notwendig, um zu würdigen, was für ein großer Dichter Wordsworth wirklich ist?”

Die Ansichten des Schriftstellers sind wesentlich für sein Werk. Man kann ein-fach nicht hoffen, ein größeres Gedicht, einen Roman oder ein Drama ohne einen ge-wissen gedanklichen Aufbau zu erhalten; denn, wenn Dr. Richards Aussage richtig ist, so kann, da unsere Gefühle in einem ständigen Wandel sind, kein Werk, das in mehr als einer Sitzung geschrieben ist, eine innere Einheit haben. Seine Theorie mag ein lyrisches Gedicht erklären oder vielleicht auch zwei, aber nicht ein ”Das verlorene Paradies”, für dessen Vollendung Hilton acht Jahre brauchte. Wenn Kunst ein Ordnen verkörpert, und Ordnen eine Beständigkeit bedingt, so erfordert Bestän-digkeit ein gewisses intellektuelles Element. Dr. Richards stimmt mit seinen Schü-ler William Empson überein, wenn er sagt, daß die ”gefühlsmäßige Bedeutung” von Worten weitgehend bestimmt ist durch ihre ”erkenntnismäßige Bedeutung”. Aber dann vergißt er, daß das, was für die Sprache gilt, in einem weiteren Sinne auch für die Literatur und das Leben Geltung hat. Unsere Gefühle und Impulse schweben nicht in der Luft, bereit, um auf den leisesten Wink eine Zeile zu bilden. Sie sind weitge-hendst durch die erkenntnismänige oder gedankliche Bedeutung bestimmt, die eine Er-fahrung für uns hat. Wie verschieden ist unsere Reaktion, wenn wir einen Tiger im Zoo oder im freien Dschungel sehen. Ein gewisses gedankliches Ordnen der Erfahrung von seiten des Autors ist unumgänglich und ist eine Notwendigkeit - sogar der Nihi-lismus bzw. die Weigerung, überhaupt etwas zu glauben, ist letzten Endes eine Geis-teshaltung - aber wir müssen darauf bestehen, es ist ein harmonischer Teil der ge-samten Erfahrung, die in einem Kunstwerk verkörpert ist, nicht etwas Aufgepfropftes oder zum Rest des Werkes Widersprüchliches. Es muss ja nicht gleich so sein wie bei Voltaires Dr. Panglors, der beständig erklärt, daß alles zum besten dient, selbst wenn er hingerichtet wird. Es darf nicht, wenn wir ein Beispiel aus der Botanik be-nutzen, der falsche Zweig auf einen falschen Baum gepfropft werden, der nur verwel-ken und eingehen kann. Vielmehr muß das richtige Pfropfreis auf den richtigen Baum gepfropft werden, das dann, wenn sie sich vermischen und eins werden, alle Unter-schiede überwindet.

Nun zurück zu unserem Problem der Beziehung zwischen Religion und Literatur. Wenn Religion die Wahrnehmung einer unsichtbaren gerechten Ordnung ist, die der ma-teriellen Welt zugrunde liegt, sie erhält und über ihr steht, und wenn Literatur die Verkörperung eines gedanklichen und intuitiven Ordnens menschlicher Erfahrung ist, so ist die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen beiden offensichtlich. Wir können nun die Feststellung wagen, daß es eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen den Vorgängen künstlerischer und religiöser Erfahrung gibt. Mathew Arnold hat dies intuitiv erfaßt, wenn er sagt, daß das Zentrum aller großen Religionen poetisch war und daß alle große Poesie aus religiösem Geiste stammt. Aber nun wollen wir eine brauchbare Unterscheidung zwischen Religion und Literatur treffen. Beide verkörpern ein gewisses Ordnen von Erfahrung, aber im Fall der Literatur ist dieses Ordnen er-kannt und ausgedrückt in den Begriffen und Gesetzen dichterischer Wahrheit und dichterischer Schönheit, wobei eine ”wahrscheinliche Unmöglichkeit” einer ”unwahr-scheinlichen Möglichkeit” vorgezogen wird, wohingegen in der Religion das Ordnen absolut und nicht den Gesetzen der Kunst unterworfen ist.

Wir wollen nun eine weitere, noch gewagtere Feststellung treffen, nämlich, daß diejenige Kunst, die die höchste Ordnung menschlicher Erfahrung verkörpert, die Kunst, die am meisten erweckt, erhebt und überzeugt, in ihrem Geiste religiös sein muß. Hier wollen wir einer Entgegnung zuvorkommen. Wenn wir den Begriff religiös verwenden, meinen wir nicht, daß ein Kunstwerk auf einem System anerkannter Dogmen beruhen muß, sondern daß sie ein Bewußtsein einer inneren geheimnisvollen Ordnung innerhalb und jenseits der sichtbaren materiellen Welt verkörpern soll. In diesem Sinne ist der junge Wordsworth, der Dichter von ”The Prelude” und ”Tintern Abbey” religiöser als der ältere und mehr orthodoxe Wordsworth, denn seine früheren Ge-dichte verkörpern ein tieferes Bewußtsein für etwas, das weit tiefer verborgen ist, als seine späteren ”Ecclesiatical Sonnets”.

Es mag aber der Einwand erhoben werden, daß nicht alle gute Dichtung ”religiös” ist, sondern tatsächlich nur ein geringfügiger Teil im wahren Sinne religiösen Cha-rakters ist. Und das ist vollkommen richtig. Wir können T.S. Eliots Einteilung mo-derner Künstler in drei Kategorien als passende Klassifizierung übernehmen. Zuerst haben wir jene, die in einem Zustand der Unentschiedenheit leben, Leute wie Arnold und Hardy, die spirituelle Werte gern erhalten ohne Zuflucht zu spirituellem Glau-ben. Und zuletzt natürlich jene, für die spirituelle Werte untrennbar von spirituellem Glauben sind. Von diesen drei Arten ist nur die letzte in unserem Sinne reli-giös. Und diese Gruppe war niemals in größerer Minderzahl als heute. Tatsächlich scheint sie fast verschwindend zu sein, zumindest noch vor ein oder zwei Jahrzehn-ten. Aber sollen wir mit Zahlen beurteilen? Sollen wir Qualität mit Quantität mes-sen? Beklagen sich die Kritiker nicht über das Absinken der Qualität in der gegen-wärtigen Literatur, trotz der größeren technischen Meisterschaft des modernen Künstlers?

Die Literatur, die von den kommunistischen Ländern einströmt, von der man sagen kann, daß sie die erste unserer drei Kategorien darstellt, läßt einen irgendwie un-befriedigt. Und man kann nicht anders, als die Ursache dieses Unbefriedigtseins auf eine Schwäche zurückzuführen, die dem marxistischen System an sich innewohnt. Unser Einwand gegenüber dem System ist zweifach. Zunächst einmal, daß, obwohl es den He-donismus (Philosophie der Lebensfreude) bekämpft und attackiert, seine grundsätzli-chen Voraussetzungen die gleichen sind. Ehrenhaftigkeit, gute Absichten und Zusam-menarbeit sind an sich nicht gut. Sie sollen nicht um ihrer selbst willen verfolgt werden, sondern sie sind die besten Mittel, durch die ein Mensch seinen eigenen Be-dürfnissen oder denen seiner Kinder dienen kann. Kurz gesagt, der Marxist unter-stützt die richtigun Werte, aber er tut es aus falschen Gründen und ein Nichtmar-xist, der von den gleichen Gründen ausgeht, kann, mit gleicher Logik, zu ganz ge-gensätzlichen Werten gelangen. Unser zweiter Einwand ist, daß man das Leben nicht in Begriffen materieller Bedürfnisse erklären kann. Zweifellos sollen wir die Welt besser machen und zu einem Ort gestalten, wo man wirtschaftlich leichter leben kann; aber ist das alles, was wir wollen? Ist das unser höchstes Ziel? Wenn ja, dann ist unserer Meinung nach das marxistische Ideal in den meisten begüterten ame-rikanischen und neuseeländischen Häusern angemessen verwirklicht. Der kommunisti-sche Schriftsteller offenbart, zu Ende analysiert, einen überraschenden Mangel an Tiefe, die doch so charakteristisch gewesen ist für die russischen Novellisten des 19. Jahrhunderts wie Tolstoi und Dostojewski. Dieser verführerisch propagierte Glaube an die Kommune ist auf eine falsche Vereinfachung des Lebens gegründet, wor-auf die einzig passende Antwort die Frage in der Bibel ist: ”Ist nicht Leben mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung?” - eine Frage, deren intuitive Logik unwiderstehlich ist, eine Logik, die unsere sogenannten ”wissenschaftlichen” Begriffe - vorgefasste Meinungen, die in Laboratorien, Kliniken oder Klassenzimmern aufgelesen sind - recht mittelmäßig und schäbig aussehen lassen.

Schriftsteller, die zu der zweiten Kategorie im Sinne T.S. Eliots gehören, stel-len ein schwieriges Problem dar, nämlich, ob man spirituelle Werte bewahren und tiefschürfend sein kann, ohne offen oder stillschweigend zu gewissen spirituellen Ansichten zu gelangen? Wir können Virginia Woolf und Thomas Hardy - zwei Schrift-steller, die einander genügend unähnlich sind, um repräsentativ zu gelten - als passende Beispiele wählen. Mrs. Woolf webt aus dem schmutzigen, gewöhnlichen Stadt-leben eine überraschend bezaubernde Welt von Sonnenschein und Romantik. Sie erfin-det sehr verfeinerte Charaktere, Menschen wie Clarissa Dalloway, Mrs. Ramsay oder Lily Briscoe, die sich beständig mit der Bedeutung des Lebens und den spirituellen Werten beschäftigen. Mrs. Woolf zeigt eine heftige Abneigung gegen religiösen Glau-ben und scheint doch spirituelle Tiefe anzulegen. Wir verwenden die Worte ”scheint” und ”anlegen”, da wir zweifeln, ob sie oder ihr Werk diese höchste Qualität zeigt. Hier folgt ein charakteristischer Abschnitt, wo in einem entscheidenden Moment des Buches ”To the Lighthouse” das Bewußtsein von Mrs. Ramsay charakterisiert wird, die Mutter von acht Kindern ist, und einen der verfeinerten Typen von Mrs. Woolf dar-stellt:

”Da sind die ewigen Probleme: Leiden, Tod, die Armen. Immer gibt es eine Frau, die an Krebs stirbt. Und doch hat sie all diesen Kindern gesagt: ihr werdet mit all diesem fertig werden. Aus diesem Grunde, und da sie wußte, was ihnen bevorstand - Liebe und Ehrgeiz und Unglücklichsein an traurigen Orten - hatte sie oft das Ge-fühl: warum müssen sie aufwachsen und das alles verlieren? Und dann sagte sie zu sich selbst, indem sie ihr Schwert wider das Leben schwang: Unsinn, sie werden vollkommen glücklich sein.” Dieser Abschnitt stellt Fragen und weicht ihnen dann aus. Und wie es bei Mrs. Ramsay ist, so ist es bei ihrer Schöpferin, Mrs. Woolf. Ihre Erzählungen stellen Fragen, die sie nicht beantworten kann. Die entscheidenden Momente der sogenannten ”Erleuchtung” in den Gemütern einer Mrs. Dalloway oder Lily Briscoe, haben trotz all ihrer anscheinenden Reichhaltigkeit nichts Wesentliches an sich. Kurz gesagt, die Welt von Mrs. Woolf ist eine Flut von Mondenschein, wobei der Mond fehlt, und man kann leicht einen Ton von wehmütigen Pessimismus in ihrem ganzen Werk entdecken.

Bei Thomas Hardy ist die Lage im Grunde die gleiche, obwohl er nach Temperament und Technik ein Schriftsteller ganz anderer Art ist. Dennoch gibt es einen bedeut-samen Unterschied. Der besteht darin, daß Mrs. Woolf das Leben als weltlich ansieht und doch vorgibt, es könne schön und bedeutungsvoll sein; Hardy, der von den glei-chen Voraussetzungen ausgeht, erhebt nicht solche Ansprüche. Ein Ergebnis davon ist, daß seine Erzählungen uns tiefer anrühren als irgendeine von Mrs. Woolf, trotz ihrer Unausgefeiltheit und trotz ihres Mangels, auch nur einen einzigen so ausge-tüftelten Charakter wie Mrs. Dalloway oder Mrs. Ramsay hervorzubringen. In seinen Erzählungen herrscht eine tragische Würde und Lauterkeit, ein Empfinden für wahren Charakter und Geisteshaltung, das alles überwindet, selbst die Begrenzung eines un-genügendem Stils. Aber wenn alles zum Lob seines Werkes gesagt ist, bleibt doch im Grunde ein Unbefriedigtsein. Die Welt wird gänzlich in Darwinschen Begriffen gese-hen, als ein riesiges Wechselspiel blinder Naturkräfte. Das menschliche Bewußtsein ist eine Marter, die uns im Prozeß der Entwicklung zufällig auferlegt wurde. Leben kann nicht anders als beklagenswert sein. Hardy sagt jedoch, wir dürfen davor nicht davonlaufen; wir müssen ihm mutig entgegensehen, dies sei die einzige Bedeutung, die es haben kann. Aber kann Stoizismus eine Bedeutung in einer bedeutungslosen Welt haben? Kann man die Kreuzigung ohne die Auferstehung verherrlichen? Kann man sagen: ”Dem Schicksal begegnen ist alles.” ohne dabei zu sagen: ”Die Götter sind gerecht”? Dieser Widerspruch ist grundlegend in Hardys Erzählungen. Die Werte, die er anstrebt, sind ideal, aber sie sind unpassend in einer bedeutungslosen Welt. Dieses Fehlen einer Mitte in seiner Schau, diese Unfähigkeit, das Geistige mit dem Materiellen zu verbinden, gibt seinem Werk dieses durchgehende Gefühl von Sinnlo-sigkeit, ein Gefühl, das wir nie haben, wenn wir ein Drama von Shakespeare sehen oder den ”Michael” von Wordsworth lesen, ein zufällig entstandenes Gedicht, das aus den gleichen tragischen Empfindungen und szenischen Motiven hervorging, wie sie in den Wessex-Erzählungen verwandt werden.

Tatsächlich ist der Pessimismus unvermeidlich in jeder überwiegend weltlichen Einstellung. Weltliche Literatur muß entweder kindlich sein oder verzweifeln. Sie wird entweder das Leben übervereinfachen in ein Gefüge wirtschaftlicher Regeln, wie die Marxisten, oder in ein Gefüge psychologischer Komplexe, wie die Freud-Anhänger, oder sie wird es, wie bei Virginia Woolf und Hardy, auf einen Kreis ohne ein Zent-rum, ein Gebäude ohne Untergrund, eine Welt ohne Bedeutung reduzieren. Sie macht das Leben zu etwas Geringerem als es tatsächlich ist, etwas, wovor wir, wie Hamlet, intuitiv zurückprallen:

”Was ist der Mensch, wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh, nichts weiter. Gewiß, der uns mit solcher Denkkraft schuf, voraus zu schaun und rückwärts, gab uns nicht die Fähigkeit und göttliche Ver-nunft, um ungebraucht in uns zu schimmeln.”

Nachdem wir die grundsätzlichen Grenzen weltlicher Literatur erkannt haben, wird unsere Behauptung, daß die bedeutendste Art der Kunst eine religiöse Auffassung der Erfahrung verkörpern müsse, nun weniger vorschnell erscheinen und wird mehr Bedeu-tung haben. Bisher versuchten wir, unsere Annahme auf negative Weise zu rechtferti-gen. Nun wollen wir eine positivere Betrachtungsweise annehmen.

Wenn religiöse Einstellung voll entfaltet ist, bietet sie die höchste Ordnung von Erfahrungen, die bis jetzt dem menschlichen Geist bekannt ist. In keiner anderen Einstellung gibt es, um die Worte Coleridges zu verwenden, ein größeres ”Gleichge-wicht oder Ausgleich von gegensätzlichen oder unterschiedlichen Eigenschaften”. Mit ihr werden solche sonst unlösbaren Paradoxe wie Leben und Tod, Gut und Böse, Liebe und Schrecken, Freude und Schmerz, Vergangenheit und Zukunft endgültig gelöst. Es ist nicht gerade Zufall, daß sowohl im Osten wie im Westen diese Auffassung sich in ähnlichen und irgendwie paradoxen Begriffen ausdrückte. Hier folgt eine Darstellung von Lord Krishnas Worten aus dem siebenten Kapitel der Gita:

Nun erkenne mein höh‘res Selbst in dem Prinzip des Lebens.
Zwar ungeboren, ewig auch, und aller Wesen Herr bin ich;
und doch entsteh‘ ich oftmals nur durch meines Wesens Wunderkraft.
Aus ihrem Schosse kommen all die Wesen her - dies fasse recht,
Ich bin für die ganze Welt der Urquell und der Untergang.
Es gibt nichts höheres als mich, kein anderes Ding, was es auch sei.
Auf mich ist dieses All gereiht wie Perlenreihen an der Schnur.
Ich bin des Wassers Feuchtigkeit; ich bin das Licht in Sonn‘ und Mond.
Das heil‘ge OM der Veden all, der Ton im Äther, Kraft im Mann.
Der reine Duft im Erdenkloß, der Glanz im Feuer, das bin ich.
Das Leben in den Wesen all‘, die Buße in den Büßern auch.
Der ew‘ge Same bin ich auch von allen Wesen - wisse dies.

Und hier folgt, was T.S. Eliot, ein Anglo-Katholik, mehr als zweitausend Jahre später, über das gleiche Thema zu sagen hat:

”Am stillen Punkt der sich drehenden Welt; weder Fleisch noch fleischlos.
Weder her von, noch nach; am stillen Punkt, wo der Tanz ist,
aber weder Hemmung noch Bewegung; und nenne es nicht Verharren.
Wo Vergangenheit und Zukunft beieinander sind.
Weder Bewegung irgendwoher noch irgendwohin;
weder Aufstieg noch Abstieg, ausgenommen des Punktes, des stillen Punktes.
Dort gibt es keinen Tanz, und dort allein ist der Tanz.”

(Burnt Norton)

Ein Schriftsteller, der solch ein Muster hinter allem Existierenden wahrnimmt - und diese Wahrnehmung, wenn sie einen Wert haben soll, muß sowohl rational wie ima-ginär, bewußt wie unbewußt sein - hat Zugang zu der höchsten Organisation menschli-cher Erfahrung. Nicht nur, daß er mehr Erfahrung in sein Muster einbeziehen kann als seine weltlichen Kollegen, er kann es auch zusammenhängender ordnen. Seine Vor-stellungskraft, ähnlich der von Milton und Dante, kann vom Inferno durch das Fege-feuer bis zum Paradies gelangen. Er allein kann innerhalb eines einzigen Werkes einen Goneril und eine Cordelia schaffen, er allein kann:

“... die Welt in einem Sandkorn schauen und
den Himmel in einer Blume”

und:

“... die Unendlichkeit in Händen halten und die
Ewigkeit in einer Stunde
                                                              Blake

Er allein kann unter die Hülle von Schönheit und Häßlichkeit dringen, und nicht nur die Langeweile und Angst schauen, sondern auch den Glanz, was in den Worten E-liots der ”wesentliche Vorteil des Dichters” ist.

Literatur, die auf religiösem Verständnis aufbaut, wird menschlicher, gesünder und annehmbarer sein als jene, die auf weltlicher Haltung aufbaut. Sie wird sowohl den Glauben an die Gemeinschaft und die Vereinfachung des Marxisten, als auch die Isolierung und Verzweiflung des romantischen Ästheten vermeiden. Sie wird stets ei-nen Maßstab haben, um jede menschliche Handlung zu beurteilen, einen Maßstab, der zugleich absolut und menschlich ist. Sie wird uns nicht nur sagen, was Leben ist, sondern auch, was es sein kann. Es wird ihr stets gelingen, dem Leben eine Bedeu-tung zuzumessen, und wird einen unwissenden Bauern mit gleichem Respekt behandeln wie den kultiviertesten Intelektuellen, etwas, wozu Virginia Woolf unfähig zu sein scheint. Sie wird nicht den Kopf verlieren und zu krankhafter Obszönität herabsin-ken, selbst wenn sie sich mit Schmutzliteratur beschäftigt, wie man es sehen kann, wenn man die bedeutenden Erzählungen von Boccacio, Chaucer und Jean de la Fontaigne vergleicht mit solchen, die in unserer Zeit geschaffen wurden.

Weiterhin bietet religiöses Bewußtsein eine Form, die genau der menschlichen Si-tuation entspricht mit ihrer geheimnisvollen Verknüpfung von rationalen und intui-tiven Kräften. Ein mächtiges gedankliches Element ist zwar einbezogen, aber die Mitte der Schau, die die Gita ”Brahman” oder Eliot den ”Stillen Punkt” nennt, bleibt ein tiefes Geheimnis. Dieses Geheimnis, das der religiöse Künstler im Wesen jedes Objektes um sich herum sieht, kann er, wenn er ein großer Künstler ist, in jeden Teil seines Werkes einfließen lassen. Wie Shakespeare kann er Charaktere und Dichtung schaffen, die aller endgültigen Beurteilung entgleiten. Er kann der Erfah-rung, die sich in seinem Werk verkörpert, eine vierte Dimension verleihen, die an-deren Menschen unbekannt ist.

Wenn der religiöse Schriftsteller mit einem anerkannten Glauben übereinstimmt, so kann er für sich noch einen weiteren großen Vorteil verbuchen. Indem er eine al-te Tradition übernimmt, kann er, wie Dante, komplexe Symbolgehalte mit verschiede-nen Stufen von Bedeutung ausbeuten, ohne Gefahr zu laufen, eine verschwommene Schreibweise zu haben. Wie Bunyan - und anders als James Joyce - gefällt er glei-chermaßen Ungebildeten und Akademikern.

Wir haben bisher ausschließlich über allgemeine Vorzüge gesprochen, deren sich ein Schriftsteller mit religiöser Auffassung erfreut. Nun ist es Zeit, einige nütz-liche Unterscheidungen in dem Gebiet der religiösen Literatur selbst zu treffen. Die erste wäre, daß es, grob gesagt, zwei Arten solcher Literatur gibt: die eine, in der die religiöse Auffassung eine Brille ist, durch die das menschliche Drama, die äußere Welt, betrachtet wird; die andere, in der die religiöse Auffassung selbst zum Thema der Betrachtung des Autors wird. Die erste Art wird am besten rep-räsentiert durch Werke von Shakespeare, Ben Jonsen, Henry Fielding, durch die Hindu und Urdu Erzählungen von Munshi Prem Chand oder durch die Dichtungen von Galib und dem jungen Iqbal. Die zweite Gruppe wird durch Dichtungen von Herbert, Crashaw, Vaughan oder dem älteren Eliot verdeutlicht. Aber diese zwei Gruppen können sich in größeren Werken vereinigen, wie in Dantes “Göttliche Komödie” oder im Ramayana und Mahabharata. Eine zweite Unterscheidung, die wir gerne treffen würden, ist, daß es zwei Arten gibt, wie man sich der übernatürlichen Ordnung nähern kann: entweder als einem Teil der materiellen Welt und sie doch übersteigend, oder als ein Muster, das getrennt von der Welt existiert und nur durch Verneinung der sinnlichen Welt er-reichbar ist. Und von diesen beiden, so erscheint es uns, ist die zweite Haltung die schwächere. Das Hauptanliegen des Schriftstellers muß das menschliche Leben sein, wenn er gelesen zu werden wünscht, er darf ihm nicht den Rücken kehren. Außerdem muß ein Glaube, der nicht aus dem Leben selbst erwächst, notwendigerweise mehr intellektuell als intuitiv sein, denn im Falle eines solchen Gläubigen kann intellektueller Glaube und physische Erfahrung nicht eins sein; stattdessen sind sie stets im Widerstreit miteinander. Das ist die Schwäche, die einen bei den meis-ten modernen religiösen Dichtern aus der Fassung bringt. Eliot ist nicht ganz frei davon. Sein Werk ”The Wasteland” stellt das Versagen eines modernen Künstlers dar, eine Bedeutung aus dem Chaos rund um sich abzuleiten, eine Bedeutung, die Dante in seiner ”Göttlichen Komödie”, Shakespeare in ”König Lear” und Milton in ”Samson Agonistes” erfolgreich bewahrten, trotz der Auseinandersetzungen und des sozialen Auf-ruhrs rings um sie. In ”Ash Wednesday” und ”Four Quartets” gelingt es ihm, eine mögliche Bedeutung zu finden - aber um welchen Preis? Er hat seinen Rücken der äußeren Welt zu kehren. Er hat:

“... dem gesegneten Angesicht zu entsagen, und auch der Stimme zu entsagen.”

Aus diesem Grunde vermag eine religiöse Dichtung nicht das Gefühl der Einheit zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Materiellen und dem Spirituellen, dem Intellektuellen und dem Emotionalen zu übermitteln, was die größte Leistung Words-worths ist, wenn er inspiriert schreibt:

”Der schwindelerregende Anblick des reißenden Stromes,
die entfesselten Wolken und Regionen des Himmels,
Aufruhr und Friede, Dunkelheit und das Licht, wo alles,
wie das Wirken eines Gemütes, Gesichtszüge eines Gesichts,
auf einem Baume blüht;
Charakter der großen Apokalypse, Arten und Symbole der Ewigkeit,
des Ersten und Letzten, in der Mitte und ohne Ende.

(The Prelude VI, 560-67)

Zum Schluß möchten wir sagen, daß die voll entwickelte religiöse Haltung, obwohl sie die zarteste und doch stärkste Ordnung menschlicher Erfahrung darstellt, bei schwachen Gemütern ein Mittel zum sentimentalen Entrinnen werden kann. In solchen Fällen behandelt sie unser Leben als eine bloße Illusion und nimmt vor ihrem Elend Zuflucht, indem man von einem eingebildeten Paradies der Annehmlichkeit und des Vergnügens träumt, in das man nach dem Tode eintritt. Keine Haltung ist verachtens-werter und ironischen Angriffen mehr ausgesetzt. Wenn Religion nur dies bedeutete, dann wäre es besser, Nichtgläubiger als Gläubiger zu sein. Solch eine Eskopisten-Gesinnung ist am leichtesten zu erreichen, und die meisten anerkannten Gläubigen - auch viele Priester und Pandits - sind niemals darüber hinausgekommen. Es war das allgemeine Vorherrschen dieser Pseudo-Religion, so fühlt man, die Karl Marx zu ei-ner umfassenden Verdammung der Religion als Opium für die Massen aufforderte. Wahre Religion ist tatsächlich eine ganz andere Sache, und es scheint uns, die zu errei-chen schwierigste. Sie versucht nicht, der Welt zu entrinnen, noch sucht sie den Problemen des Leidens zu entgehen. In der Tat, wie bei Edgar in ”Lear” und Harry in ”The Family Reunion”, ist sie oft aus tragischer und qualvoller persönlichcr Erfah-rung entstanden. In einigen der größten Tragödien, wie in dem Schauspiel ”Ödipus” von Sophokles oder in ”Orestes” von Euripides oder auch in ”König Lear” von Shakes-peare, sehen wir zunächst Zynismus und Unglauben, und gelangen schließlich zum Glauben, nachdem wir das Leben von seiner schrecklichsten Seite erlebt haben. Wah-rer religiöser Glaube sucht nicht zu trösten, indem er sich eingebildeten Himmeln zuwendet, sondern zieht seine Stärke aus der unmittelbaren Betrachtung des Chaos und der Tragödie des menschlichen Daseins. Keine zwei Haltungen könnten unter-schiedlicher sein, und doch sind keine zwei Haltungen so oft vermischt. Wie in der Literatur, so müssen wir auch im Leben gegen die Schwäche pseudoreligiösen Glaubens wachsam sein. Michaels Worte an Adam, bevor er und Eva aus dem Paradies gestoßen werden, am Ende von Miltons Werk ”Das verlorene Paradies”:

“... füge zu verantwortungsvollem Wissen nur Taten, füge Glaube, Tugend, Geduld, Mäßigung und Liebe hinzu, wodurch die erwähnte Nächstenliebe kommt, die Seele alles anderen: dann brauchst du nicht unwillig sein, dieses Paradies zu verlassen, sondern du wirst ein Paradies besitzen, das weit reicher ist, in deinem Innern!”

- haben einen aufrichtigen Ton, der ganz verschieden ist von der weichen Sentimen-talität eines Gedichts von William Culin Bryant, das mit folgenden Worten endet:

”Denn Gott hat jeden sorgenvollen Tag notiert,
und jede verborgene Träne gezählt;
des Himmels langwährende Glückseligkeit
wird es allen seinen Kindern, die hier leiden, vergelten.”

Man kann niemals hoffen, solch einem weiten und verwickeltem Problem Gerechtig-keit angedeihen zu lassen, um so weniger bei so beschränktem Raum. Das Äußerste, was man tun kann, ist Anregungen zu geben, und wir hoffen, daß wir zumindest klar-gemacht haben, daß Religion und religiöse Literatur mehr Berücksichtigung verdie-nen, als sie heutzutage erhalten. Wir dürfen nicht von vornherein annehmen, daß sie eine miesmachende, altmodische Lebensansicht darstellt. Auch dürfen wir nicht an-nehmen, wie die meisten unserer Wissenschaftler und Psychologen es tun, daß das Le-ben nicht mehr bedeute als die Summe der Teile, die wir analysiert haben. Dr. Jung hat in seiner Erklärung des Unbewußten gezeigt, wie geheimnisvoll und verwickelt, wie schwer zu fassen das Leben wirklich ist. Wissenschaft ist sicherlich eine unse-rer bedeutendsten Methoden um ”Wissen” zu erlangen, aber es ist nicht die einzigste Methode und wir müssen uns vor ihren Vereinfachungen hüten. Religiöser Glaube ist seinem Wesen nach transzendenten und subjektiven Charakters. Wissenschaft ist ande-rerseits im wesentlichen materialistisch und von Natur aus objektiv. Und das Leug-nen einer übernatürlichen Ordnung, weil es keinen wissenschaftlichen Beweis ihrer Existenz gibt, hat nicht mehr Gültigkeit als Leugnen der Existenz des Lichtes durch einen Blinden, da er es nicht fühlen, tasten, hören oder schmecken könne.

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