Die Psychologie der Meister

von Dr. George Arnsby Jones

Die moderne Wissenschaft der Psychologie ist nun alt genug, daß der zeitgenössi-sche Student einen richtigen Überblick über ihre Entwicklung bekommen kann. Eine Entwicklung vom Ende des 19. Jahrhunderts an, als sie nur ein Zweig des Materialis-mus war, bis zum heutigen Tag, wo ihre Funktion in zunehmendem Maße die einer ver-bindenden Wissenschaft zwischen Physiologie und übersinnlichen Bewußtseinszuständen zu sein scheint. Ein bekannter Wissenschaftler sagte einmal, daß “Wissenschaft im Mystizismus endet” und sicherlich haben einige idealistische Denker die wahre Auf-gabe der Psychologie darin gesehen, den Mystizismus wissenschaftlich zu machen und die Wissenschaft spirituell zu beeinflussen. Eine Studie des von der Psychglogie in diesem Jahrhundert gemachten Fortschritts zeigt mit Sicherheit, in welcher Richtung sie führt, und wird oft die heraufdämmernde Erkenntnis bestätigen, daß es nicht das Wesen wahrer Religion ist, unlogische Glaubensrichtungen aufrechtzuerhalten oder irgendeine ferne Gottheit freundlich zu stimmen, sondern durch eine Art psychologi-schen (oder inneren) Prozess, spirituelle Erkenntnis zu erleichtern. Jedoch enthal-ten sowohl die Psychologie, als auch die Praxis eines religiösen Glaubens starke Beschränkungen im Hinblick auf spirituelle Erkenntnis. Die sozialen Religionen ha-ben einen Ausdruck für die Masse gefunden, welcher fast ausschließlich auf der mo-ralischen und emotionalen Ebene ist, während der psychologische Prozess nicht ein-mal auf freie Gefühle beschränkt ist, sondern genau die Anwendung wissenschaftli-cher Gesetze des Verstandes einbegreift. Und auf der moralischen, gefühlsmäßigen und verstandesmäßigen Ebene kann spirituelle Befreiung nicht gefunden werden.

Die analytische Psychologie ist in der Öffentlichkeit ungefähr fünfundfünfzig Jahre bekannt. Psychoanalyse, analytische Therapie, Psychiatrie und so weiter, er-hielten mit dem Voranschreiten der frühen Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr Beachtung seitens der wissenschaftlichen und medizinischen Autoritä-ten. Es gab, wie es bei jeder Abwendung von gewohnten Ideen zu erwarten ist, am An-fang oft voreingenommenen und unwissenden Mißbrauch dieser Wissenschaften, aber bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war dieser größtenteils vorbei. Fälle von Nervenerschütterungen aus dem 1. Weltkrieg lenkten die Aufmerksamkeit der Mediziner auf die Tatsache, daß negative Gefühle der Angst und Sorge auf sonst ge-sunde Körper zerstörend wirken können. Andererseits wurde auch die Tatsache bewie-sen, daß viele physische Leiden, die auf physische Behandlung nicht reagieren, auf mentale Behandlung ansprechen.

Sigmund Freud, der große österreichische Begründer der Psychoanalyse, baute eine psychische Grundlage menschlicher Beweggründe und Verhaltensweisen auf, durch sorg-fältige Beobachtung der Symptome seiner Patienten und ihrer Heilung über eine Reihe von Jahren. Freud benützte den Terminus ”Libido”, um das zu benennen, was nach sei-der Ansicht den allgemeinen Antrieb zur Handlung darstellt, der allen Menschen gleich ist; dies stützte er auf den Geschlechtstrieb in einer seiner vielen Formen, aber spätere Forscher haben diese Grundlage erweitert. Freuds Erklärungen, die von der Allgemeinheit nicht genau verstanden wurden, lösten einen Sturm hysterischen Protests aus, der von der völlig mißverstandenen Annahme ausging, daß Dr. Freud mit ”Geschlechtstrieb” Unmoral meinte. Freuds Werk entstand, bevor die spätere Wissen-schaft offiziell den Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts ablegte, und so machte seine Theorie aus ”Energie” eine Funktion des Sexuellen anstatt das Sexuelle eine Funktion der ”universalen Energie” zu nennen.

Carl Jung und Alfred Adler, ursprünglich Freuds führende Schüler, ergänzten und änderten später die Theorien und Praktiken ihres Lehrers. Adler legte der ”Libido” den ”Willen-zu-Macht-und-Wachstum” zugrunde, und Jung betrachtete sie als eine Form kosmischer Energie. Jungs Theorie hielt sich mehr an die Erkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts, die im Grunde besagten, daß jede Form physischer und mentaler Existenz in Wirklichkeit in einer oder anderer Weise differenzierte universale E-nergie sei. Das Ideal, gröbere Energieformen zu verfeinern, sie zu veredeln und sie zum Guten anstatt zur Zerstörung zu nützen, ist ein wichtiges Ideal, das aus der Psychologie hervorging, und dieses Ideal ist es, das der Behauptung des Wissen-schaftlers, daß ”Wissenschaft im Mystizismus endet”, Gültigkeit verleiht. Die Wis-senschaft endet tatsächlich in einer Form von Mystizismus (wenn auch nicht in der höchsten), da das Individuum durch die ständige Verfeinerung seiner Energien und die Lösung aus den Schlingen der Wünsche und der sinnlichen Verwicklungen eine Art mystischer Kenntnisse erreichen kann. So viel wurde durch Tausende von Jahren in den Lehren der früheren Mystiker bestätigt.

Henri Bergson, der französische Philosoph, entwickelte die oben genannten Ideen seiner Lehre von der ”schöpferischen Evolution”, in welcher er einen Strom univer-salen Lebens andeutet (eine Art universaler ”Libido”), der sich ununterbrochen in viele Formen ergießt, mit der zugrundeliegenden kosmischen Absicht der schließli-chen vollkommenen Veredelung als Ziel. Dieser Gedanke kommt der Wissenschaft der Adepten der Mystik nahe, dadurch daß er eine spirituelle Befreiung (oder Verede-lung) als das Ende der physikalischen Evolution ansieht. Seit der Blütezeit solcher Denker wie Freud, Jung und Bergson, ist der extreme Materialismus als Philosophie verschwunden, obwohl es eine Zeit dauert, bis die Nachricht davon alle Bereiche menschlichen Denkens erreicht. Nur Vorurteile stehen jetzt noch einer allgemeinen Erkenntnis einer, dem Leben zugrundeliegenden spirituellen Wirklichkeit, im Weg, die sich selbst allumfassend auf drei Hauptebenen zum Ausdruck bringt:

  1. spirituell
  2. verstandesmäßig-gefühlsmäßig und
  3. physisch oder chemisch.

Menschliche Vorurteile verschwinden sehr langsam, und das Gewohnheitsdenken des vorprogrammierten, computer-ähnlichen menschlichen Verstandes stellt immer noch den größeren Teil mentaler Aktivität der Menschheit dar. Erworbene Interessen, aufge-baut um alte Gebräuche und Aberglauben, kämpfen bis zum letzten Blutstropfen, um ihre ”biblischen Wahrheiten” und Dogmen aufrechtzuerhalten, aber die Wahrheit wird sich im Bewußtsein des hochstrebenden Individuums, welches wissen m u ß, was die innere Wahrheit des Lebens ist, immer durchsetzen. Heute ist es möglich, als prak-tizierender und erfahrener Mystiker in der äußeren Welt zu leben. Und die höhere Psychologie der Adepten der Mystik zeigt, daß der mystische Weg mit aufrichtiger Seltstanalyse beginnt und weiterführt mit der zunehmenden Ausmerzung des wesenlosen Ballasts von Gemüt und Materie, bevor sich die Seele mit der Wirklichkeit des hei-ligen ”Shabd” verschmelzen kann. Von diesem Endpunkt aus ist die 5eele befreit und schwingt sich auf zu ihrer wahren Heimat. Es heißt, daß ein ”Sadh” durch fort-schreitende Selbstanalyse und Selbsterkenntnis geschaffen wird und daß ein ”Sant” durch Gotterkenntnis geschaffen wird.

Die Möglichkeit, die spirituelle Wahrheit einzig mit Sinneserkenntnissen zu ver-binden und höhere Erkenntnis auszuschließen, kann heute nicht länger akzeptiert werden. Tatsächlich sind viele Psychologen zu dem Schluß gekommen, daß unmittelbare Erkenntnisse der Seele letztlich schneller und genauer in ihrem Zugang zur Wahrheit sind, als Erkenntnisse der Sinne - eine Tatsache, die den Adepten der Mystik immer bekannt war. Der Verstand kann nur ein Brennpunkt für die Wahrheit sein, wenn er ein Diener der erleuchteten Seele ist. Der springende Punkt ist natürlich, daß die Verfeinerung der mentalen Kräfte zuerst stattfinden muß, und dies wird durch den Prozess des ”simran” erreicht. Die Adepten der Mystik haben stets gelehrt, daß Fortschritt in Richtung auf die Wahrheit erreicht wird, indem man lernt, das wirk-liche ”Selbst” nicht mit dem unbeständigen physischen Körper gleichzusetzen, oder mit der Wunsch-Natur oder dem Gemüt, sondern nur mit dem göttlichen Funken, welcher der ”atman” ist, das wahre Sein des Menschen.

Es war notwendig, einige der Grundfakten der modernen Psychologie aufzuzeigen, um zu demonstrieren, daß die höhere Psychologie der Satgurus vollkommen rational im westlichen Sinne ist. Wir können diesen Prozess, die Psychologie in den praktischen Mystizismus zu erweitern, als den ”Weg der Initiation” bezeichnen, den mystischen Weg, durch den der Strebende das ewige Leben in den Tiefen seines eigenen Seins findet, indem er sich in die Wasser des Lebens, den hörbaren Lebensstrom, vertieft und alles in seiner eigenen Natur austilgt, was unwahr und unbeständig ist. Der Yo-ga des Hörbaren Lebensstroms legt den Weg der Initiation allen wahrhaft strebenden Seelen dar, und die Psychologie der Adepten der Mystik ist der zeitlose Ausdruck der höchsten spirituellen Wissenschaft durch das innere Bewußtsein und endet mit der Methode der Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis. Die ”Satgurus” heben den spi-rituellen Pfad der selbstvergessenen Hingabe an Gott und Befolgung der spirituellen Vorschriften ausdrücklich hervor. In für Christen geläufigen Werten ausgedrückt: Jesus der Galiläer kam, um ”Sünder zu erretten”, das heißt, den Weg der Initiation zu öffnen für jene, die als Tiere betrachtet wurden, und ihnen ”ewiges Leben” zu geben. ”Alle, die an ihn glauben (an die ”Christuskraft” oder das Wort) werden nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben”, (das heißt, sie werden nach dem Tode nicht mit der unbeständigen Wunsch-Natur vergehen und im Rad der Geburten und Tode weitertreiben, sondern spirituell befreit werden in das volle Bewußtsein des Ewigen).

So hatte die Priesterschaft seiner Zeit Jesus töten lassen, weil er eine esote-rische Lehre, daß das ”Reich Gottes im Menschen” liegt, öffentlich verkündet hat. Beamte, die das Römische Reich vertraten, wurden eingeführt, um das wirkliche Recht zu verdrehen, entsprechend einer damals gepflegten Sitte, wenn jemand gerichtlich getötet werden mußte, um die Ruhe sicherzustellen. Die Nachfolger Jesus führten nach seiner Hinrichtung diese besondere Lehre fort, und als Folge davon wurde eine Verfolgungskampagne eingeleitet. Es wurde in späteren Jahrhunderten offensichtlich, daß viel von der ursprünglichen Weisheitslehre des Galiläers geändert und ”neu aus-gelegt” wurde durch mehr weltkluge, jedoch weniger spirituell bewegte Nachfolger des christlichen Meisters. In Wirklichkeit kann die Evangeliumsgeschichte des Le-bens Jesu weit mehr spirituellen Sinn und spirituelles Verstehen offenbaren, als die traditionelle Theologie aufzeigt. Von ihren buchstabengemäßen und geschichtli-chen Beschränkungen befreit, kann die Geschichte Jesu als eine geschriebene Illust-ration der kosmischen Tatsache spiritueller Evolution in strebenden Menschen gesehen werden. Dieser spirituell-psychologische Prozess der Selbsterkenntnis wird symbolisch durch die wichtigsten christlichen Feste vertreten:

  1. Die Geburt
  2. Die Taufe
  3. Die Verklärung
  4. Die Kreuzigung und Auferstehung
  5. Die Himmelfahrt

In Begriffen des ”Surat-Shabd Yoga” symbolisieren die ersten vier christlichen Feste die vier Stufen, die aufeinanderfolgen, beginnend mit der ”Umkehr” (Initiati-on) bis zur ”Erleuchtung” (Verwirklichung wahren spirituellen Bewußtseins). Das fünfte Fest, die Himmelfahrt, symbolisiert die vollkommene spirituelle Befreiung der Seele, durch die für den ”atman” ein Kreislauf des Überbewußtseins auf der fünften inneren Seinsebene beginnt, die weit über der normalen menschlichen Fas-sungskraft liegt.

Diese fünffache Folge im Leben Jesu, dargestellt in den fünf Festen des Chris-tentums, kann verglichen werden mit den Stationen der Seele bei ihrem spirituellen Aufstieg:

1. Die Geburt: Die erste Geburt der Seelen-Bewußtheit zur Zeit der Initiation durch den Adepten der Mystik.

2. Die Taufe: Die Reinigung der Seele in den Lebendigen Wassern von ”Shabd”, dem hörbaren Lebensstrom, dem ”Wort”.

5. Die Verklärung: Die völlige Lossagung vom niedrigeren Selbst und seiner Bin-dungen von Gemüt und Materie; das Wissen um die Identität des ”atman”.

4. Die Kreuzigung und Auferstehung: Das Sterben des niedrigen Selbst am ”Kreuz der Kausalität”, und das Erscheinen des strahlenden ”atman”, der nun den kau-salen Plan der Schöpfung durchquert hat.

5. Die Himmelfahrt: Das Aufsteigen des ”atman” nach ”Sach Khand”, der Wahren Heimat vollkommenen spirituellen Seins.

Wenn der Mensch wirklich bis zu seinem inneren Kern niedergebrannt ist durch Leiden oder andere Umstände, die ihn erkennen ließen, daß das weltliche Leben auf der Sinnesebene in seinem scheinbaren Glück bittere Stellen aufweist, und daß seine sogenannten Freuden und Hochgefühle alle die Samen von Schmerz und Sorge in sich tragen, beginnt er gewöhnlich danach zu streben, daß spirituelle Leben zu führen, denn im Augenblick, wo er damit anfängt, beginnt er etwas wirklich Befriedigendes zu finden. Wenn er den Pfad der höchsten spirituellen Wissenschaft einschlägt, durchquert er die vier oben geschilderten Stadien. Im mystischen Sinne des christ-lichen Evangeliums trifft er seine Wahl, Christus nachzufolgen auf dem Weg von Bethlehem nach Golgatha, in anderen Worten, er erreicht die ”Erkenntnis des Sohns Gottes und wird ein willkommener Mann, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi.” (Eph. 4,13)

Durch diese spirituellen Ebenen in ihrer Ganzheit zu reisen, würde notwendiger-weise viele physische Leben auf der Erde in Anspruch nehmen, denn sogar für den spirituellsten Menschen ist es schwierig, vom Leben der Unwissenheit auf der Sin-nesebene in das ”vollkommene Alter Christi” zu gelangen, obwohl das vielleicht für solche möglich ist, ”die an ihn glauben”, das heißt, vollkommen auf seinem Pfad nachfolgen. Jedoch die ”Satgurus” sagen, daß die höchste spirituelle Wissenschaft es dem Strebenden ermöglicht, dieses Ziel in einer Lebenszeit zu erreichen, wenn er die spirituellen Anweisungen und Gebote des lebenden ”Satguru” befolgt. Das erste Gebot für den Aspiranten heißt: ”Sei vollkommen, wie dein Vater im Himmel vollkom-men ist.”

Die Psychologie der Adepten der Mystik, die Lehre der ”Satgurus”, besagt, daß der Mensch im Grunde ”vollkommen ist, wie sein Vater im Himmel vollkommen ist”, denn die Seele ist der wirkliche Mensch, und die Seele ist ein Funken der unendli-chen Quelle, ein Tropfen aus dem Meer allen Seins. Und in der Seele, im spirituel-len ”atman” selbst, ist alle Bewußtheit. Nichts, das niedriger ist als die Seele, besteht und ist von endgültigem Wert, denn selbst der Verstand ist automatisch und mechanisch in seiner Tätigkeit. Wenn es nicht für den vorübergehenden Aufenthalt der Seele in den Welten der Kausalität erforderlich wäre, gäbe es keine Notwendig-keit für das Werkzeug des Körpers und des Verstandes. Wahrlich, wenn einer die hohe Wissenschaft der Adepten der Mystik geprüft hat, kann er die nachfolgenden Worte des Bischofs Clemens von Alexandrien mit voller Überzeugung zitieren:

”Wahrlich heilige Mysterien! Reines Licht! Im Licht der Fackeln fällt der Schleier, der Gottheit und Himmel bedeckt. Ich bin jetzt heilig und ich bin ein Initiierter.”

Kabir: die Hütte des Heiligen ist behaglich;
die Villa, die der üble Mensch besitzt, ist ein Schmelzofen.
Möge das Feuer auf diese stolzen Wohnungen einwirken,
wo der Name des heiligen Herrn nicht gehört wird!

Kabir

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