DIE BEGRÜNDUNG FÜR EINE KEUSCHE LEBENSWEISE II Wir, die
wir mit einer dem materiellen zugeneigten Natur aufgezogen worden sind, hatten
für gewöhnlich eine völlig falsche Auffassung vom Wesen der Keuschheit. Schon
seit einiger Zeit bringt man sie häufig mit Unterdrückung, religiösem
Fanatismus usw. in Verbindung; und all zu schnell wird die Ansicht verworfen,
daß sie sowohl eine Quelle großer Ruhe und Kraft (für die Seele als auch den
Körper) sei als auch eine ungeheure Freude in sich selbst. Diese falsch
verstandene Vorstellung hält als Rückwirkung jene in hohem Maße auf, die
„körperliche Reinheit“ kannten (oder möglicherweise nur predigten), aber
niemals versuchten, Kontrolle über ihr Gemüt zu erhalten. Alle Meister und
bedeutenden Menschen, die die Keuschheit nachdrücklich betonten, meinten etwas,
das weit über dem äußerlichen Verhalten liegt, wenn sie darüber sprachen. Im „Gurmat
Siddhant“ erklärt der große Meister die Keuschheit als: „... die
Reinheit der Gedanken, Worte und Taten. Das bedeutet nicht lediglich Kontrolle der
Geschlechtsorgane. Es schließt die
Kontrolle aller Sinnesorgane ein ... Diese Enthaltsamkeit läßt sich
nicht durch die Kontrolle des Körpers praktizieren. Daher
sollte sie beim Denken, Sprechen und Handeln befolgt werden.
Wenn jemand den Körper kontrolliert, aber an Sinnes- freuden
denkt, ist das nachteilig, da die Gedanken den Körper in diese
Richtung drängen ... Enthaltsamkeit bedeutet nicht, daß man nur
seine Begierde und sinnlichen Neigungen kontrol- liert.
Gemeint ist in der Tat, daß man sich von allen Wün- schen
der Sinne zurückzieht.“ Mit dem
Begreifen, daß Keuschheit mehr ist als gerade eine Kontrolle über den
physischen Körper, kann sie in der gleichen Weise verstanden werden wie die
„Reinheit“, von der Teilhard de Chardin in „Der göttliche Bereich“ spricht,
wenn er sagt, daß drei Dinge wesentlich sind, um einen zu „dieser unbegrenzten
Konzentration des Göttlichen in unserem Dasein“ zu ziehen: Reinheit, Glaube und
Treue. Bezüglich der Reinheit sagt er: „Reinheit im weiten Sinne
des Wortes ist nicht bloß Freisein von Sünden. (Das ist nur ihr negativer
Aspekt.) Reinheit bedeutet auch nicht
(körperliche) Keuschheit. Diese ist bloß ein spezieller Einzelfall von
Reinheit. Reinheit ist jene Geradlinigkeit und jener Schwung, die durch die
Liebe Gottes, wenn man Ihn in allem und über alles sucht, in unser Leben
hineingebracht werden. Ein Wesen ist geistig
unrein, wenn es im Genuß verweilt oder sich im Egoismus abschließt und damit
sowohl in sich wie um sich eine Kraft der Verlangsamung und Spaltung gegen die
Vereinigung des Universums in Gott erzeugen. Rein aber ist ein Wesen,
wenn es in Einklang mit seinem Platz in der Welt um Christi
Wunsch Sorge trägt, alle Dinge vorrangig vor dem eigenen unmmittelbaren Nutzen
zu vollenden. Immer reiner wird, wer, von
Gott angezogen, dahin gelangt, diesem Aufschwung, diesem Überschreiten immer
größere Beständigkeit, Eindringlichkeit und Wirklichkeit zu geben, mag er sich
infolge seiner Berufung stets in denselben materiellen Bezirken der Welt (wenn
auch auf immer geistigere Art) bewegen müssen, oder mag er, was häufiger
zutrifft, Bereiche betreten, wo das Göttliche für ihn allmählich die andere
irdische Nahrung ersetzt. So verstanden bemißt sich
die Reinheit der Wesen nach dem Grad der Anziehung, die sie
zum göttlichen Mittelpunkt hinführt, oder, was auf das gleiche hinauskommt,
danach, wie nahe sie diesem Mittelpunkt stehen.“ Der große däniche Philosoph Soren Kierkegaard schreibt, daß
„Reinheit des Herzens ist, eines zu wollen“ und fügt hinzu, daß „wer in
Wahrheit nur eines will, nur das Gute wollen kann“. Schließlich kehren wir zu Meister Kirpal Singh zurück, der sagt,
daß Reinheit ganz einfach „in der demütigen Haltung Gott gegenüber“ besteht,
die „frei ist von allen Sorgen und Ängsten der Welt.“ In der Hoffnung, daß diese wenigen Beispiele besser erklären, was
Keuschheit und Reinheit sind, laßt uns mit einem anderen Zitat des Meisters aus
der „Krone des Lebens“ fortfahren: „Er wird auch wissen, daß er
nicht dadurch über den Wunsch hinausgelangt, daß er ihn unterdrdückt, sondern
indem er ihm entsprechend begegnet und ihn überwindet. Für ihn ist ‘sanyasa’
nicht eine Sache äußeren Ausweichens oder Entkommens.“ Diesen Punkt der Unterdrückung sollten all jene besonders
aufmerksam beachten, die zu oft (physische) Keuschheit nur äußerlich
praktizieren und das auf Kosten ihrer „Reinheit“. Dieses Mißverständnis hat
viele veranlaßt, zu glauben, daß das Gemüt am besten durch sexuelle
Ungezwungenheit frei werden könne. Unterdrückung ist jedoch gleichbedeutend mit
diesen sinnlichen Gedanken, die von einem anderen Blickwinkel aus angreifen. Im
Dhammapada warnt in diesem Zusammhang Gautama Buddha, der selbst größten
Nachdruck darauf legte, Begierden und Wünsche zu überwinden: „Falsch
praktizierte Askese führt auf den abschüssigen Pfad.“ Und Lord Krishna
unterstützt dies in der Bhagavad Gita mit den Worten: „Anziehung und Abstoßung der
Sinnesobjekte liegen in den Sinnen begründet. Keiner möge unter die Kontrolle
dieser beiden geraten, sie sind die Feinde.“ Welcher Weg führt über
„Abstoßung und Anziehung“ hinaus? Wiederum haben wir von Krishna: „Die
Sinnesobjekte haben keine Macht über einen, der Enthaltsamkeit übt, nicht aber
die Neigung für sie. Selbst diese Neigung vergeht dem Menschen, wenn er in
steter Weisheit nur an den Höchsten denkt.“ Ferner sagt er: „Von allem, was ich benennen
kann, ist Liebe wahrhaft das Höchste; Liebe und Ergebung, die einen alles sonst
vergessen lassen; Liebe vereint den Liebenden mit Mir. Unaussprechliche Freude
findet er durch die Liebe zu mir, dem glückseligen Selbst! Alle irdischen Freuden
vergehen, wenn er diese Liebe erkennt.“ Ähnlich steht im Granth
Sahib geschrieben: O Satguru, als ich zu deinen
Füßen kam gelangten diese fünf seltsamen
Fremden unter meine Kontrolle. Er war erfreut, und ich
wurde mit seienr Gnade gesegnet, nun können si sich nicht
auflehnen oder ihre Köpfe erheben. Weiter heißt es: Die ganze Arbeit hat sich
aufgelöst, und der Hunger des Gemüts
ist gestillt. Was sonst kann ich von Dir
wünschen als Dich? Alles andere ist Elend über
Elend. Gewähre Naam, das allen
Érfüllung gibt und den Hunger des Gemüts
wegnimmt. Ich habe alles aufgegeben und bin ein wahrer Diener
des Herrn. In „Die schöpferische Intuition in Kunst und Dichtung“ legt
Jaques Maritain dar, daß die schöpferischen und höheren Antriebe im Menschen
nicht von einem instinktiven Drang herrühren, sondern aus einem transzendenten
oder geistigen Unterbewußtsein geboren weren: „Ich verfechte daher die Ansicht,
daß alles, was wir bei dieser Streitfrage erörtern, von der Anerkennung des
Bestehens eines geistigen Unbewußtseins oder vielmehr Vorherbewußtseins
abhängt, von dem Plato und die alten Weisen wohl wußten und dessen
Geringschätzung zugunsten des Freudschen Unterbewußtseins allein schon en
Zeichen des Stumpfsinns unserer Zeit ist. Es gibt zwei Arten von Unbewußtsein,
zwei große Bereiche psychologischer Aktivität, die verschleiert vor dem des
Bewußtseins liegen: das Vorbewußtsein des Geistes in seinen lebendigen Fasern
und das Unbewußtsein von Fleisch und Blut, von den Instinkten, Neigungen,
Komplexen, unterdrückten Vorstellungen und Wünschen, den traumatischen
Erinnerungen, und beide bilden eine geschlossene oder selbstständige dynamische
Gesamtheit. Ich möchte gerne die erste Art von Unbewußtsein als geistiges -
oder Plato zuliebe als musikalisches Unbewußtsein oder Vorbewußtsein
bezeichnen; und die zweite Art als automatisches oder taubes Unbewußtsein -
taub gegenüber dm Intellekt und außerhalb desselbsen in eine eigene Welt
gefügt; jede besondere Theorie beiseite lassend, könne wir auch ganz allgemein
von dem Freudschen Unbewußtsein sprechen. Diese beiden Arten unbewußten Lebens arbeiten gleichzeitig; ihre
besonderen Auswirkungen auf die Bewußtseinstätigkeit vermengen oder vermischen
sich im Einzelfall gewöhnlich in einem mehr oder weniger starken Ausmaß; und
ich denke, daß das geistige Unbewußtsein niemals - bis auf einige wenige Fälle
höchster geistiger Reinigung - ohne die andere Art des Unbewußtseins wirkt, mit
dem es nur zu einem geringen Grad vermischt ist. Im wesentlichen sind sie
getrennt und ihrer Natur nach vollständig verschieden.“ Einer zieht gen Himmel und
zur Erde der andere, einer lebt in der Seele,
einer in den Sinnen, seinen Bogen auf alles gerichtet,
was gering und niederträchtig ist. Aus der Feder des großen deutschen Dichters Johann Wolfgang von
Goethe stammt sehr ähnlich geschrieben: Zwei Seelen wohnen, ach! In
meiner Brust, die eine will sich von der
andern trennen; die eine hält, in derber
Liebeslust, sich an die Welt mit
klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam
sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen. In einem späteren Werk schreibt Goethe über das Aufgeben der
niederen Natur, um zu der höchsten zu gelangen: Im Grenzenlosen sich zu
finden, wird gern der einzelne
verschwinden, da löst sich aller Überdruß; statt heißem Wünschen,
wildem Wollen, statt lästgem Fordern,
strengem Sollen sich aufzugeben ist Genuß. In „Der Mensch - das unbekannte Wesen“ unterstützt Alexis Carrel die
Sache der Keuschheit von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus: „Alles geistige Ausdrucksvermögen beruht im Grunde offenbar auf
physiologischen Energien. Man hat festgestellt, daß einem bestimmten Ablauf von
Bewußtseinszuständen gewisse organische Veränderungen entsprechen. Umgekehrt
werden auch psychologische Erscheinungen durch organische Funktionsstadien
bestimmt. Das aus Körper und Bewußtsein bestehende Ganze ist vom Organischen
wie vom Geistigen her wandelbar. Beide Faktoren durchdringen sich im Menschen,
genau so wie Form und Marmor in einem Standbild: man kann die Form nicht
verändern, ohne zugleich den Marmor zu zerbrechen. Vom Gehirn muß man annehmen,
daß es den Sitz der psychologischen Funktionen darstellt, denn wenn es verletzt
wird, stellen sich alsbald tiefgehende Bewußtseinsstörungen ein. Vermutlich
sind die Gehirnzellen die Stelle, wo der Geist sich ins Stoffliche begibt.
Gehirn und Verstandeskraft zeigen beim Kind eine gleichzeitige Entwicklung, und
wenn beim alten Menschen die senile Gehirnatrophie stattfindet, nimmt auch sein
Verstand ab. Das Auftreten von Syphilis-Spirochäten unter den pyramidenförmigen
Gehirnzellen erzeugt Erscheinugenn von Größenwahn. Das Virus der Encephalitis
lethargica ruft durch seinen Angriff auf die Gehirnsubstanz schwere
Schädigungen des Persönlichkeitsgefühls hervor. Vorübergehend erleiden die
geistigen Energien auch Veränderungen, wenn vom Blut Alkohol aus dem Magen zu
den Nervenzellen getragen wird. Sinkt infolge einer Blutung der Blutdruck, so
erlahmen alle Bewußtseinsäußerungen. Kurz gesagt: Die Beobachtung lehrt, daß
das geistige Leben vom Zustand des Gehirns abhängig ist. Dadurch ist jedoch noch keineswegs hinlänglich bewiesen, daß das
Gehirn etwa allein das Organ des Bewußtseins wäre. Man darf nicht vergessen,
daß die Nervenzentren ja nicht ausschließlich aus Nervensubstanz bestehen. Sie
bestehen auch aus Flüssigkeiten, in welche die Zellen gebadet sind und deren
Zusammensetzung durch das Blutserum reguliert wird. Das Blutserum nun enthält
die Drüsen- und Gewebeabsonderungen, die sich durch den ganzen Körper
verteilen. Durch die Mittlerschaft von Blut und Lymphe ist jedes Organ in der
Hirnrinde gegenwärtig; darum hängen unsere Bewußtseinszustände eng mit der
chemischen Beschaffenheit der Gehirnsäfte zusammen, ebenso wie mit dem
strukturellen Zustand der Zellen. Fehlen etwa im organischen Medium die Sekrete
der Nebenniere, so verfällt der Patient in tiefe Depression: er wird fast wie
ein Kaltblütler. Funktionelle Störungen der Schilddrüse führen zu nervösen und
geistigen Erregungs- und Erlahmungszuständen. In Familien, in denen
Schädigungen dieser Drüse erblich sind, findet man moralisch Minderwertige,
Schwachsinnige und Verbrecher. Jedermann weiß, wie der ganze Mensch durch
Erkrankungen der Leber, des Magens, des Darms in Mitleidenschaft gezogen wird.
Offenbar geben die Organe an die Körpersäfte gewisse Substanzen ab, die auf
unsere geistig-seelischen Funktionen weiterwirken. Mehr als alle anderen Drüsen haben die Hoden großen Einfluß auf
die Stärke und Beschaffenheit der geistigen Anlagen. Eine Entfernung der
Geschlechtsdrüsen ruft, auch beim erwachsenen Menschen noch, gewisse
Veränderungen des geistigen Zustands hervor ... Offenbar hat die Inspiration
mit einem gewissen Zustand der Geschlechtsdrüsen engen Zusammenhang; und Liebe,
die ihr Ziel nicht erreicht, befruchtet den Geist. Wäre Beatrice Dantes
Geliebte geworden, so gäbe es vielleicht keine Göttliche Komödie. Die großen
Mystiker haben sich oft der Ausdrucksweise des Hohnliedes bedient; wie es scheint,
haben ihre unerfüllten geschlechtlichen Begierden sie mit nur noch größerer
Gewalt auf den Weg des Verzichts und völligen Opfers getrieben. Eine
Arbeiterfrau kann ihren Mann Tag für Tag in Anspruch nehmen; die Frau eines
Künstlers oder Philosophen hat dazu nicht das Recht. Wie man weiß, hemmen
geschlechtliche Exzesse die Äußerungen der Verstandeskraft. Um auf seiner
vollen Höhe zu sein, bedarf der geistige Apparat also offenbar gutentwickelter
Geschlechtsdrüsen und daneben einer zeitweisen Unterdrückung des sexuellen
Bedürfnisses. Freud hat ganz richtig betont, von welch hervorragender Bedeutung
die Sexualimpulse für die Bewußtseinsenergien sind; nur beziehen sich seine
Beobachtungen hauptsächlich auf kranke Menschen. Deshalb sollten seine Schlüsse
nicht verallgemeinert und auf normale Personen ausgedehnt werden, am wenigsen
auf solche, die ein starkes Nervensystem und eine gefestigte Selbstbeherrschung
besitzen. Wohl werden die Schwachen, Nervösen und Haltlosen in ihrer
Krankhaftigkeit noch gesteigert, wenn ihre geschlechtlichen Begierden
unterdrückt werden; die Starken aber werden stärker davon, wenn sie eine solche
Art der Askese üben.“ So mache sich denn auf und
folge ihr ins Innere, wers vermag, und lasse das mit Augen Gesehene draußen und
drehe sich nicht um nach der Pracht der Leiber wie einst. Denn wenn man
Schönheit an Leibern erblickt, so darf man ja nicht sich ihr nähern, man muß
erkennen, daß sie nur Abbild, Abdruck, Schatten ist, und fliehen zu jenem, von
dem sie das Abbild ist ... „So laßt uns fliehen in die geliebte Heimat“ -
so könnte man mit mehr Recht mahnen ... So meißle auch du fort, was unnütz, und
richte, was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und laß nicht ab, an
deinem Bild zu handwerken, bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der
Tugend, bis du die Zucht erblickest, thronend auf ihrem heilig-reinen
Postament. Bist du das geworden aund hast des erschaut, bist du rein und nichts
hemmt dich auf diesem Wege, eins zu weren, und keine fremde Beimischung hast du
mehr in deinem Innern, sondern bist ganz und gar reines, wahres Licht. Man muß
nämlich das Sehende dem Gesehenen verwandt und ähnlich machen, wenn man sich
auf die Schau richtet; kein Auge könnte je die Sonne sehen, wäre es nicht
sonnenhaft; so sieht auch keine Seele das Schöne, welche nicht schön geworden
ist. Es werde also einer zuerst ganz gottähnlich und ganz schön, wer Gott und
das Schöne schauen will. Plotin |