STROPHE 1

 

                        Man kann ihn nicht durch den Verstand erfassen,

                        denkt man auch ewig darüber nach.

                        Man kann durch äußeres Schweigen nicht inneren Frieden

                        finden, und bliebe man für immer stumm.

                        Nicht mit allem Reichtum der Welt läßt sich Zufriedenheit

                        erkaufen, noch kann man ihn durch alle geistige

                        Findigkeit erreichen.

                        Wie kann man die Wahrheit erkennen und die Wolken

                        des Falschen durchbrechen?

                        Es gibt einen Weg, o Nanak! Seinen Willen zu dem unseren

                        zu machen, Seinen Willen, der bereits in unser Dasein

                        eingewirkt ist.

 

Hukam oder der Wille selbst ist etwas, das man nicht mit Worten schildern kann. Er spricht jeder Beschreibung Hohn. Den göttlichen Willen kann man nur verstehen, wenn er der Seele direkt enthüllt wird. In der Absicht, diesen Gedanken verständlich zu machen, erklärt der Meister das mannigfaltige Wirken, das durch seinen Willen gelenkt wird. Er weist auf den Prüfstein hin, mittels welchem man jene erkennen kann, die mit Seinem Willen eins geworden sind. Das Erkennen des göttlichen Willens bedeutet die Vernichtung des Ego.

 

STROPHE 2

 

                        Alle Dinge sind Offenbarungen Seines Willens,

                        doch Seinen Willen kann man nicht beschreiben.

                        Durch Seinen Willen wird Materie zum Leben erweckt;

                        durch Seinen Willen wird Größe erlangt;

                        durch Seinen Willen werden diese hoch

                        und jene niedrig geboren;

                        durch Seinen Willen ist des Menschen Freud und Leid

                        bestimmt; 1)

                        durch Seinen Willen erlangt der Fromme Erlösung;

                        und durch Seinen Willen unterliegen die Gottlosen

                        fortwährender Seelenwanderung.

                        Alles besteht durch Seinen Willen,

                        und nichts ist außerhalb davon.

                        Wer mit Seinem Willen in Einklang ist, o Nanak,

                        ist gänzlich vom Ego befreit.

 

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1) Dies bezieht sich auf das karmische Gesetz von Ursache und Wirkung. Unsere Freuden und Leiden sind alle vorherbestimmt, da sie die Folge unserer früheren Handlungen sind. Wie man sät, so ernte man, ist eine allgemeine Redewendung. Guru Nanak sagt: „Die dahingleitende Feder Seines Willens bewegt sich entsprechend unseren Taten.“

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Als ein großer Lehrer nimmt Nanak die Verwirrung, die sich im Herzen mancher „Sucher“ durch das Studium der verschiedenen Schriften ergeben mag, vorweg. Diese sagen über den Willen Gottes nicht immer dasselbe aus; doch braucht man darum nicht zu zweifeln und skeptisch zu sein, denn das, was sie tatsächlich beschreiben, ist nicht Gottes Wille (der als solcher unbeschreibbar ist), vielmehr sein mannigfaltiges Wirken und seine Offenbarungen. Gottes Wille durchdringt und lenkt Seine Schöpfung; aber er ist etwas mehr, etwas, das in sich selbst und über und jenseits der Schöpfung besteht.

 

 

STROPHE 3

                        Manche besingen Seine Größe, doch nur nach dem

                        Ausmaß an Kraft, das ihnen verliehen wurde;

                        manche besingen Seine Gaben und nehmen sie als

                        Zeichen von ihm;

                        manche besingen Ihn als den Unbegreiflichen;

                        manche besingen ihn als den, der Staub zu Leben

                        und Leben zu Staub verwandelt: als den

                        Schöpfer und Zerstörer, der das Leben gibt

                        und es wieder nimmt.

                        Manche singen von ihm als dem Nächsten und doch

                        den am weitest Entfernten.

                        Es gibt keine Grenze, wenn man Ihn

                        beschreiben will.

                        Unzählige haben versucht, von ihm ein Bild zu geben;

                        aber dennoch steht er über jeder Schilderung.

                        Die von Ihm empfangen, mögen müde werden,

                        aber Er in Seiner Großmut ist unermüdlich;

                        seit Ewigkeiten hat der Mensch davon gelebt.

                        Sein Wille lenkt die Welt,

                        und dennoch, o Nanak, weilt Er jenseits von

                        Sorg`und Müh`.

 

Gottes Wille ist nicht zu beschreiben, und so erhebt sich die Frage: Wie können wir eins mit ihm werden? Guru Nanak entgegnet: Das Beste, was wir tun können, ist, zur frühen Morgendämmerung zu meditieren und uns mit Seinem heiligen Wort zu verbinden. Unser Tun und Streben zählt zweifellos, wir erlangen ja dadurch unsere Geburt als Menschen - aber, fährt Guru Nanak fort, wir können dadurch noch nicht die Erlösung erlangen; denn sie muß als Sein Gnadengeschenk kommen. Guru Nanak wendet sich im Jap Ji immer wieder diesem Paradox zu, daß die Erlösung nur durch Seine Gnade möglich ist, doch daß es unserer Anstrengung bedarf, um sie zu erlangen.

 

STROPHE 4

                        Wahr ist der Herr, und wahr Sein heiliges Wort.

                        Seine Liebe wurde als unendlich beschrieben.

                        Die Menschen bitten um Seine Gaben, die Er unermüdlich

                        gewährt.

                        Wenn alles Sein ist,

                        was können wir Ihm dann zu Füßen legen?

                        Was können wir sagen, um Seine Liebe zu gewinnen?

                        Zur ambrosischen Stunde der frühen Dämmerung

                        verbinde dich mit dem göttlichen Wort

                        und meditiere über Seine Herrlichkeit.

                        Unsere Geburt ist die Frucht unserer Werke;

                        doch Erlösung kommt nur durch Seine Gnade.

                        O Nanak, wisse, daß der wahre Eine allem innewohnt.

 

Die Verbindung mit dem heiligen Naam - dem göttlichen Wort - zusammen mit der Meditation über Seine Herrlichkeit ist das „Sesam-öffne-Dich“ für die Verwirklichung des Einen Wesens. Das Wort ist die Substanz und die Kraft, durch welche alles Leben geschaffen ist. Die heilige Verbindung mit ihren zauberhaften Melodien ist ein Geschenk, das nur durch einen lebenden Meister erlangt werden kann. In Seiner Gemeinschaft führt man ein Leben heiliger Inspiration und Liebe zu Gott, und das innere Auge wird geöffnet, um Gottes Gegenwart in allen Dingen zu sehen. Guru Nanak hat in seinem Prolog bereits darauf hingewiesen und fährt nun fort, die Größe und Bedeutung einer solchen Seele zu beschreiben. Ein wahrer Meister ist nicht nur ein menschliches Wesen, sondern eines, das eins geworden ist mit Gott und das die Kräfte aller Götter und Göttinnen in sich birgt. Er ist wahrhaftig das Wort, das Fleisch und Blut geworden ist. Die einzige Lektion, die ein solcher Meister den Schüler gibt, ist, immer über Gott, den Schöpfer von allem, zu meditieren und ihn niemals zu vergessen.

 

STROPHE 5

                        Er kann nicht erzeugt und nicht geschaffen werden;

                        der Formlose Eine ist grenzenlos vollendet in sich selbst.

                        Jene, die Ihn anbeten, werden geehrt.

                        Nanak rühmt immer das Schatzhaus aller Tugenden.

                        Laßt uns Ihm singen und mit dem Wort Verbindung halten,

                        voll liebender Hingabe im Herzen;

                        denn dann werden alle Sorgen enden, und wir werden

                        freudvoll heimwärts geleitet.

                        Der Meister1) ist die Ewige Musik

                        oder das personifizierte Wort;

                        er ist die Veden und alle Schriften2),

                        er ist vom Göttlichen durchsättigt.

                        Er ist Siva3), er ist Vishnu3) und er ist Brahma3)

                        und ihre Gefährtinnen Parvati4), Lakshmi4)

                        und Saraswati4) dazu.

                        Die Größe des Meisters kann, selbst wenn man sie kennt,

                        nicht mit irdischer Beredsamkeit geschildert werden.

                        Mein Meister lehrte mich das eine:

                        Er ist der Herr von allem, Ihn kann ich niemals vergessen.

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1) Das im Original gebrauchte Wort heißt „Gurmukh“, was zugleich „das Sprachrohr Gottes“ bedeutet und „der Meister“, der seine Schüler auf Gottes Pfad führt.

2) Der Meister besitzt das „Wissen der Gottheit“, auf dem alle Schriften fußen.

3) Der Meister zeigt alle Attribute der Gottheiten, welche die Hindu-Trinität darstellen: Brahma, Vishnu und Siva, die Symbole des Prinzips der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung. Wie Brahma, der die Veden deutet, göttliches Wissen vermittelt und dadurch seinen Schülern eine neue Geburt, die Geburt aus dem Geist gibt; wie Vishnu, der sie vor allem Schaden bewahrt und beschützt, und wie Siva, der alle üblen Neigungen in ihnen zerstört.

4) Gleicherweise sind die Göttinnen Parvati, Lakshmi und Saraswati Symbole der Hingabe, des Reichtums und der Gelehrsamkeit. Er ist das Urbild all dieser Tugenden.

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In dieser Strophe entwickelt Guru Nanak ein Paradox, daß in Strophe 4 berührt wurde, noch ausführlicher. Man kann durch Beachten bestimmter äußerlicher Handlungen nicht die Vereinigung mit Gott erlangen - zum Beispiel durch das Lesen der Schriften, das Aufsagen von Gebeten, durch Wallfahrten, Schweigen, Fasten und Nachtwachen, oder durch Ausüben von Riten und Ritualen; dies alles bildet nur einen Teil von Apara Vidya, das den Boden bereitet, um Interesse für das höhere Leben zu erzeugen und Hingabe zu entwickeln. Man mag den besten Gebrauch davon machen; aber die äußeren Werke können nicht zur Erlösung führen. Sie sind, für sich genommen, bedeutungslos. Worauf es ankommt, das ist Sein Gnadenblick. Hat man ihn erlangt, dann ist man wahrlich gesegnet. Und dennoch, wenn auch die Erlösung allein von Gottes Liebe abhängt, so laßt uns nicht träge sein. Ein müßiges Leben kann zu nichts führen; denn Gott hilft jenigen, die sich selbst helfen. Ohne Zweifel wird Erlösung durch Gnade erlangt, aber dieser Gnade muß man sich erst wert machen. Der einzige Weg, es dahin zu bringen, ist, dem Pfad zu folgen, der durch einen wahren Meister gelehrt wird. Indem wir uns des göttlichen Plans bewußt werden, machen wir Seinen Willen zu den unseren.

 

STROPHE 6

                        Wenn ich nur Ihm gefalle, ist´s der Pilgerfahrt genug;

                        wenn nicht, sind weder Riten noch Mühen von Nutzen.

                        Wohin ich auch immer schaue, sehe ich, daß in seiner

                        Schöpfung keiner ohne Seine Gnade die Erlösung fand -

                        ungeachtet aller Karmas1).

                        Du kannst in dir ungeahnten spirituellen Reichtum

                        entdecken, wenn du nur den Lehren deines Meisters folgst.

                        Mein Meister lehrte mich das eine:

                        Er ist der Herr von allem, möge ich

                        Ihn niemals vergessen.

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1) Karma: Handlungen. Dieser Begriff bezieht sich im indischen Denken auf eine sehr komplizierte Hindu-Lehre. Sie hebt die Überzeugung hervor, daß unsere gegenwärtigen Handlungen unsere Zukunft bestimmen, und daß nicht nur in diesem Leben, sondern auch im künftigen. Es gibt keinen Zufall. Der Mensch handelt, infolge einer Kettenreaktion von Ursache und Wirkung. Obgleich spirituelle Erlösung nicht ohne Gnade möglich ist, sagt Guru Nanak, daß wir uns diese Gnade dennoch durch unsere Karmas oder Handlungen in diesem oder den vorangegangenen Leben verdienen mußten.

2) Meister: Dieser Begriff findet sich oft im Jap Ji und wird häufig in den Sikh-Schriften gebraucht. Er bezeichnet einen spirituellen Lehrer; und immer, wenn Nanak ihn anwendet, meint er damit nicht irgendeinen, der sich zum spirituellen Führer aufgestellt hat, vielmehr einen, der auf der spirituellen Reise die höchste Ebene erreicht hat und nicht mehr vom Allmächtigen getrennt ist, sondern zu Seinem Sprachrohr wurde.

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Durch gewisse Yoga-Übungen kann man sein Leben verlängern und übermenschliche und übernatürliche Kräfte erlangen. Aber, sagt Guru Nanak, sie bringen nicht notwendigerweise die Gunst Gottes ein, ohne die alles nichtig ist. Tatsächlich erklärt Guru Nanak in einer späteren Strophe XXIX, daß solche übernatürlichen Kräfte meist Hindernisse auf dem Weg zur völligen Gottverwirklichung sind.


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