STROPHE 7


                        Wenn einer sein Leben über vier Zeitalter1) ausdehnen,

                        nein, es sogar auf das zehnfache verlängern könnte;

                        wenn einer durch alle neun Schöpfungsebenen hindurch

                        bekannt wäre und jedermann dort ihm mit Achtung

                        begegnete;

                        wenn jede Kreatur ihn bis in den Himmel rühmte -

                        das alles und noch mehr ist ohne Wert, wenn Gottes Auge

                        nicht wohlgefällig auf ihm ruht;

                        ohne Seine Gunst wird er als der geringste Wurm

                        unter den Würmern betrachtet,

                        und die Sünder werden ihn der Sünden beschuldigen.

                        O Nanak, Er verleiht jenen Tugenden, die keine haben,

                        und vermehrt sie bei den Tugendhaften.

                        Aber es geht nichts, das man Ihm verleihen könnte.

 

Nach kurzem Abschweifen (in Strophe 7) kommt die Sprache wieder auf die Geheimnisse der Spiritualität. Es ist bereits gesagt, daß Einssein mit Gott nur dann möglich wird, wenn wir Seinen Willen zu dem unseren machen, und dies wiederum durch die Verbindung mit dem Wort, dessen Geheimnis von einem lebenden Meister enthüllt wird. Nun erklärt er die Frucht einer solchen Verbindung. Man erhebt sich über das Körperbewußtsein und gelangt zum Kosmischen Bewußtsein. Man wird ein wirklicher Heiliger, und das Mysterium der Schöpfung ist enthüllt.

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1) Hier bezieht sich Nanak auf die alte Hindu-Lehre von den vier Yugas oder Zeitzyklen, die der westlichen Anschauung vom Goldenen, Silbernen, Kupfernen und Eisernen Zeitalter gleichkommt. Nanak gebraucht häufig diese Begriffe und Lehren der alten Hindu-Überlieferung, aber er bezieht sich auf sie nicht im Geiste wissenschaftlicher Wahrheit, sondern vielfach als göttlicher Dichter, der Andeutung und Mythologie gebraucht, um seine Sache durchzuführen.

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Kabir sagt dasselbe:

 

                        Wenn du dich ins Jenseits erhebst,

                        hörst du eine ganz feine Stimme.

                        Diese Stimme kann nur

                        ein „Brahm-Gyan“ vernehmen.

 

Diese innere Stimme, die man in Augenblicken tiefer Meditation hört, darf nicht mit der Stimme des Gewissens verwechselt werden, was häufig vorkommt. Unser gewissen ist nichts mehr als die Summe unserer früheren Handlungen und ein Urteil über unsere jetzigen. Als solches ist es von Mensch zu Mensch verschieden. Hingegen ist die innere Stimme der wahren Meditation etwas Universales, etwas, das sich nicht ändert, sondern für alle gleich ist.

Die nächsten drei Strophen (9, 10 und  11) behandeln die Frage, welche Frucht die Verbindung mit dem Wort bringt, durch welche alles mögliche erreicht werden kann, sei es materiell, intellektuell oder spirituell, und die letzten Endes zur Gottheit führt.

 

STROPHE 8

                        Durch die Verbindung mit dem Wort kann man

                        ein Siddha1), ein Pir2), ein Sura3) oder ein Nath4) werden.

                        Durch die Verbindung mit dem Wort kann man die

                        Mysterien der Erde, des tragenden Bullen5)

                        und der Himmel verstehen.

                        Durch die Verbindung mit dem Wort werden die

                        irdischen Regionen, die himmlischen Ebenen

                        und die niederen Welten enthüllt.

                        Durch die Verbindung mit dem Wort können

                        wir unversehrt durch die Pforten

                        des Todes entkommen.

                        O Nanak! Seine Ergebenen leben in ständiger

                        Verzückung, denn das Wort wäscht alle

                        Sünden und Sorgen fort.

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1) Siddha: eine Mensch, der mit übernatürlichen Kräften begabt ist.

2) Pir: ein Moslem-Heiliger oder spiritueller Lehrer.

3) Sura: Gottheit.

4) Nath: Yogi - ein Adept in Yoga.

5) Dhaul: ein erdichteter Bulle, der angeblich Himmel und Erde trägt.

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STROPHE 9

                        Durch die Verbindung mit dem Wort kann man die Kräfte

                        von Siva, Brahma und Indra erlangen;

                        durch die Verbindung mit dem Wort kann man die

                        Achtung aller gewinnen, ungeachtet seiner Vergangenheit;

                        durch die Verbindung mit dem Wort kann man die Einsicht

                        eines Yogi in die enthüllten Geheimnisse des Lebens

                        und des Selbst gewinnen;

                        durch die Verbindung mit dem Wort kann man den wahren

                        Sinn der Shastras1), Smritis2) und der Veden3) erkennen.

                        O Nanak! Seine Ergebenen leben in ständiger Verzückung,

                        denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

 

Strophe 10

                        Durch die Verbindung mit dem Wort wird man zur

                        Wohnstatt von Wahrheit, Zufriedenheit und wirklichem

                        Wissen;

                        durch die Verbindung mit dem Wort erwirbt man die

                        Früchte des Badens an den achtundsechzig Pilgerorten4);

                        durch die Verbindung mit dem Wort erlangt man die

                        Achtung der Gelehrten;

                        durch die Verbindung mit dem Wort erlangt man Sahaj5).

                        O Nanak! Seine Ergebenen leben in ständiger Verzückung,

                        denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

 

STROPHE 11

                        Durch die Verbindung mit dem Wort wird man zur

                        Wohnstatt aller Tugenden;

                        durch die Verbindung mit dem Wort wird man ein Sheikh,

                        ein Pir und ein wahrer König der Spiritualität;

                        durch die Verbindung mit dem Wort finden die spirituell

                        Blinden ihren Weg zur Verwirklichung;

                        durch die Verbindung mit dem Wort durchquert man das

                        grenzenlose Meer der täuschenden Materie.

                        O Nanak! Seine Ergebenen leben in ständiger Verzückung,

                        denn das Wort wäscht alle Sünden und Sorgen fort.

 

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1) Shastras: philosophische Abhandlung der Hindus.

2) Smritis: die alten Hindu-Schriften.

3) Veden: die ersten Bücher des menschlichen Denkens.

4) Ath-Sath: hier bezieht sich Nanak auf den Hinduglauben, wonach ein Bad an achtundsechzig (die buchstäbliche Bedeutung) Pilgerorten, Reinigung von allem sündhaften Tun bringt.

5) Sahaj: dieses Wort bezieht sich auf den Zustand, in dem die Wirren der physischen, astralen und kausalen Welt mitsamt ihrem zauberhaften Panorama überschritten sind und das große Lebensprinzip im Innern geschaut wird.

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In den vorangegangenen vier Strophen suchte Nanak die Früchte der Verbindung mit dem Wort zu beschreiben und fährt nunmehr fort, über den Zustand desjenigen zu sprechen, der seinen Willen auf den göttlichen Willen abgestimmt hat, was nicht zu schildern ist, da Sein Wille jenseits aller Beschreibung steht. Was als kontrollierende Kraft in dieser Welt vorgestellt wird, kann als der Wille Gottes verstanden werden. Gott selbst ist formlos, doch Er nahm Gestalt an und wurde das Wort oder Naam. Durch dieses Wort kamen die verschiedenen Schöpfungsebenen, eine nach der anderen, ins Dasein. Wer die Praxis des Wortes übt, d.h. seine Seele vom Körper zurückzieht und sie durch die Kraft der göttlichen Musik des Wortes emporheben läßt, kann von einer spirituellen Ebene zur anderen fortschreiten, bis er die Quelle erreicht und eins mit ihr wird. Sowie er seine Reise fortsetzt, weitet sich auch sein mentaler und spiritueller Gesichtskreis. Seine Seele wird von den früheren Sünden und den bindenden karmischen Ketten befreit. Auf diese Weise überschreitet sie das Leiden und entrinnt dem Rad der Seelenwanderung. Hat man einmal wahre Erlösung erlangt, kann man auch anderen auf dem Pfad helfen. Wirklich groß ist die Macht des Wortes, aber unglücklicherweise gibt es nur wenige, die sie kennen. Das alles wird in den Strophen 12 bis 15 behandelt.

 

STROPHE 12

                        Keiner kann den Zustand desjenigen beschreiben,

                        der Gottes Willen zu seinen eigenen gemacht hat.

                        Wer immer versucht, es zu tun, muß seine Torheit erkennen.

                        Keine Menge an Papier, Federn oder Schreibkunst

                        kann je den Zustand eines solchen Menschen schildern.

                        O, groß ist die Macht des Wortes, aber wenige gibt es,

                        die das wissen.


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