STROPHE 31


                        Er wohnt in allen Ebenen der Schöpfung und

                        birgt in ihnen Seine großzügigen Gaben, die

                        nur einmal hineingegeben wurden

                        und keiner Ergänzung bedürfen.

                        Was immer wir empfangen,

                        empfangen wir auf Sein Geheiß.

                        Er allein hat Seine Schöpfung geschaffen.

                        Und Er wacht über sie.

                        O Nanak! Die Werke des Wahren Einen sind wahr1),

                        Heil, Heil Ihm allein,

                        dem Ersten, Reinen, Ewigen, Unsterblichen

                        und allezeit Unveränderlichen.

 

Aber die Verbindung mit Naam wird durch die irdischen Wünsche, die unsere Herzen bewegen, behindert; sie führen uns von der subjektiven Wahrheit weg in die äußere Welt. Wie kann man diese Wünsche überwinden, ist die Frage. Nanak prägt uns ein, daß das Mittel im Simran oder dem beständigen Denken an Gott liegt. Andere Heilige und Weise haben dasselbe gesagt. Über Simran wurde bereits in der Einführung ausführlich gesprochen.

 

Es sind zwei Kräfte im Menschen am Werk: Die Pranas oder motorischen und die spirituellen oder sensorischen Strömungen. Viele Yogis haben in ihrem Forschen nach dem Höchsten versucht, diese beiden Ströme zurückzuziehen. Aber die Meister (unter ihnen Guru Nanak) haben gelehrt, daß es unnötig sei, die Pranas unter Kontrolle zu bringen. Man kann die sensorischen Ströme, ohne daß man die Pranas berührt, durch Simran zurückziehen und durch Konzentration der Aufmerksamkeit hinter den Augen am Sitz der Seele. Wenn man einmal alle Sinnesströme an dieser Stelle zurückgezogen hat (der Körper setzt normalerweise seine Funktionen der Atmung, Verdauung, Kreislauf etc. fort), kann die Seele auf dem spirituellen Pfad weitergehen. Dies ist ein leichter und natürlicher Weg.

 

Der Meister sagt:

 

                        „ O Nanak, lerne den Lebensstrom zurückzuziehen

                        solange du lebst; lerne einen solchen Yoga zu üben.“

 

Und nochmals:

                        „Lerne zu sterben, damit du zu leben

                        beginnen kannst.“

                                                                                                          Dadu Ji

 

Eben hierauf bezieht sich Nanak in dieser Strophe, wenn er auch nicht im einzelnen darauf eingeht, wie er es an anderer Stelle in seinen Lehren getan hat. Und noch einmal sagt er, daß es, um Erlösung durch Naam zu erlangen, nicht nur der Bemühung, sondern auch Seiner Gnade und Seines Willens bedarf.

 

STROPHE 32

 

                        Möge eine Zunge sich in hunderttausende vermehren,

                        nein, selbst zwanzig mal mehr,

                        und jede von ihnen endlos Seinen heiligen Namen preisen.

                        Auf diesem Weg liegen die Stufen, die zu Gott1) führen,

                        und wenn man sie emporsteigt, wird man eins mit Ihm.

                        Wenn sie vom Himmel hören, trachten selbst

                        die Würmer danach, ihn zu erreichen,

                        ohne zu wissen, daß Erlösung nur durch Seine Gnade2)

                        kommt:

                        Und jene, die etwas anderes sagen,

                        sind eitle Schwätzer und Lügner.

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1) Ekis: Der im Original gebrauchte Begriff ist Ekis oder Ek-Ish. Ek bedeutet „eins“ und Ish heißt „Gott“ d.h. Einssein mit Gott oder Vereinigung mit Gott.

2) Auch hier betont Nanak, daß es zur Erlösung nicht nur unserer Anstrengung bedarf, sondern auch Seiner Gnade und Seines Willens.

 

Indem er den Gedanken an die Notwendigkeit Seiner Gnade und Seines Willens für die Erlösung des Menschen weiter verfolgt, bemerkt Nanak, daß auch in anderen Dingen - in der Tat in allen - Sein Wille das Höchste ist.

 

STROPHE 33

 

                        Du hast die Kraft zu sprechen oder stille zu sein,

                        keine Kraft zu verlangen oder zu geben.

                        Du hast nicht die Macht über Leben und Tod,

                        keine Macht über Reichtum und Stand,

                        wofür du immer rastlos bist.

                        Du hast keine Macht über spirituelles Erwachen,

                        keine Kraft, die Wahrheit zu erkennen

                        oder deine eigene Erlösung zu erlangen.

                        Möge der, welcher die Kraft zu haben glaubt,

                        es versuchen.

                        O Nanak! Keiner ist hoch oder niedrig,

                        außer durch Seinen Willen.

 

Von hier ab beginnt der letzte Teil des Jap Ji. Nanak gibt darin einen flüchtigen Überblick über die verschiedenen spirituellen Bereiche, welche die Seele auf ihrer Heimwärtsreise zu durchqueren hat.

 

 

 

Es sind fünf an der Zahl:

 

                        1) Dharm Khand oder der Bereich des Handelns;

                        2) Gyan Khand oder der Bereich des Wissens;

                        3) Sarm Khand oder der Bereich der Verzückung;

                        4) Karm Khand oder der Bereich der Gnade;

                        5) Sach Khand oder der Bereich der Wahrheit.

 

Der erste ist der Bereich von Dharm, den die Seele gänzlich verwirklichen muß, ehe sie sich zur nächsthöheren spirituellen Ebene, die darüber liegt, erheben kann. Es ist die Stufe, auf der sich die verkörperten Seelen völlig bewußt machen müssen, daß Er ist es, der die Erscheinungen der Welt mit all ihren unveränderlichen Gesetzen, durch die sie alle gebunden sind, geschaffen hat. Keiner kann dem Gesetz von Ursache und Wirkung entgehen. Was der Mensch sät, das muß er ernten. Niemand ist außerhalb Seines Bereiches. Die Taten des Menschen gehen nach dem Tode mit ihm und werden auf der Waage der göttlichen Gerechtigkeit gewogen. Diejenigen, die gefehlt haben, werden gemäß ihren Handlungen wieder zurückgeschickt. Das einzige, das in Seinem Reich annehmbar ist, ist die „Verbindung und Praxis mit dem göttlichen Wort“. Jene, welche daran festhalten, werden geehrt.

 

STROPHE 34

                        Als Er den Tag und die Nacht, die Monate und

                        die Jahreszeiten,

                        das Feuer, den Wind, das Wasser und die niederen

                        Regionen schuf,

                        begründete Er inmitten all dessen die Erde

                        als Dharm Khand oder die Arena des Handelns.

                        Und Er bevölkerte sie mit

                        Geschöpfen vieler Farben und Formen;

                        Geschöpfe, deren Menge nicht zu zählen ist.

                        Alle werden nach ihren Taten beurteilt;

                        denn wahr ist der Herr und makellos Sein Gesetz.

                        Jene, die Ihm wohlgefällig sind,

                        werden geehrt in Seinem Reich,

                        und es ist nur durch Seine Gnade,

                        daß man diese Auszeichnung erfährt.

                        Die Unvollkommenen werden dort1) vollkommen.

                        O Nanak! Es ist dort, wo sich dieses Mysterium enthüllt.

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1) Die letzten zwei Zeilen - „Kach pakai uthe pa-aya, Nanak gia japey ja-aya“- wurden von verschiedenen Übersetzern stets so ausgelegt, als ob dort die Wahren und die Falschen erkannt würden und nicht länger zu täuschen vermögen. Aber das scheint an dieser Stelle nicht gemeint zu sein; denn offenbar wird die Tatsache übersehen, daß die Zeilen nach dem Hinweis auf jene folgen, die bei Gott angesehen sind; und der bildliche Ausdruck „roh und reif“ eher Unreife und Reife bezeichnet als Falschheit und Wahrheit.

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In dieser Strophe beschreibt Nanak die ungeheure Ausdehnung des Gesichtskreises der Seele, wenn sie Gyan Khand oder die Ebene des Wissens, erlangt. Hier sieht der Ergebene die vielfältige Natur mit all den geschaffenen Dingen. Auf dieser Ebenen nimmt er die bezaubernden Weisen des wohlklingenden Gesangs auf, der in der ganzen Schöpfung widerhallt. Er empfindet eine überwältigende Freude, da er die Natur mit ihren unveränderlichen Gesetzen begreift und ihre Unendlichkeit an Formen und Erscheinungen, an mannigfaltigen Schöpfungen und vielfältigen Segnungen wahrnimmt.

 

 

STROPHE 35

                        Soviel vom Bereich des Dharma.

                        Und nun zu Gyan Khand, dem Bereich des Wissens:

                        Zahllos sind seine Elemente, Luft, Wasser und Feuer;

                        und zahllos die Krishnas und Sivas;

                        zahllos die Brahmas, welche die vielen Schöpfungen

                        mit unzähligen Formen und Farbtönen gestalten.

                        Zahllos die Handlungsbereiche1),

                        zahllos die goldenen Berge2)

                        und zahllos die Dhrus3), die darin meditieren.

                        Zahllos die Indras, zahllos die Sonnen und Monde,

                        und zahllos die irdischen Regionen und die der Sterne.

                        Zahllos die Siddhas, die Buddhas, die Naths, und

                        zahllos die Götter und Göttinnen.

                        Zahllos die Danus4) und die Weisen, und

                        zahllos die mit Juwelen besetzten Meere.

                        Zahllos die Quellen der Schöpfung, zahllos die

                        Harmonien und zahllos jene, die ihnen lauschen.

                        Zahllos sind die dem Wort Ergebenen.

                        Endlos und unendlich, o Nanak, ist dieser Bereich.

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1) Karm Bhumi: Ort, an dem man mit einem freien Willen ausgestattet ist und die Früchte seiner eigenen Taten erntet. Diese Welt wird Karm Bhumi genannt, denn hier herrscht das Prinzip von Ursache und Wirkung.

2) Sumer: Die goldenen Berge, die von den Ergebenen in dieser spirituellen Ebene geschaut werden.

3) Dhru: Ein Heiliger, dessen unentwegte Meditation sprichwörtlich ist.

4) Danus: Halbgötter.

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Von der Beschreibung Gyan Khands oder dem Bereich des Wissens, geht Nanak weiter zu Sarn Khand oder dem Bereich der Verzückung. Hier ist alles bezaubernd schön und von wunderbarer Seltenheit, so daß man es nicht mit Worten zu schildern vermag. Es ist hier, wo die Seele durch die Kraft des Wortes vergeistigt wird und einen Einblick in die wirkliche Natur der Dinge erhält.

 

STROPHE 36

 

                        Göttliche Erkenntnis erleuchtet alles im Bereich

                        des Wissens, während himmlische Symphonien

                        unendliche Musik ertönen lassen,

                        und Freude und Wonne alles überragt.

                        Als nächstes kommt der Bereich der Verzückung,

                        in dem das Wort bezaubert.

                        Alles dort geschaffenen ist von wunderbarer Seltenheit

                        und jenseits aller Beschreibung.

                        Wer immer ihn zu schildern sucht,

                        hat seine Torheit zu beklagen.

                        Hier werden Gemüt, Vernunft und Verstand vergeistigt,

                        das Selbst kommt zu sich und durchdringt

                        in seiner Entfaltung die Götter und Weisen.

 Im Bereich der Gnade erhebt sich der Mensch über die schwindenden Reize der Erscheinungswelt. Er sieht die ganze Natur ergeben zu Gottes Füßen und Ihm zu Diensten. Sein Wort reinigt die Seele von den Sünden und erweckt die schlummernden Kräfte in ihr. Nicht länger verdunkelt die Materie die innere Schau. Er sieht, daß der Herr alles durchdringt und wird sich Seiner nunmehr völlig bewußt. Man steht hier dem Wort in seiner reinen Substanz gegenüber. Er erkennt nun sich selbst und seine wahre Herkunft, denn er sieht sich wesenseins mit Gott.

 

Zuletzt erreicht die Pilgerseele Sach Khand oder die Wohnstatt der Wahrheit. Hier kommt das vollständige Einssein zustande und sie sieht, wie alle Universen nach Seinen Willen in ergebener Ehrfurcht und Verehrung wirken. Selbst der Gedanke an eine solche Schau ist segensreich; doch die Vision selbst ist der Art, daß sie kein Auge je gesehen hat. Das Herz kann sie nicht erfassen und die Zunge kann sie nicht beschreiben.

 

STROPHE 37

                        Höher noch steht Karm Khand, der Bereich der Gnade.

                        Hier ist das Wort alles in allem, und nichts

                        anderes gilt.

                        Hier weilen die Tapfersten der Tapferen,

                        die Besieger des Gemüts, von göttlicher Liebe erfüllt.

                        Hier weilen die Ergebenen voller Hingabe,

                        unvergleichlich wie die Sitas1).

                        Erleuchtet von unaussprechlicher Schönheit,

                        ihre Herzen ganz von Gott erfüllt, leben sie

                        jenseits vom Reich des Todes und der Täuschung2).

                        Hier weilen die  Bhagats oder die Weisen

                        aus allen Regionen,

                        die sich in dem Wahren Einen erfreuen

                        und für ewig glücklich sind.

                        Sach Khand, oder der Bereich der Wahrheit ist der Sitz

                        des Formlosen Einen.

                        Hier bewirkt Er alle Schöpfung und

                        erfreut sich des Erschaffens.

                        Hier gibt es viele Regionen, himmlische Systeme

                        und Universen,

                        die zu zählen ein Zählen von Unzählbarem wäre.

                        Aus dem Formlosen heraus nehmen hier

                        die himmlischen Ebenen und alles andere Gestalt an;

                        alles ist dazu bestimmt,

                        sich nach Seinem Willen zu bewegen.

                        Wer mit dieser Schau gesegnet ist, erfreut sich

                        ihrer Betrachtung.

                        Aber, o Nanak, der Versuch, diese Schönheit zu beschreiben,

                        hieße, ein Unmögliches3) zu versuchen.

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1) Sita: Gemahlin Ramas, die für ihre große Ergebenheit bekannt war.

2) Das Wort „Täuschung“ bezieht sich hier auf die Täuschung durch Maya oder die Materie.

3) Karara Sar: bedeutet wörtlich „hart wie Eisen“, bildlich „unmöglich“.

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Bevor Nanak nun endet, läßt er uns die Eigenschaften wissen, die für einen Ergebenen erforderlich sind, damit er auf dem spirituellen Pfad Erfolg haben kann. Es sind sechs an der Zahl.

 

Die erste von ihnen ist Reinheit in Gedanken, Worten und Taten. Sie ist das erste Erfordernis, damit das höhere Leben aufdämmern kann und die Grundlage, auf  welche der spirituelle Oberbau zu errichten ist. Auch Christus sagte: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ Reinheit ist wahrhaftig der Schlüssel, der das Tor der Meditation aufschließt und zur Wohnstatt des Herrn führt.

 

Als zweites muß man Geduld entwickeln, was einem befähigt, alles, was sich auch ereignen mag, heiter zu ertragen.

 

Zum dritten muß man seine Gedanken unter Kontrolle halten und von allen Wünschen ablassen, um Gleichgewicht des Gemüts zu sichern.

 

Viertens die stetig tägliche Praxis des Wortes und die Verbindung mit ihm in vollem Glauben an den Meister.

 

Fünftens sollte man in demütiger Ehrfurcht vor Seiner Gegenwart leben und sich unermüdlicher Anstrengung anspornen, um die schließliche Vereinigung mit Ihm zu erlangen.

 

Vor allem anderen muß man Ihn lieben mit einer Stärke, die alle Unreinheiten verbrennt und den Weg zu Seiner Tür hin erleuchtet.

 

STROPHE 38

 

                        Mache die Reinheit1) zu deinem Schmelzofen

                        und Geduld zu deiner Schmiede;

                        mache des Meisters Wort zu deinem Amboß

                        und wahres Wissen zu deinem Hammer.

                        Mache Ehrfurcht vor Gott zu deinem Blasebalg

                        und entzünde damit das Feuer der Härte;

                        und im Schmelztiegel der Liebe schmelze

                        den göttlichen Nektar.

                        Nur in einer solchen Prägung kann der Mensch

                        eins werden mit dem Wort.

                        Doch diejenigen allein, die in Seiner Gunst stehen,

                        können diesen Pfad beschreiten.

                        O Nanak, auf wen Er voller Gnade schaut,

                        den erfüllt Er mit ewigen Frieden.

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1) Die Reinheit bezieht sich hier nicht allein auf die physische Sauberkeit, sondern noch mehr auf die geistige mit makellosen Gedanken, Worten und Taten.

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