Selbstprüfung und Entwicklung zum wahren Menschen
Es gibt grundsätzlich zwei Phasen, durch die der
ringende Schüler gehen muß, bevor er sich über das Körperbewußtsein erheben
kann und anfängt, an den spirituellen Übungen Gefallen zu finden, um so auf dem
Pfad der Spiritualität entschlossen voranzuschreiten. Im ersten Stadium weiß
der Schüler wenig oder nichts von der Selbstprüfung und befindet sich in einem
Zustand abgrundtiefer Unwissenheit. Auf der zweiten Stufe beginnt der Schüler,
sich bewußt zu werden, daß er unzählige Fehler und Mängel hat. Diese müssen
beseitigt werden, bevor er darauf hoffen kann, sich über das Körperbewußtsein
zu erheben – auf die Stufe, wo dieser Pfad tatsächlich erst beginnt. Dieses zweite Stadium, das für die meisten einen
langwierigen Kampf mit den niederen Eigenschaften des Gemüts bedeutet, ist als
„Entwicklung zum wahren Menschen” bekannt. Spiritualität oder das Sich –
Erheben von den niederen Ebenen des Seins zu den höheren Bereichen der
unaussprechlichen Glückseligkeit und Harmonie ist nicht schwierig. Es ist die
„Entwicklung zum wahren Menschen”, die schwierig ist. Für dieses zweite Stadium
gibt es keine besondere zeitliche Begrenzung. Alles hängt davon ab, wie
bereitwillig der Schüler ist, selbstdiszipliniert zu sein, den Geboten des
Meisters zu folgen und Liebe zu Ihm zu entwickeln. Als letztes Hindernis muß das sich –
selbstbehauptende Ego besiegt werden. Das kann nicht geschehen, solange die
Seele nicht beginnt, zu sich selbst zu kommen und einen Schimmer ihrer wahren Natur
erhält. Dann entwickelt der Schüler in sich eine natürliche Demut. Denkt aber
daran: Demut ist nicht mit einer unterwürfigen Haltung zu verwechseln.
Wirkliche Demut hat Kraft und ist dennoch nicht anmaßend. Obwohl die gnädige Meisterkraft dem Schüler immer
zur Seite steht, um ihm in seinem Kampf zu helfen, muß der Schüler durch dieses
Stadium doch selbst hindurch. Niemand sonst kann es für ihn tun. Ihr seid auf
den Pfad gestellt worden und habt ein Startkapital erhalten, das immer noch in
euch liegt: Eine Saat wurde in euch gelegt, die eines Tages sicherlich Frucht
tragen wird, und in Seiner feinstofflichen Form von Licht und Ton ist der
Meister als ständiger Begleiter bei euch. Ebenso ist Er fähig, sich in Seiner
bezaubernden strahlenden Form zu offenbaren, sobald ihr gelernt habt, euch über
das Körperbewußtsein zu erheben. Es ist nicht vernünftig zu erwarten, in die
höheren Ebenen zu gelangen, ohne sich vorher in hohem Maß zu vervollkommnen. So
wie es beim weltlichen Studium nicht außergewöhnlich ist, zwanzig Jahre oder
mehr aufzuwenden, um die notwendigen Fähigkeiten für eine Karriere zu erwerben,
so muß der Schüler erst recht mehr Zeit und Mühe einsetzen, um ein geeignetes
Gefäß zu werden, das die Wahrheit Gottes und die seiner eigenen Seele widerspiegeln
kann. Manche haben eine sehr seltsame Vorstellung: Sie erwarten Selbst- und
Gottverwirklichung in nur kurzer Zeit und mit wenig Mühe. Dieselben Leute aber
sind bereit, Jahre härtester Mühen auf sich zu nehmen für den Topf voll Essen,
der bereits alles ist, was diese Welt
zu bieten hat. In keiner anderen Form als der menschlichen kann
eine Seele Gott verwirklichen. Selbst Götter und Göttinnen verlangen danach,
die menschliche Form zu erhalten. Das zeigt, daß die menschliche Form wegen
ihrer großen spirituellen Möglichkeiten die höchste in der ganzen Schöpfung
ist. Ich möchte nochmals die Wichtigkeit der
Selbstprüfung betonen, für die das Führen des Tagebuches vorgeschrieben ist.
Äußerste Wachsamkeit und eine sorgsame Lebensweise sind als hilfreiche Faktoren
für den inneren Fortschritt wesentlich. Man sollte ein diszipliniertes Leben
dadurch anstreben, daß man über die Sinne – die dem Gemüt Nahrung geben,
welches wiederum die Seele beherrscht – völlige Kontrolle erreicht. Licht und Ton, die inneren göttlichen Bindeglieder,
sind äußerst hilfreich dabei. Wenn ihr diesen göttlichen Prinzipien folgt, wird
sich der innere Wandel des Lebens wie von selbst ergeben. Die Wahrheit steht
über allem, aber höher noch ist die wahre Lebensweise. Nehmt eine rechtschaffene Lebensweise an und seid
genügsam. Ihr mögt bestimmte Wünsche haben, aber haltet ein, vermehrt sie
nicht. Betrachtet die Wünsche von neuem und überlegt, wohin sie euch bringen
werden. Was liegt vor euch und was werdet ihr mit euch nehmen? Wir hetzen und
jagen durchs Leben und sind uns die meiste Zeit nicht einmal bewußt, was wir
tun. Deshalb rät uns der Meister, all unsere Angelegenheiten ruhig und gelassen
zu handhaben. Wenn jemand auf irgendeinem Gebiet menschlicher Tätigkeit ein
bestimmtes Ziel erreichen möchte, ist es wichtig, daß er von Zeit zu Zeit
Bilanz zieht, um zu sehen, wie weit er fortgeschritten ist. Nur durch eine
solche Bestandsaufnahme kann man sich seiner Fehler und Schwächen bewußt
werden, sie für immer beseitigen und den weiteren Fortschritt planen. Wenn ihr Seinen Anweisungen folgt und nach dem lebt,
was Er sagt, wird euch alles zur rechten Zeit gegeben werden. Jeden Tag werden
euch Aufgaben gestellt, die dazu bestimmt sind, euren spirituellen Fortschritt
zu fördern. Leider warten die meisten Menschen auf eine spezielle Anweisung
durch den Meister selbst, bevor sie etwas als Aufgabe von Ihm ansehen. Sie
erkennen nicht, daß ihr tägliches Verhalten, ihr Umgang mit anderen Menschen
bei ihrer Arbeit, die Verantwortung in ihren anderen weltlichen Pflichten und
wie gut sie sie erfüllen, alles Aufgaben sind, die vom Meister gegeben wurden.
Wenn ihr eure Reaktionen auf Situationen aus eurem täglichen Leben genau
beobachtet, werdet ihr feststellen können, wie weit ihr spirituell fortgeschritten
seid. Das ist der wichtigste Teil der Spiritualität, was den Schüler betrifft.
Er muß zuerst seine Lektion bei der „Entwicklung zum wahren Menschen” bewältigt
haben, bevor ihm höhere Aufgaben übertragen werden können. Jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat – ob gut oder
böse – hinterläßt einen unauslöschlichen Eindruck im Gemüt und man muß dafür
bezahlen. Deshalb sind rechte Gedanken, rechtes Bestreben und rechte
Lebensführung notwendig, denn sie bilden gemeinsam eine schützende Hecke um die
zarte, junge Pflanze der Spiritualität. Wie entsteht ein Wunsch? Alle Vorstellungen im Gemüt
sind Wünsche. Seid also wunschlos! Ihr werdet vielleicht schon bemerkt haben,
daß Ärger aufsteigt, wenn ein Hindernis die Erfüllung eures Wunsches blockiert.
Dann erhebt sich der Stolz: „Ich muß das haben oder jenes tun, sonst leidet
mein Ansehen in den Augen der anderen.” Man kann Stolz als die Basis aller
Sünden betrachten, denn er wandelt sich in Ichheit (Ego). Der Meister rät uns,
Eigensinn und Halsstarrigkeit loszulassen. Achtet immer darauf, auch die
Meinung des anderen anzuhören – vielleicht stellt ihr dann fest, daß es richtig
ist, was er sagt. Eigensinn bindet einen Menschen nur noch mehr, es ist dann
alles sehr engherzig. Dogmatisches Bücherwissen zum Beispiel, es mag richtig
sein oder falsch, sollte abgelegt werden. Es braucht nicht erwähnt zu werden,
daß man sich von Verhaftungen befreien sollte. Beendet das Geben und Nehmen,
denn ihr müßt den Körper und alles, was damit zusammenhängt, zurücklassen. Wenn
ein Hindernis zwischen euch und euren Wunsch kommt, wird der Wunsch noch
stärker. Legt einen großen Felsblock mitten in einen schnell
strömenden Fluß, und ihr werdet dadurch zwei Dinge bewirken: Schaum und Lärm.
Wenn ein Mensch wütend ist, kann er nicht ruhig sprechen, und am Ende hat er
auch noch Schaum vor dem Mund. Wenn ihr aber das bekommt, was ihr euch wünscht,
wird daraus eine Bindung. Für all das gibt es nur ein Heilmittel: Nur nachdem
ihr euer wahres Selbst gesehen habt, könnt ihr den Herrn erkennen. Die Millionäre
werden ihre Millionen zurücklassen; die in Lehmhütten leben, werden ihre
Lehmhütten hinter sich lassen. Ihr habt diesen Körper nicht mitgebracht, und
ihr werdet ihn auch nicht mitnehmen, wenn ihr zurückkehrt. Doch eure Handlungen
werden mit euch gehen. Was ist noch notwendig, um mit dem Herrn wieder
vereint zu werden? ‘Sadachar’ (rechte Lebensweise) ist sehr wesentlich. Das
Gemüt, das durch die schlechten Einflüsse von außen Amok läuft, muß zur Ruhe
gebracht werden. Nur dann ist wirklich ein Fortschritt möglich. Unser größtes
Hindernis ist, daß die Seele unter der Kontrolle des Gemüts ist und das Gemüt
wiederum unter der Kontrolle der Sinne. Die Befreiung aus dieser Bindung wird
durch eine rechte Lebensweise beschleunigt. Wir nehmen durch die Augen, die
Ohren, die Zunge, den Geruchssinn und über die Haut die Eindrücke von außen
auf; wir müssen daher Selbstbeherrschung lernen. Nur ein solcher Mensch kann
durch Regelmäßigkeit und durch Selbstprüfung von Tag zu Tag fortschreiten. Das
ist äußerst wichtig. Eure eigene Aufmerksamkeit (‘Surat’), die der Ausdruck der
Seele ist, macht es euch unmöglich, im Inneren zu sehen, wenn sie im Äußeren
tätig ist. Was entwickelt sich alles durch rechtes Verstehen?
Rechtes Denken und darüber hinaus rechte Worte, und dem werden rechte
Handlungen folgen. Wenn ihr das könnt – wenn ihr euer Ego überwinden und es zu
Füßen des Meisters hingeben könnt, wenn ihr lernen könnt, Ihn durch alle Dinge
wirken zu sehen, wenn ihr die Tatsache akzeptieren könnt, daß eure eigene
Sichtweise begrenzt ist und ihr in der Lage seid, beständig und ganz aufmerksam
eure Worte und Taten zu beobachten und alles Schlechte und Unvollkommene zu
beseitigen, dann werdet nicht nur ihr selbst die Erlösung erlangen, sondern
auch andere fähig machen, dasselbe zu tun. Euer Beispiel wird wie eine Fackel
in der Dunkelheit leuchten, und die Menschen werden sich um Rat und Hilfe an
euch wenden – selbst die, die vorher gegen euch waren. Ihr werdet ein
ungekanntes Gefühl des Friedens erleben, das euch durchströmt. Ein Friede, der
nicht davon abhängig ist, daß ihr im Äußeren von Schwierigkeiten frei seid,
sondern der einen inneren Zustand darstellt, in dem ihr selbst in den
stürmischsten Situationen nicht zu erschüttern seid. Diese Eigenschaft wird
nicht nur in euer individuelles Leben eintreten, sondern in das Leben der
großen spirituellen Bewegung, von der ihr ein Teil seid. |