1. Kapitel

Was ist der Guru?

 

Es ist viel, daß der Mensch Gott gleich geschaffen ward, daß aber Gott dem Menschen gleichen sollte, ist viel mehr...

 

Gott selbst kleidete sich in des gemeinen Menschen Fleisch, um schwach genug zu sein, Leid zu erdulden.

                                                                                                        John Donne

 

Es ist nahezu unmöglich, den Meister zu erkennen und seine Größe zu verstehen. Uns fehlen die Augen, mit denen wir seine Wirklichkeit schauen können. Nur ein Prophet kann einen Propheten erkennen. Wir als verkörperte Seelen, die auf der Sinnesebene leben, können ihn einfach nicht erfassen.

 

                            Was du bist, wissen wir nicht;

                            was ist dir am ähnlichsten?

 

Und weiter:

 

                            Wie kann das Geringere das Größere begreifen, wie

                            der begrenzte Verstand die Unendlichkeit erreichen?

                            Denn wer Gott ergründen würde, wäre mehr als er.

                                                                           John Dryden

 

Im Jap Ji (dem täglichen Morgengebet der Sikhs) wird gesagt:

 

                            Wer seine Höhe erreicht, der allein kann ihn schauen.

 

Eine Meisterseele kann mit einer Lerche verglichen werden, von der es heißt:

 

                            Ätherischer Sänger, Pilger des Himmels!

 

Wer sich so hoch wie die Lerche erheben und ihrem Flug folgen kann, mag etwas von dem ätherischen Pilger wissen, doch die armen Krähen und Tauben können es nicht. Der Meister ist jedoch kein Pilger des Himmels, sondern ein Bewohner des höchsten spirituellen Reiches, und er kommt herab, und das „ätherische Lied“ zu singen und uns mitzunehmen zu seiner himmlischen Wohnstatt. Während er auf Erden weilt, ist er:

 

                            Das Urbild der Weisen, die sich erheben,

                            doch niemals umherziehen;

                            den verwandten Orten des Himmels

                            und der Heimat treu.

 

Es steht weit über den Begrenzungen der drei Körper (des physischen, astralen und kausalen); der drei angeborenen, natürlichen und ursprünglichen Neigungen oder Instinkte (Satva, Rajas und Tamas, d. h. des rechtschaffenen und weltlichen Handelns sowie der Trägheit oder Untätigkeit und der aus Unwissenheit und Finsternis geborenen Handlungen); der fünf Elemente, aus denen die ganze Schöpfung besteht (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther); der fünfundzwanzig Prakritis (feinstoffliche Formen verschiedenen Grades, aus denen die Elemente zusammengesetzt sind); wie auch des Gemüts und der Materie. Shamas-i-Tabrez sagt daher von ihm:

 

                            Er ist eine Lerche, die ein goldenes Ei legt –

 

Ein Ei, das wie reines Gold glänzt, womit das Licht von Naam oder dem Wort gemeint ist, das jedem einzelnen bei der Initiation gegeben wird.

 

                            Jeden Morgen erhebt er sich in die hohen Himmel.

                            Seine Bahn erstreckt sich über alle Sonnensysteme;

                            und wenn er zur Ruhe geht,

                            sind Sonne und Morgen sein Lager.

 

In anderer Worten: wenn er nicht mit weltlichen Dingen zu tun habt, begibt er sich in höheren Regionen zur Ruhe.

 

O Shamas-i-Tabrez, nur durch einen einzigen gütigen

Blick kann er Tausenden, die völlig blind sind, das

Augenlicht geben (d. h. sie zu Sehern und Propheten

machen)!

 

Solche Meisterseelen sind in der tat eins mit Gott, kommen aber auf sein Geheiß in die materielle Welt, um seinen göttlichen Plan zu erfüllen. Aus Barmherzigkeit hat Gott für die Heimkehr der weltmüden, hungernden und dürstenden Seelen, die nach der Wiedervereinigung mit dem Geliebten verlangen, Vorsorge zu treffen.

Da nur der Mensch Lehrer des Menschen sein kann, muß Gott seinen Erwählten mit dem direkten Auftrag senden, jene, die auf die Botschaft Gottes hören, zurückzuführen. Er ist der Mittler für diesen Zweck.

Von der Spitze des Berges aus kann er sozusagen die glimmenden Feuer der Liebe in den einzelnen Herzen ausfindig machen, und gleich einem großen, mächtigen Magneten oder Leitstern zieht er alle Seelen, die in seinen Einflußbereich kommen, an, um durch persönliche Unterweisung und Führung die göttlichen Mission zu erfüllen.

Jede Seele nimmt soviel spirituelle Gnade auf, wie es ihrer Empfänglichkeit entspricht. Je mehr sie diese Empfänglichkeit entwickelt, desto mehr Gnade und spirituellen Nutzen erfährt sie. Mit unermeßlichem spirituellem Reichtum ausgestattet, gibt er davon großzügig allen, die sich danach sehnen. Jeder erhält nach seinem Bedarf und Aufnahmevermögen, und allmählich entwickelt sich die in ihn gelegte Saat.

 

Sheikh Moin-du-din Christi sagt:

 

                            Sie (die Meisterseelen) leben in der Welt, aber ihr

                            Geist ist immer in den hohen Himmeln. Obgleich in

                            den Banden des Körpers gefangen, schwebt ihr Geist

                            weit darüber.

 

Auch Maulana Rumi sagt:

 

                            Beurteile einen GottMenschen nie von der Ebene des

                            Menschen aus; denn er ist viel mehr, als er zu sein

                            Scheint.

 

Ihre Erscheinung nach sind alle Menschen gleich, obwohl sie sich hinsichtlich der inneren Entwicklung voneinander unterscheiden. Es ist der Hintergrund, der jedem einzelnen auf dem spirituellen Pfad hilft und die Reichweite jedes seiner Schritte bestimmt. Demgemäß ist auch der Zeitfaktor bei jedem ein anderer.

In der menschlichen Form kann ein Meister nicht richtig verstanden werden. Er ist ein grenzenloses Meer von Sat oder die Wahrheit – von Anbeginn der Schöpfung und durch alle Zeitalter hindurch ewig derselbe. Wie es unmöglich ist, die Größe Gottes zu ermessen, können wir auch seinen Erwählten nicht begreifen.

 

Ein persischer Heiliger sagt:

 

                            Er steht über allem Begreifen, allem

                            Fassungsvermögen, aller Vorstellungskraft und selbst

                            den Mutmaßungen. Er übersteigt die Fähigkeiten des

Sehens, Hörens und Verstehens. Man mag ein ganzes

Leben lang zu seinem Ruhm singen und wird ihm doch

in keiner Weise gerecht.

 

Wieder heißt es:

 

                            Selbst wenn alle Berge zu Tintenpulver zerstoßen und

                            mit den Wassern der Meere vermischt würden und die

                            ganze Erde eine einzige Fläche Papier wäre, könnte

                            man die Größe eines Guru oder Meisters nicht

                            beschreiben.

 

Er ist der König der Spiritualität, und wir, die wir uns wie Insekten im Morast der Welt bewegen, können ihn und seine Größe nicht erkennen.

Maulana Rumi läßt uns wissen:

 

                            Auch wenn ich seine zahllosen Wohltaten in alle

Ewigkeit preisen wollte, könnte ich dennoch kaum

etwas über sie sagen.

 

Was immer wir über ihn vorbringen, kommt notgedrungen von der Ebene des Verstandes, der eine sehr engbegrenzte Reichweite hat. Alle unsere Bemühungen in dieser Richtung gereichen ihm eher zur Unehre als zur Ehre.

Guru Arjan erklärt darum:

 

                            Du bist ein König, ich aber nenne dich nur einen

                            „Älteren“; weit davon entfernt, dir irgendeine Ehre zu

                            erweisen, bringe ich dich in Mißkredit.

 

Der höchste und feinsinnigste Verstand, der ihn zu beschreiben versucht, ist wie ein kleines Kind, das vor seiner Mutter steht und sagt: „O Liebste, ich kenne dich!“ Wieviel kann es von ihr wissen, wenn es doch nicht einmal von sich selbst etwas weiß. Seine lieben, unbeholfenen Worte können die tiefe mütterliche Liebe und Zuneigung, die sie in ihrem Herzen hegt, nicht erfassen. Ebensowenig sind wir in der Lage, den Meister zu rühmen, da wir in der Begrenztheit unseres Verstandes ihn, der jenseits aller Schranken und Begrenzungen ist, nicht erkennen können.

Wir sind wirklich gesegnet; denn Meisterseelen, wie und wann immer sie erscheinen, erzählen uns bisweilen von sich selbst. Durch diese seltenen Äußerungen können wir etwas von ihrer Größe und der verborgenen Kraft erfahren, die durch sie wirkt.

Bei unzähligen kleinen Gelegenheiten tun sie uns in Gleichnissen und auf andere Weise kund, was sie sind, welches ihre Mission ist, woher sie kommen und wie sie den Plan Gottes ausführen.

Es wäre ratsam für uns, zu ihnen zu gehen und zu hören, was sie über sich selbst sagen.

 

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