Der vollendete Meister Unsere spirituellen Kräfte sind durch die groben
Hüllen von Gemüt und Maya so umnebelt und ver- borgen, daß wir Shabd, obwohl seine Musik ewig in
und uns her ertönt, nicht hören und seine Glorie nicht sehen können. Nanak sae ankhriyan bae-an jini disindo mapiri. Die Augen, mit denen mein Geliebter zu sehen
ist,
sind anders. Rag Wandhans
577 Wie können diese Fesseln gesprengt werden? Wie kann
der Mensch die Verbindung mit seinem Schöpfer wiederbeleben? Babaji erklärt,
daß man dafür unbedingt die Hilfe eines kompetenten Meisters braucht:
Dhur Khasmae ka hukam paya
Vin Satguru chaitya na jai. Dies
ist der Wille des Herrn-
nur durch einen lebenden Satguru
kann man ihn erkennen.
Var Bihagra 556 Ohne die belebende Berührung mit ihm kann die Seele
nicht aus ihrem Schlummer erwachen und mit Naam in Einklang kommen. Die Jiva
Atman ist zu sehr in der grobstofflichen Materie verirrt, als daß er sich aus
eigener Kraft mit Shabd verbinden könnte. Außerdem ist der innere Weg nicht
leicht; selbst wenn sich die Seele über das Körperbewußtsein erheben und in die
inneren Bereiche gelangen kann, vermag sie von sich aus nicht sehr weit zu
kommen. Die Regionen And und Brahmand sind beinahe unendlich, und ohne einen
spirituellen Führer würde sie sich in deren Wunderwerk verlieren. Ferner gibt
es auf der mystischen Reise, besonders beim Übergang von einer Ebene zur
anderen, so schwierige Punkte, daß die Seele ohne einen Adepten dort für immer
aufgehalten würde.18) Babaji betonte unermüdlich die Notwendigkeit eines
lebenden Meisters, um auf diesem Gebiet Erfolg zu haben. Frühere Heilige mögen
alle Geheimnisse der mystischen Reise erforscht und auch Berichte über ihre
Erfahrungen hinterlassen haben. Aber die inneren Welten sind nicht in Begriffen
der menschlichen Sprache zu beschreiben, und so vermochten sie darüber nur in
Andeutungen und Gleichnissen zu sprechen. Da sich diese aber auf einen
Erfahrungsbereich beziehen, der gänzlich über dem gewohnten menschlichen
Gesichtskreis liegt, können sie ohne die Hilfe von einem, der selbst direkten
Zugang zu den beschriebenen Erfahrungen hat, nicht verstanden werden. Darum
braucht man, allein um die Botschaft früherer Meister richtig zu erfassen,
einen lebenden Meister. Erst als Babaji seinen Meister Soamiji gefunden hatte,
erschloß sich ihm die volle Bedeutung des Granth Sahib und der Schriften Kabirs
und anderer großer Heiliger. Die spirituelle Reise ist keine Sache
intellektueller Erörterungen, sondern eine Frage des praktischen Aufstiegs.
Selbst im Bereich akademischen Wissens kann ein Buch nicht die Schulung durch
einen scharfsichtigen Lehrer ersetzen. Wieviel mehr gilt das auf spirituellem
Gebiet! Nach Babaji ist der Jiva Atman so sehr in Maya verloren, daß er aus
eigenem Antrieb des Shabd Dhun nicht erreichen kann. Nur durch einen Gnadenakt wird er mit dem Licht und
der Musik im Innern verbunden, und diese Gnade ist das Geschenk eines lebenden
Meisters: Radhasoami, der Herr der Seele, kam
voller Mitleid
und Erbarmen in der
Gestalt eines Heiligen selbst herab, gab uns Hinweise auf die
spirituellen Regionen und zeigte uns den Weg, um Sach Khand (die
wahre Wohnstatt) durch Shabd Dhun zu erreichen. Die früheren Heiligen sind der Verehrung würdig. Ihr
Leben ist ein leuchtendes Vorbild, das uns ständig auffordert, in unsere
himmlische Heimat zurückzukehren. Aber es ist das Gesetz der Natur, daß der
lebendige Impuls nur vom Lebenden kommen kann; und die Aufgabe, die sie für
ihre eigene Zeit erfüllten, muß in unserer Zeit einer tun, der unter uns weilt
und den Weg, den sie gemeistert hatten, selbst geangen ist. In der Tat kann man durch kritisches Studium ihrer
Schriften feststellen, daß diese eine einzige Bestätigung für die Notwendigkeit
eines lebenden Meisters sind. Wer ist nun ein kompetenter lebender Meister, und
wie ist er zu erkennen? Babaji wußte, daß es zahllose Wölfe im Schafspelz gibt,
und da alles darauf ankommt, einen wahren Führer zu finden, hob er immer wieder
hervor, daß Wachsamkeit und Unterscheidungsfähigkeit sehr wesentlich sind. Seine früheren Erfahrungen hatten ihm nur zu gut
gezeigt, wie selten man solche große Geistwesen findet, von denen es vielleicht
nur eines während eines Menschenalters gibt, manchmal mehrere (wie bei Guru
Nanak und Kabir, bei Maulana Rumi und Shams-i-Tabrez, bei Tulsi Sahib und
Soamiji, die jeweils Zeitgenossen waren), aber leider immer zu wenige, und ein
Mensch ist wirklich gesegnet, wenn er einer solchen Persönlichkeit begegnet.
Man kann die Aufzeichnungen der früheren Heiligen zum Prüfstein nehmen, wie es
Babaji während seiner Suche getan hat. Wenn einer ein wahrer Meister und
außerdem ein Mystiker der höchsten Ordnung ist, werden durch die Verbindung mit
ihm alle Un- klarheiten und Widersprüche, die einen bei der
Lektüre der Schriften verwirrten, beseitigt. Er weiß die Schriften nicht nur
einer, sondern aller Mystikerschulen eindrucksvoll darzulegen, weil er zu allen
inneren Bereichen Zugang hat, nicht lediglich zu einem. Als Knabe war Babaji
vielen Sadhus begegnet, aber erst zu den Füßen Soamijis begann er all die
Schätze, die im Granth Sahib zu finden sind, richtig zu begreifen. Mystiker
einer niedrigeren Ordnung können nur Berichte von Erfahrungen darlegen, die sie
selbst gemacht haben; aber einer, der zu den höchsten Höhen aufgestiegen ist,
kann alles erklären – eine Tatsache, die Babajis Begegnung mit den vier Pandits
deutlich machte. Ein weiteres Merkmal des wahren Heiligen ist seine ungewöhnliche
Demut. Es scheint eine der größten Widersinnigkeiten des menschlichen Lebens zu
sein, daß die, welche sich als Heilige ausgeben, keine sind, und jene, die es
wirklich sind, es niemals von sich behaupten. Guru Nanak sagte von sich, daß er
nichts weiter als der Sklave von den Dienern der Heiligen sei, und auch Soamiji
trug unerschüttert das Kleid der Bescheidenheit. Nicht durch das, was ein
Mensch zu sein vorgibt, sollte er anerkannt werden, sondern durch das, was er
getan hat. Einen Baum erkennt man nicht an seinem Namen, sondern an seinen
Früchten, und ein Heiliger erweist sich durch seine Vollkommenheit als Mensch,
sein Freisein von weltlichen Wünschen, seine Liebe und Güte, seine anspruchlose
Lebens- weise, seine Sorge für das Wohlergehen anderer und
seine Gleichgültigkeit gegenüber Name und Ruhm. Er verteilt seine spirituellen
Gaben frei, so wie jede andere Gabe frei gegeben wird, und verdient seinen
Lebensunterhalt durch seiner eigenen Hände Arbeit. Gur, Pir sadai mangan
jayae Ta ke mool na lagya payae. Beuge dich nicht vor einem,
der sich selbst einen Guru nennt, aber von der Mildtätigkeit anderer abhängig ist.
Sarang Var, 1245 Wenn es auf der menschlichen Ebene seine Vollendung
als Mensch ist, die einen wahren Heiligen von allen anderen unterscheidet,
erkennt man ihn auf der spirituellen Ebene durch die inneren Erfahrungen und
die Führung, die er geben kann. Die Fähigkeit, seinen Schülern bei der
Initiation eine unmittelbare spirituelle Erfahrung zu geben, wie gering sie
auch immer sein mag, so betont Babaji, der letzte Prüfstein für einen wahren
Meister. Er verheißt die spirituelle Verwirklichung nicht erst für ein
künftiges Leben nach dem Tod, sondern gibt hier und jetzt einen Vorgeschmack
davon. Er verbindet die Seele mit dem inneren Licht und Ton, und es ist Aufgabe
des Schülers, diese Saat zu nähren und zu voller Blüte und Frucht zu
entwickeln. Die Gabe von Naam ist das alleinige Vorrecht des Satguru, und seine
lenkende Hand reicht überallhin, in die inneren Ebenen nicht minder als in die
äußere Welt. So groß ist seine Liebe und Fürsorge, daß keine
irdischen Bande jemals damit verglichen werden können. Seine strahlende Form
begleitet die Seele, nachdem sie sich über das Körperbewußtsein erhoben hat,
und führt sie von Ebene zu Ebene, ihrer himmlischen Heimat entgegen, und der
empfäng- liche Schüler erkennt seine Gnade auf Schritt und
Tritt. Der Meister kann natürliche Wunder tun, da er eins
mit dem göttlichen Willen ist, aber es widerstrebt ihm, in den festgelegten
Plan einzugreifen. Selbst wenn seine Gnade die Oberhand gewinnt, läßt er sie im
verborgenen wirken und nimmt nichts für sich in Anspruch, sondern handelt
einzig im Namen seines Meisters. Er gibt sich nicht mit Streitigkeiten und
Wortgefechten ab. Seine ständige Mahnung ist: “Geht nach innen und seht selbst”,
wobei die Betonung stets auf dem Inneren liegt, nicht auf den äußeren Formen
und Ritualen. |