Das innere Leben

 

Die Vervollkommnung der äußeren Lebensführung ist sehr wesentlich, denn ohne sie kann man das innere Ziel nicht erreichen. Liebe und Vertrauen in den Satguru, Selbsthingabe und ein ethisch untadeliges Leben müssen sich zu diesem Zweck ergänzen. Die höchste Bestimmung des Menschen ist das Einssein mit dem Absoluten. Wird das nicht erreicht, ist alles andere von geringem Wert.

Der Frage des wirklichen geistigen Aufstiegs galt Babajis Hauptinteresse als Lehrer. Er hielt sich nicht lange mit theoretischen Problemen auf.

“Wozu debattieren und argumentieren?” fragte er häufig.

“Wendet euch nach innen, geht hinein und seht selbst!” Sein Briefwechsel mit Baba Sawan Singh Ji ist eine einzige lange Ermahnung, die äußere Welt beiseite zu lassen, um sich in die innere Welt zurückzuziehen; und jeder seiner Briefe sagt etwas wertvolles über die eigentliche spirituelle Praxis aus.

 

Da die Seele durch das Gemüt und die Sinne Maya zum Opfer gefallen ist, kann sie nur befreit werden, indem sie sich von ihnen zurückzieht. Die beiden Sadhans (Übungen), die Babaji wie seine Vorgänger zu praktizieren empfahl, waren Simran und Bhajan. Den ersten, bei dem die heiligen Namen des Herrn wiederholt werden, muß man zu jeder Tageszeit ausführen. “Habe den Simran immer im Bewußtsein, selbst wenn du in Bewegung bist oder deiner Arbeit nachgehst”, schärfte er ein. Der beständige Gedanke an den Höchsten ist die größte Sicherheit gegen weltliche Gedanken und Wünsche. Er hilft dem menschlichen Geist, sich von den gewohnten Beschäftigungen freizuhalten, und wenn er bei der Meditation (Abhyasa) voller Aufmerksamkeit geübt wird, sichert dies eine rasche Sammlung der Bewußtseinsströme am spirituellen Zentrum zwischen und hinter den Augenbrauen.

Ist eine solche Konzentration oder Dhyan erreicht, kann man mit dem Tonstrom in Verbindung kommen, und Dhyan (das Ergebnis von Simran) führt von selbst zu Bhajan oder Vertieftsein in Shabd Dhun:

 

Wenn du deinen Bhajan oder Simran übst, sorge dich nicht um weltliche Dinge, und laß dich nicht

durch irgendwelche Gedanken ablenken. Übe zuerst eine Viertelstunde Simran, dann lenke deine

Aufmerksamkeit allmählich auf die Musik des Shabd Dhun. Nun halte mit dem Simran ein, und

verankere Herz und Seele in Shabd. Auf diese Weise wirst du große Seligkeit erfahren, und uner-

meßliche Gnade wird von der höchsten Region auf dich herabkommen.

 

Das war die übliche Anweisung. Die Einzelheiten konnten natürlich den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden. Der Zeitfaktor mochte verschieden sein, aber die tägliche Meditation mußte unter allen Umständen ausgeführt werden:

 

Lausche jeden Tag mit großer Liebe und Hingabe auf den Shabd Dhun, der in deinem Herzen

ertönt, für fünfzehn, zehn oder fünf Minuten, für eine Stunde oder zwei, entsprechend der Zeit,

die dir zur Verfügung steht. Aber du mußt jeden Tag eine Weile auf ihn hören. 19)

 

Große Schönheit ist in Shabd. Er birgt eine Musik, die jede von Menschen hervorgebrachte weit übertrifft und die Seele zu sich zieht. Unaufhörlich ruft er den Geist in seine göttliche Heimat, und obwohl er von den gewöhnlichen Menschen nicht vernommen wird, können jene, die durch Meditation und die Gnade eines Satguru die Fähigkeit der inneren Wahrnehmung entwickelt haben; seine Weisen jeden Augenblick des Tages hören, mal stärker, wenn sich der Geist an einem Punkt sammelt, dann wieder schwächer werdend und verstummend, wenn sich die Gedanken in verschiedene Richtungen zerstreuen und die Aufmerksamkeit geteilt ist. Shabd ist der wirkliche Halt des Suchers.

Er ist die bewußte Kraft, die alles erschaffen hat, und zugleich der wirkliche Meister – der Shabd Guru-, denn der Satguru ist seine physische Offenbarung in menschlicher Gestalt.

 

Babaji sagte einmal:

 

Shabd Dhun ist unsere wirkliche Form. Der physische Körper ist nur ein Kleid. Niemand kann

es für immer behalten, und keiner wird es jemals können... So glaubt, ihr Ergebenen, daß sich die

Shabd-Form des Satguru, die weder Anfang noch Ende hat, im Körper befindet.

 

Wenn man einmal die ständige Verbindung mit dieser inneren Musik entwickelt hat, wirkt sie als Schutz gegen weltliche Sorgen und Nöte. Unglück trifft jeden, denn das frühere Karma muß beglichen werden; aber für den Menschen, der in Shabd Dhun verwurzelt ist, hat es seinen Stachel verloren. Babaji, der meistens zu einfachen Bauern sprach, legte seine Lehren in Beispielen und Gleichnissen aus dem Leben der Landleute dar. So erklärte er die beschützende Kraft von Shabd mit den Worten:    

 

 

Der Körper gleicht einem Dorf oder einer Stadt, und Shabd Dhun ist unser eigenes Haus.

Wenn nun in einem anderen Haus jemand stirbt oder ein großes Leid trägt, ist jeder in diesem

Haus unglücklich, während wir in dem unseren ganz zufrieden sind.

 

Um die magnetische Kraft und den Einfluß der inneren Musik darzulegen, schrieb er:

 

...der Shabd Dhun wird es (das Gemüt) auf dieselbe Weise anziehen und festhalten, wie

Ziegen, Rinder und andere Tiere mit einem Seil angebunden sind.

 

Die größten Behinderungen des Suchers sind das Gemüt und die Sinne. Durch ihre Tätigkeit wurde die Seele im Netzwerk von Maya gefangen, und sie selbst muß sich daraus lösen, um frei zu werden.

Die Sinnererfahrung auszuschließen ist nicht so schwierig; aber auch wenn die Pforten der Sinne geschlossen sind, stört das Gemüt weiter und lenkt ab. Es ist die Wurzel des Ich-Prinzips und darum die Hauptursache für die Trennung des Jiva vom Herrn des Universums. Wie kann man diesen ruhe-

losen Drachen besiegen? Babaji vertrat die Ansicht, daß die größte Hilfe darin liege, über die Form des wahren Meisters zu meditieren und in Shabd vertieft zu sein.

 

Du fragst mich, wie du dein Gemüt in Zaum halten kannst.

Man kann es nur durch Shabd bezähmen. Lausche täglich seiner Musik, und meditiere

über die Form des Satguru. Dann wird das Gemüt zu wandern aufhören und die Seele,

von Shabd Dhun getragen, eines Tages bis Daswan Dwar gelangen (die dritte Ebene und

der Sitz des universalen Gemüts). Indem sie so das mentale Werkzeug zurückläßt, wird sie

sich mit dem reinen Shabd verbinden und durch die Gnade des Satguru Sach Khand erreichen.

Zweifle nicht, sie wird dort hinkommen.

 

                                                     (7. Januar 1901)

 

Wenn das Gemüt einmal unter Kontrolle gebracht ist und nicht mehr verzweifelt und schwankt:

 

dann erscheint die strahlende Form des Meisters im Inneren.

Zwischen ihr und der physischen Form besteht kein Unterschied. Sie ist wie ein klares

Spiegelbild. Solange das Glas nicht rein ist, kann man nichts darin erkennen.

 

Das Gemüt ist wirklich wie ein Glas, das alles trübt und verbirgt, wenn es durch Schmutz der weltlichen Bindungen befleckt ist. Aber in dem Augenblick, wo dieser Schleider entfernt ist, spiegelt es das Universale wider. Der Surat (die Aufmerksamkeit), durch Simran am Tisra Til gesammelt, bricht mit Hilfe der Anziehungskraft von Shabd hindurch. Und wenn er in die inneren Bereiche gelangt, begegnet er der strahlenden Form des Meisters, die ihn willkommen heißt und ihn von da an Schritt für Schritt auf der inneren Reise führt.

Wenn die Seele erst den Meister in seiner strahlenden Form im Innern erreicht hat, ist der größte Teil ihrer Aufgabe getan. Das Übrige ist nur noch eine Frage der Zeit. Der Satguru könnte sie natürlich sofort zu den höchsten Ebenen bringen, aber er bewirkt den Fortschritt stufenweise, denn sonst würde, wie es bei dem hartnäckigen Pandit der Fall war, der Schock und die Anspannung zu groß sein.

Die Sanchit-Karmas(die Handlungen vergangener Lebensläufe, dazu bestimmt in künftigen Geburten Frucht zu tragen) und die Kriyaman-Karmas (Handlungen aus diesem Leben, die ebenfalls in nach-

folgenden Lebensläufen Frucht tragen) sind natürlich in dem Augenblick unwirksam geworden, wo man vom Meister in seine Herde aufgenommen wird. Aber das Pralabdh-Karma, auf dem das gegen-

wärtige Leben begründet ist, muß sich auswirken, da sonst der Tod die unmittelbare Folge wäre.

Der Meister sucht es so rasch und glatt wie möglich abzuwickeln. Als sich Baba Sawan Singh das Bein gebrochen hatte, ließ Babaji ihn wissen, daß dies nicht bloß die Folge eines Unfalls war, sondern auf früheren Karmas beruhte, deren Rückwirkungen nicht umgangen werden konnten. Sein Leiden wurde zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber durch das Eingreifen eines Satguru gemildert. “Welches Leid dir auch zugestoßen ist, es ist nur der fünfte Teil; vier Teile wurden dir erlassen”, und er fuhr fort:

 

 

Kummer und Leiden sind Glück im Unglück, denn sie sind durch den Herrn bestimmt. Wenn uns das

Leid Nutzen bringt, schickt Er uns Leid, hilft uns die Freude, sendet Er diese. In Freud und Leid wird

unsere Stärke geprüft, und wenn man weder wankt noch abweicht, segnet der Allmächtige eine solche

Seele mit Naam.

 

In welche Sorgen und Nöte Babajis Schüler kommen mochten, er hieß sie stets guten Mutes sein.

Je eher ihre Schulden beglichen waren, desto besser, und in Zeiten der Prüfung floß ihnen immer besondere Gnade zu:

 

Krankheit und Freuden sind die Früchte früherer Handlungen. All jenen, die krank sind, wird

besondere Gnade gegeben. Mögen sie darum ohne Sorge sein und es mit Gleichmut tragen.

Im Leid wandert das Gemüt nicht, und in der Bedrängnis wendet es sich dem Bhajan zu.

So sind die Zeiten des Krankseins, wenn sich das Gemüt dem Bhajan hingibt, von großem Segen.

Sie sind ein besonderes Geschenk für die Satsangis. Wenn dich also Krankheit und Schmerz

bedrängen, nimm sie als den Willen des Herrn an und widme dich deinen spirituellen Übungen.

Solange der Surat in Shabd Dhun vertieft ist, wird das Licht nicht empfunden. Heißt es nicht:

“Freude ist Krankheit und Leid das Heilmittel?”

 

“Wenn man einen kompetenten Satguru findet, lernt man den ganzen inneren Weg kennen und begibt sich auf die spirituelle Reise”, sagte Babaji. “Es muß nur noch die Rechnung von Geben und Nehmen beglichen werden, die den Flug der Seele hemmt. Sie ist nicht rein genug, den göttlichen Shabd zu ergreifen, und muß daher zunächst von allen karmischen Rückwirkungen frei werden. Der Satguru hat sie in diesem Leben von den Fesseln des Karmas zu lösen, damit sie davor bewahrt wird, dieses in weiteren Geburten ausgleichen zu müssen.

Leid ist also unvermeidbar; aber glücklicherweise werden bei Satsangis “Jahre des Leidens als eine Sache von Tagen abgetragen”. Shabd Dhun ist der den Menschen leitende Engel, das Zaubermittel, das ihn beschützt. Wer zu seinem Reichtum Zuflucht nimmt, dessen Karma wird in seiner reinigenden Flamme allmählich verbrannt. Wenn das Gemüt ruhiger wird und sich das Karma erschöpft, wird die Seele mehr und mehr von Maya befreit und durch die strahlende Form des Meisters innen zu immer höheren Ebenen geleitet. Der Schüler braucht sich nicht zu sorgen. Seine Aufgabe ist es nur, an den Geboten seines Meisters festzuhalten und sich nach seinem Willen zu bemühen. Es liegt in der Hand des Satguru, seine Bemühungen mit Erfolg zu krönen, wenn er es für gut und angemessen hält, denn er kann das am besten beurteilen und tut, was dem Schüler am meisten nützt.

 

Der Herr tut, was er für das Beste hält. Bringe dich nicht selbst dazwischen. Lebe nach den Worten

des Meisters und komme weiterhin deinen weltlichen Pflichten nach. Wenn die Frucht reif ist, fällt

sie von selbst ab, ohne sich oder den Zweig, der sie trägt, zu verletzen, und auf diese reife Frucht

wird großen Wert gelegt. Wenn wir die unreife Frucht gewaltsam vom Baum nehmen, wird der

Zweig beschädigt, und sie selbst schrumpft und ist von geringem Wert. Einen kompetenten Meister

zu finden ist die Erfüllung der menschlichen Geburt. Es ist die Frucht des Lebens. Nach seinen

Geboten zu leben sichert ihr rechtes Gedeihen. Der tägliche Simran und Bhajan, soviel wie möglich

geübt, sind die beste Nahrung und Pflege, und das Aufgehen in Shabd ist ihr Reifen und Abfallen.

 

 

 

Solcherart ist der Fortschritt der Seele. Ihr Reifen ist eine Sache steten Wachstums. Durch die Worte des Meisters gestützt, durch Bhajan ernährt und von Shabd Dhun getragen, durchquert sie einen Bereich nach dem andern, bis sie alle Umhüllungen des Gemüts und der Materie hinter sich läßt und Sach Khand erreicht. Dies ist ihre wahre Heimat, das Reich reinen Geistes. Von dort wird sie eins mit dem Göttlichen und geht allmählich in das Formlose zurück, bis sie über Alakh und Agam hinaus zu Anami gelangt, dem namenlosen und formlosen Urgrund von allem, was sich bewegt und sein Sein hat.

Bei manchen, wie im Fall Babajis, wird die ganze Reise aufgrund des spirituellen Fortschritts, den sie in früheren Lebensläufen erzielt hatten, in einer für ihre Zeitgenossen außergewöhnlichen, unfaßbar kurzen Zeit zu Ende geführt. Es gibt noch andere, die durch ihre große Hingabe und ihre Meditationen die Früchte aus vielen Geburten in einem einzigen Leben ernten konnten. Aber der überwältigenden Mehrheit bedeutet die Spiritualität lediglich eine vorübergehende Phase des Idealismus; sie machen Shabd nicht zum Notanker ihres Lebens, sondern wenden sich ihm nur dann und wann zu. Für solche Menschen ist der Erfolg nicht in einem Leben gesichert. Aber die von einem Meister gelegte Saat kann nicht verloren gehen; was nicht in einer Geburt Frucht trägt, kann sich in der nächsten entfalten, unter der Führung der lebendigen menschlichen Offenbarung der Shabd Kraft, die zu der Zeit das Werk ausführt. Aber selbst das ist nicht nötig, wenn man bereits vor dem Tod Verbindung mit dem Naam-Strom hat und alle irdischen Wünsche weggewaschen sind, denn dann kann man den Rest seiner Erlösung von den übersinnlichen Ebenen aus bewirken. Wenn man einmal in die Herde eines wahren Meisters aufgenommen wurde, kann man seiner Befreiung sicher sein und wird früher oder später die ewige Heimat erreichen. Auch wenn er seine irdische Hülle abgelegt hat, bleiben seine Führung und sein Schutz unvermindert bestehen. Für die von ihm Initiierten ist es nicht notwendig, von einem anderen nochmals die Initiation zu erhalten; denn ist auch die physische Form des Guru sterblich, so ist doch seine Shabd-Form unvergänglich und immer gegenwärtig. Man kann sich natürlich bei dem Mitschüler, den der Meister zu seinem Nachfolger erwählt hat, über schwierige Punkte Klarheit verschaffen. Was aber die innere Führung anbelangt, bleibt einzig der eigene Lehrer verantwortlich, auch wenn er nicht mehr im Körper lebt. Des Schülers ausschließliche Pflicht besteht darin, die von seinem Guru auferlegten Übungen durchzuführen, und es ist Sache des Meisters, sie mit Erfolg zu krönen. Hat Jesus nicht gesagt: “Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende”?

Und gab nicht Soamiji am letzten Tag seiner Mission auf Erden seinen Ergebenen die Versicherung:

“Habt keine Furcht. Ich bin für ewig bei jedem von euch, und der euch gegebene Schutz und die Fürsorge werden sogar größer sein als vorher”? 20)



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