X. Yoga und die äußeren Wissenschaften

 

Nachdem wir uns bis zu einem gewissen Grade mit den verschiedenen Yoga-Methoden befaßt haben, wollen wir uns zum Abschluß der Warnung Shankaras erinnern:

 

Der dreifältige Weg: der Weg der Welt, der Weg der Wünsche und der Weg der Schriften – ist weit davon entfernt, das Wissen um die Wirklichkeit zu vermitteln, sondern hält einen immerfort im Gefängnis des Universums gebunden. Befreiung ist nur möglich, wenn man sich selbst von diesen eisernen Ketten löst.

 

Die Freiheit kann nur erlangt werden, wenn man die Identität des menschlichen Geistes mit dem Universalen Geist erkennt. Man kann sie weder durch Yoga noch durch Sankhya, auch nicht durch religiöse Zeremonien oder bloße Gelehrsamkeit erreichen.

 

Um Shankaras Botschaft, daß wahres Wissen eine Sache direkter Wahrnehmung und nicht bloßes Zeremoniell, Ritual oder Schlußfolgerung ist, zeitgemäß zu ergänzen, wollen wir hinzufügen, daß es auch nicht durch äußere Wissenschaften zu erwerben ist. Die Entdeckungen der neuzeitlichen Naturwissenschaften sind tatsächlich großartig und haben viele Auffassungen über die Natur des Kosmos und des Daseins bestätigt, die in den Yogasystemen enthalten sind. Sie haben unstrittig festgestellt, daß im Universum alles relativ ist und daß alle Formen im Grunde durch die Wechselwirkung der positiven und negativen Kräfte ins Dasein gebracht wurden. Diese Entdeckungen haben jedoch manche zu der Annahme verleitet, daß uns die Naturwissenschaften zu derselben Erkenntnis führen können und werden, welche die Yogis in der Vergangenheit durch Yoga zu erlangen suchten – kurz, daß die Wissenschaften den Yoga ersetzen und ihn belanglos machen werden.

 

Ein Blinder kann, auch wenn er nicht sieht, die Hitze und Wärme der Sonne spüren. Das Bewußtwerden einer Erscheinung, die er nicht direkt wahrnimmt, kann ihn dahin bringen, eine Reihe von Experimenten zu ersinnen und auszuführen, um durch sie ihre Natur kennenzulernen. Diese Experimente können ihm eine Menge wertvolle Daten einbringen. Er vermag den Lauf der Sonne, ihren jahreszeitlichen Wechsel und die variierende Stärke ihrer Strahlung womöglich genauer festzustellen als der Durchschnittsmensch. Aber kann all das Wissen, das er gesammelt hat, ein Ersatz dafür sein, die Sonne für einen einzigen Augenblick mit eigenen Augen zu sehen?

 

Was für den Blinden und den Menschen mit normaler Sicht gilt, gilt auch für den Wissenschaftler und den Yogi. Die Naturwissenschaften mögen uns eine Menge wertvollen indirekten Wissens über das Universum und seine Natur liefern, aber dieses Wissen kann niemals die Stelle der direkten Wahrnehmung und Erkenntnis einnehmen; denn genau wie das gefolgerte Wissen des Blinden nicht das Hauptattribut der Sonne, das Licht, erreichen kann, so ist es auch dem Wissenschaftler in seinem Laboratorium nicht möglich, an das Hauptattribut der kosmischen Energie, die Bewußtheit, heranzukommen. Er mag viel über das Universum wissen, aber sein Wissen kann niemals zur universalen Bewußtheit führen.                    

 

Diese Bewußtheit kann einzig durch die innere Wissenschaft, die Wissenschaft des Yoga, erlangt werden, die, indem sie das innere Auge öffnet, uns der kosmischen Wirklichkeit gegenüberstellt.Der, dessen inneres Auge geöffnet ist, braucht nicht länger auf Schriften, auf Erklärungen seines Lehrers oder auf bloße philosophische oder wissenschaftliche Folgerungen zu bauen. Er kann Gott selbst sehen, und das übertrifft alle Beweise. Er kann mit Christus sagen: >>Sehet den Herrn!<<, oder mit Guru Nanak: >>Den Herrn von Nanak sieht man überall<<, und mit Shri Ramakrishna: >>Ich sehe ihn genau wie ich dich sehe, nur viel intensiver<< (auf die Frage von Naren, dem späteren Vivikananda, bei seinem ersten Besuch: >>Meister, habt Ihr Gott gesehen?<)

 

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