29 Das Einzelauge oder Dritte
Auge Christus
sagte: „Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, als daß du zwei
Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen.“ Jeder hat zwei Augen
im Kopf. Sie wirken seit unserer Geburt. Und wir wirken unser ganzes Leben auf
der Ebene dieser zwei Augen. Über achtzig Prozent aller äußeren Eindrücke
nehmen wir durch die Augen auf. Wer nur auf der Ebene der zwei Augen wirkt,
nimmt entweder gute oder schlechte Eindrücke auf. Gute Eindrücke haben gute und
schlechte Eindrücke schlechte Handlungen zur Folge. Denn von jenen Eindrücken,
die sich unserem Herzen einprägen, wird es bewegt. Wir führen ein sehr
oberflächliches Leben. Die Meister sagen uns, daß es auch ein anderes Auge
gibt, das unterschiedlich als Drittes Auge, Einzelauge oder ‚shiv netra‘
bezeichnet wird. Wenn ihr dieses Dritte Auge nicht öffnet – das nur geöffnet
werden kann, solange ihr im menschlichen Körper lebt – steht ihr nirgendwo. Es
ist das Auge der Seele – nicht das des Verstandes oder der Sinneskräfte. Wir
sind beseelte Körper, bewußte Wesenheiten, die durch das Gemüt und die Sinne
wirken. Das innere Auge öffnet sich, wenn unsere Seele, deren äußerer Ausdrücke
Aufmerksamkeit genannt wird, zu ihrem Sitz im Körper hinter den beiden Augen zurückgezogen
wird. Jetzt wirkt die Aufmerksamkeit auf der Ebene der Augen durch das Gemüt
und die Sinne. Wir haben uns mit dem Körper identifiziert und uns selbst
vergessen. Wir können nicht erkennen, wer wir wirklich sind, wenn wir unsere
Aufmerksamkeit nicht von außen zurückziehen und über die Ebene der Sinne
erheben, die in Höhe der Augen enden. Zur Zeit des Todes gelangen wir dorthin.
Deshalb heißt es: „Wer in die Mysterien des Jenseits initiiert ist, dessen
Seele macht beim Verlassen des Körpers und der Sinne die gleiche Erfahrung, die
sie zur Zeit des Todes gewinnt.“ Dieses innere Auge öffnet sich nur, wenn die
Aufmerksamkeit von außen zurückgezogen und dann über die Sinnenebene zum Sitz
der Seele im Körper hinter den beiden Augen erhoben. Dort verläßt der Mensch
zur Zeit des Todes den Körper. Kabir sagt: „Richte nur deine Aufmerksamkeit auf
den Sitz der Seele, der über den Sinnen liegt.“ Wenn eure ganze Aufmerksamkeit
diesen Punkt erreicht, dann öffnet sich das innere Auge. Dieses innere Auge ist
in uns allen. Daher heißt es, es sei besser, einäugig zum Leben einzugehen, als
zwei Augen zu haben, die uns in die Hölle bringen. Das
wurde euch nun ganz genau erklärt. Wenn ihr es allein könnt – schön und gut.
Wenn nicht, dann sucht die Hilfe von einem, der kompetent ist, es für euch zu
tun. Äußere Sadhans wie Japas und
Mantras und andere Übungen auf der Sinnesebene kann jeder mit ein wenig Mühe
lehren. Doch ich würde sagen, um wahres Wissen zu erlangen, müssen wir unsere
Aufmerksamkeiten von außen zurückziehen und sie über die Sinnesebene erheben,
die in Höhe der Augen endet, wodurch das innere Auge geöffnet wird. Wenn dieses
Auge geöffnet ist, sehen wir die wirkende Gotteskraft, die sich als Licht und
Tonprinzip offenbart. Um euch ein Beispiel zu geben: wenn eine Henne ein Ei
ausbrütet, erzeugt sie Wärme in sich. Diese Wärme überträgt sich auf das Ei und
das Küken wird im Ei geboren. Es ist aber durch die äußere Umhüllung der Schale
vollständig eingeschlossen. Da sagt die Henne: „Schau, Kind, draußen scheint
die Sonne, da sind Felder und Täler.“ Das Kind sagt: „Mutter, das kann schon
sein, aber hier ist es ganz dunkel.“ Was tut die Henne? Sie pickt einfach mit
dem Schnabel ganz zart auf die Schale, bis diese zerbricht und das Küken frei
ist. „Wenn
dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib licht sein.“ Wißt ihr, was das
bedeutet? Es ist eine Erfahrung, ein Beweis, daß ihr das Licht Gottes in euch
seht, wenn sich das dritte Auge öffnet. Um euch ein anderes Beispiel zu geben:
nehmt an, in einem Haus sind hundert Stufen, und ein Mann steigt dreißig,
vierzig, fünfzig oder sechzig Stufen hinauf, aber er sieht noch immer kein
Licht. Wenn er sich dem Dach nähert, sieht er einen Lichtschein. Wenn er das
Dach erreicht, sieht er Licht. Das sind nur die ersten Schritte, die euch
zeigen, daß das innere Auge geöffnet ist. Das können wir nur im menschlichen
Körper, den wir durch die Gnade Gottes erhalten haben. Wenn es in Strömen
regnet, wird die ganze Welt überflutet. Ähnlich bringt der wahre Meister das
‚Wasser des Lebens‘ mit sich, wenn er kommt. Ich gebrauche das Wort ‚wahr‘,
weil so viele Meister die Welt überschwemmen. Sie geben euch nur etwas auf der
Sinnesebene. Ihr drittes Auge ist nicht geöffnet, und sie können es such
anderen nicht öffnen. Die Größe eines wahren Meisters besteht darin, daß er
sein inneres Auge geöffnet hat und auch andere sehend machen kann. Unser
Meister sagte immer: „Was hat es für einen Sinn, die fünf Namen, fünf Mantras
oder sonst etwas Äußeres zu geben? Die kann euch jedes kleine Mädchen am Spinnrad
sagen.“ Wie man ein äußeres Ritual durchführt, kann jeder mit ein wenig Übung
lernen. Aber uns über das Körperbewußtsein erheben und das Einzelauge öffnen
kann nur einer, der kompetent ist. Er wird euch in Meditation versetzen, und
dann seht ihr das Licht. Je genauer ihr seine Anweisungen befolgt, um so mehr
Licht werdet ihr sehen. Auch ein Blinder hat das dritte Auge. Bei meiner ersten
reise in den Westen im Jahre 1955 besuchte ich auch Los Angeles. Während der
Morgenmeditation war ein blinder Arzt zugegen. Er setzte sich zur Meditation
und sah Licht. Die Meister geben den Blinden Licht. In den Augen der Meister
sind wir alle blind. Sie sehen, daß unser Drittes Auge nicht geöffnet ist.
Kabir sagt: „Ich sehe, daß alle blind sind.“ Wer ist nicht blind? Jener, der
das Licht Gottes im Inneren sieht – dessen Drittes Auge geöffnet ist. Versteht
ihr nun wirklich, was ich damit sagen will? Wenn Meister kommen, überfluten sie
die Welt. Ihre Strahlung durchdringt uns und die ganze Welt wird mit dem
‚Wasser des Lebens‘ überflutet. Kabir sagt: „Von den Meistern strömt das Wasser
des Lebens in Fülle aus. Die Menschen können davon nehmen, soviel sie wollen.“ Wenn
ihr zur Zeit des Todes den Körper verlaßt, werdet ihr Reue empfinden. Ihr
solltet sterben, während ihr noch lebt, und das könnt ihr nur im menschlichen
Körper und zu Füßen eines kompetenten Meisters, dessen inneres Auge geöffnet
ist und der es anderen öffnen kann. Auch ein Blinder hat das Dritte Auge. Wer
außen kein Licht erblickt, sieht es im Inneren, wenn das innere Auge geöffnet
ist. Dieses Auge öffnet sich nur, wenn ihr euch über das Körperbewußtsein
erhebt. Das heißt, von neuem geboren zu werden. ‚Es sei denn, daß ihr von neuem
geboren werdet, so könnt ihr nicht in das Reich Gottes eingehen.‘ ‚Lernt zu
sterben, damit ihr zu leben beginnt.‘ Zur Zeit des Todes wird eure Seele von
außen und von den Sinnen zurückgezogen. Sie erhebt sich zum Sitz der Seele
hinter den Augen. Wenn sich dieser Vorgang während des Lebens vollzieht, wird
euer inneres Auge geöffnet und sieht das jenseitige Licht. Alle Herrlichkeit
liegt in euch. Wenn die Meister kommen, überfluten sie die Welt mit
Spiritualität. Es ist hohe Zeit, daß ihr soviel davon nehmt, wir ihr könnt. Das
ist der wahre Reichtum, den ihr erwerben könnt, solange ihr im menschlichen
Körper seid. Jeder andere Reichtum bleibt hier im dem Körper zurück. Wenn die
Meister kommen, rufen sie uns zu: „Ihr Menschen, jetzt ist die Zeit. Macht den
besten Gebrauch davon. Das Wasser des Lebens fließt in Fülle. Nehmt, soviel ihr
könnt – es wird euch frei gewährt.“ Ihr müßt nur ein wenig Hingabe, ein wenig
Empfänglichkeit entwickeln. Ob ihr nahe bei ihm oder fern von ihm lebt – das
macht überhaupt keinen Unterschied. Warum
sind wir begünstigt, den menschlichen Körper zu haben? Weil wir nur im
menschlichen Körper das innere Auge öffnen können. Wenn euer Auge geöffnet
wird, erfreut ihr euch des Jenseits noch diesem Leben. Ihr solltet noch hier
eure Ausbildung abschließen, dann kommt sie euch auch nach Verlassen des
Körpers zugute. Wenn ihr bis jetzt nichts gelernt habt, wie könnt ihr dann nach
dem Verlassen des Körpers gebildet sein? Unser Meister hat immer gesagt: „Wer
im Leben Gelehrtheit erwirbt, bleibt auch nach Verlassen des Körpers gelehrt.
Wer hier nichts gelernt hat – wie kann er dann im Jenseits gebildet sein?“
Versteht ihr jetzt, warum die Meister so sehr verehrt werden? Nicht die
sogenannten Meister, von denen die Welt überschwemmt ist. Wenn ihre eigenen
Augen nicht geöffnet sind, dann können sie auch die Augen anderer nicht öffnen.
So weiterzumachen wie bisher, hat keinen Sinn. Sonst bleibt ihr die ganze Zeit
auf der Ebene der Augen oder der Sinne. Wenn ihr euch also selbst erheben könnt
– schön und gut. Mehr ist nicht nötig. Wenn nicht, dann kann euch einer helfen,
dessen Auge geöffnet ist und der euch etwas gibt, ein Anfangskapital, mit dem
ihr das Licht Gottes zu sehen beginnt. Jetzt werdet ihr zu schätzen wissen, wie
schön der Rat ist: „Es ist besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn
daß du zwei Augen habest in das höllische Feuer.“ Wenn
die Meister kommen, sagen sie das gleiche, wenn sie auch in ihrer eigenen
Sprache sprechen. Die ganze Welt befindet sich auf der Ebene der Gefühle und
Empfindungen oder auf der ebene des Verstandes und der Schlußfolgerung. Sie sehen
nicht. Gefühle, Empfindungen und Schlußfolgerungen unterliegen alle dem Irrtum.
Sehen steht über allem. Das sagen jene, die sehen. Deshalb heißt es: „Hört auf
die Worte des Meisters. Er sagt, was er sieht und er kann andere sehend
machen.“ Bücher können diese knappen, einfachen Worte nicht erklären, die den
Nagel auf den Kopf treffen und dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Unser
inneres Auge ist geschlossen, aber es ist da und kann geöffnet werden. Warum
können wir es nicht selbst öffnen? Weil sich unsere Seele mit dem Gemüt
verbunden hat und so zum ‚jiva‘ geworden ist, der sich durch die äußeren
Eindrücke der Sinne so sehr mit dem Körper und der äußeren Welt identifizierte,
daß er seine wahre Natur vergessen hat. Auch wenn er jahrelang alle Methoden
äußerer Verehrung anwenden und sie zur Meditation auf der Sinnen- oder
Augenebene gebrauchen würde, könnte er sich nicht nach oben erheben. Wenn er es
aus eigener Anstrengung vermag – schön und gut. Wenn nicht, dann sollte er sich
von einem helfen lassen, dessen inneres Auge geöffnet ist und der kompetent
ist, es anderen zu öffnen. |