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Das Einzelauge oder Dritte Auge

 

Christus sagte: „Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, als daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen.“ Jeder hat zwei Augen im Kopf. Sie wirken seit unserer Geburt. Und wir wirken unser ganzes Leben auf der Ebene dieser zwei Augen. Über achtzig Prozent aller äußeren Eindrücke nehmen wir durch die Augen auf. Wer nur auf der Ebene der zwei Augen wirkt, nimmt entweder gute oder schlechte Eindrücke auf. Gute Eindrücke haben gute und schlechte Eindrücke schlechte Handlungen zur Folge. Denn von jenen Eindrücken, die sich unserem Herzen einprägen, wird es bewegt. Wir führen ein sehr oberflächliches Leben. Die Meister sagen uns, daß es auch ein anderes Auge gibt, das unterschiedlich als Drittes Auge, Einzelauge oder ‚shiv netra‘ bezeichnet wird. Wenn ihr dieses Dritte Auge nicht öffnet – das nur geöffnet werden kann, solange ihr im menschlichen Körper lebt – steht ihr nirgendwo. Es ist das Auge der Seele – nicht das des Verstandes oder der Sinneskräfte. Wir sind beseelte Körper, bewußte Wesenheiten, die durch das Gemüt und die Sinne wirken. Das innere Auge öffnet sich, wenn unsere Seele, deren äußerer Ausdrücke Aufmerksamkeit genannt wird, zu ihrem Sitz im Körper hinter den beiden Augen zurückgezogen wird. Jetzt wirkt die Aufmerksamkeit auf der Ebene der Augen durch das Gemüt und die Sinne. Wir haben uns mit dem Körper identifiziert und uns selbst vergessen. Wir können nicht erkennen, wer wir wirklich sind, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht von außen zurückziehen und über die Ebene der Sinne erheben, die in Höhe der Augen enden. Zur Zeit des Todes gelangen wir dorthin. Deshalb heißt es: „Wer in die Mysterien des Jenseits initiiert ist, dessen Seele macht beim Verlassen des Körpers und der Sinne die gleiche Erfahrung, die sie zur Zeit des Todes gewinnt.“ Dieses innere Auge öffnet sich nur, wenn die Aufmerksamkeit von außen zurückgezogen und dann über die Sinnenebene zum Sitz der Seele im Körper hinter den beiden Augen erhoben. Dort verläßt der Mensch zur Zeit des Todes den Körper. Kabir sagt: „Richte nur deine Aufmerksamkeit auf den Sitz der Seele, der über den Sinnen liegt.“ Wenn eure ganze Aufmerksamkeit diesen Punkt erreicht, dann öffnet sich das innere Auge. Dieses innere Auge ist in uns allen. Daher heißt es, es sei besser, einäugig zum Leben einzugehen, als zwei Augen zu haben, die uns in die Hölle bringen.

Das wurde euch nun ganz genau erklärt. Wenn ihr es allein könnt – schön und gut. Wenn nicht, dann sucht die Hilfe von einem, der kompetent ist, es für euch zu tun. Äußere Sadhans  wie Japas und Mantras und andere Übungen auf der Sinnesebene kann jeder mit ein wenig Mühe lehren. Doch ich würde sagen, um wahres Wissen zu erlangen, müssen wir unsere Aufmerksamkeiten von außen zurückziehen und sie über die Sinnesebene erheben, die in Höhe der Augen endet, wodurch das innere Auge geöffnet wird. Wenn dieses Auge geöffnet ist, sehen wir die wirkende Gotteskraft, die sich als Licht und Tonprinzip offenbart. Um euch ein Beispiel zu geben: wenn eine Henne ein Ei ausbrütet, erzeugt sie Wärme in sich. Diese Wärme überträgt sich auf das Ei und das Küken wird im Ei geboren. Es ist aber durch die äußere Umhüllung der Schale vollständig eingeschlossen. Da sagt die Henne: „Schau, Kind, draußen scheint die Sonne, da sind Felder und Täler.“ Das Kind sagt: „Mutter, das kann schon sein, aber hier ist es ganz dunkel.“ Was tut die Henne? Sie pickt einfach mit dem Schnabel ganz zart auf die Schale, bis diese zerbricht und das Küken frei ist.

„Wenn dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib licht sein.“ Wißt ihr, was das bedeutet? Es ist eine Erfahrung, ein Beweis, daß ihr das Licht Gottes in euch seht, wenn sich das dritte Auge öffnet. Um euch ein anderes Beispiel zu geben: nehmt an, in einem Haus sind hundert Stufen, und ein Mann steigt dreißig, vierzig, fünfzig oder sechzig Stufen hinauf, aber er sieht noch immer kein Licht. Wenn er sich dem Dach nähert, sieht er einen Lichtschein. Wenn er das Dach erreicht, sieht er Licht. Das sind nur die ersten Schritte, die euch zeigen, daß das innere Auge geöffnet ist. Das können wir nur im menschlichen Körper, den wir durch die Gnade Gottes erhalten haben. Wenn es in Strömen regnet, wird die ganze Welt überflutet. Ähnlich bringt der wahre Meister das ‚Wasser des Lebens‘ mit sich, wenn er kommt. Ich gebrauche das Wort ‚wahr‘, weil so viele Meister die Welt überschwemmen. Sie geben euch nur etwas auf der Sinnesebene. Ihr drittes Auge ist nicht geöffnet, und sie können es such anderen nicht öffnen. Die Größe eines wahren Meisters besteht darin, daß er sein inneres Auge geöffnet hat und auch andere sehend machen kann. Unser Meister sagte immer: „Was hat es für einen Sinn, die fünf Namen, fünf Mantras oder sonst etwas Äußeres zu geben? Die kann euch jedes kleine Mädchen am Spinnrad sagen.“ Wie man ein äußeres Ritual durchführt, kann jeder mit ein wenig Übung lernen. Aber uns über das Körperbewußtsein erheben und das Einzelauge öffnen kann nur einer, der kompetent ist. Er wird euch in Meditation versetzen, und dann seht ihr das Licht. Je genauer ihr seine Anweisungen befolgt, um so mehr Licht werdet ihr sehen. Auch ein Blinder hat das dritte Auge. Bei meiner ersten reise in den Westen im Jahre 1955 besuchte ich auch Los Angeles. Während der Morgenmeditation war ein blinder Arzt zugegen. Er setzte sich zur Meditation und sah Licht. Die Meister geben den Blinden Licht. In den Augen der Meister sind wir alle blind. Sie sehen, daß unser Drittes Auge nicht geöffnet ist. Kabir sagt: „Ich sehe, daß alle blind sind.“ Wer ist nicht blind? Jener, der das Licht Gottes im Inneren sieht – dessen Drittes Auge geöffnet ist. Versteht ihr nun wirklich, was ich damit sagen will? Wenn Meister kommen, überfluten sie die Welt. Ihre Strahlung durchdringt uns und die ganze Welt wird mit dem ‚Wasser des Lebens‘ überflutet. Kabir sagt: „Von den Meistern strömt das Wasser des Lebens in Fülle aus. Die Menschen können davon nehmen, soviel sie wollen.“

Wenn ihr zur Zeit des Todes den Körper verlaßt, werdet ihr Reue empfinden. Ihr solltet sterben, während ihr noch lebt, und das könnt ihr nur im menschlichen Körper und zu Füßen eines kompetenten Meisters, dessen inneres Auge geöffnet ist und der es anderen öffnen kann. Auch ein Blinder hat das Dritte Auge. Wer außen kein Licht erblickt, sieht es im Inneren, wenn das innere Auge geöffnet ist. Dieses Auge öffnet sich nur, wenn ihr euch über das Körperbewußtsein erhebt. Das heißt, von neuem geboren zu werden. ‚Es sei denn, daß ihr von neuem geboren werdet, so könnt ihr nicht in das Reich Gottes eingehen.‘ ‚Lernt zu sterben, damit ihr zu leben beginnt.‘ Zur Zeit des Todes wird eure Seele von außen und von den Sinnen zurückgezogen. Sie erhebt sich zum Sitz der Seele hinter den Augen. Wenn sich dieser Vorgang während des Lebens vollzieht, wird euer inneres Auge geöffnet und sieht das jenseitige Licht. Alle Herrlichkeit liegt in euch. Wenn die Meister kommen, überfluten sie die Welt mit Spiritualität. Es ist hohe Zeit, daß ihr soviel davon nehmt, wir ihr könnt. Das ist der wahre Reichtum, den ihr erwerben könnt, solange ihr im menschlichen Körper seid. Jeder andere Reichtum bleibt hier im dem Körper zurück. Wenn die Meister kommen, rufen sie uns zu: „Ihr Menschen, jetzt ist die Zeit. Macht den besten Gebrauch davon. Das Wasser des Lebens fließt in Fülle. Nehmt, soviel ihr könnt – es wird euch frei gewährt.“ Ihr müßt nur ein wenig Hingabe, ein wenig Empfänglichkeit entwickeln. Ob ihr nahe bei ihm oder fern von ihm lebt – das macht überhaupt keinen Unterschied.

Warum sind wir begünstigt, den menschlichen Körper zu haben? Weil wir nur im menschlichen Körper das innere Auge öffnen können. Wenn euer Auge geöffnet wird, erfreut ihr euch des Jenseits noch diesem Leben. Ihr solltet noch hier eure Ausbildung abschließen, dann kommt sie euch auch nach Verlassen des Körpers zugute. Wenn ihr bis jetzt nichts gelernt habt, wie könnt ihr dann nach dem Verlassen des Körpers gebildet sein? Unser Meister hat immer gesagt: „Wer im Leben Gelehrtheit erwirbt, bleibt auch nach Verlassen des Körpers gelehrt. Wer hier nichts gelernt hat – wie kann er dann im Jenseits gebildet sein?“ Versteht ihr jetzt, warum die Meister so sehr verehrt werden? Nicht die sogenannten Meister, von denen die Welt überschwemmt ist. Wenn ihre eigenen Augen nicht geöffnet sind, dann können sie auch die Augen anderer nicht öffnen. So weiterzumachen wie bisher, hat keinen Sinn. Sonst bleibt ihr die ganze Zeit auf der Ebene der Augen oder der Sinne. Wenn ihr euch also selbst erheben könnt – schön und gut. Mehr ist nicht nötig. Wenn nicht, dann kann euch einer helfen, dessen Auge geöffnet ist und der euch etwas gibt, ein Anfangskapital, mit dem ihr das Licht Gottes zu sehen beginnt. Jetzt werdet ihr zu schätzen wissen, wie schön der Rat ist: „Es ist besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn daß du zwei Augen habest in das höllische Feuer.“

Wenn die Meister kommen, sagen sie das gleiche, wenn sie auch in ihrer eigenen Sprache sprechen. Die ganze Welt befindet sich auf der Ebene der Gefühle und Empfindungen oder auf der ebene des Verstandes und der Schlußfolgerung. Sie sehen nicht. Gefühle, Empfindungen und Schlußfolgerungen unterliegen alle dem Irrtum. Sehen steht über allem. Das sagen jene, die sehen. Deshalb heißt es: „Hört auf die Worte des Meisters. Er sagt, was er sieht und er kann andere sehend machen.“ Bücher können diese knappen, einfachen Worte nicht erklären, die den Nagel auf den Kopf treffen und dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Unser inneres Auge ist geschlossen, aber es ist da und kann geöffnet werden. Warum können wir es nicht selbst öffnen? Weil sich unsere Seele mit dem Gemüt verbunden hat und so zum ‚jiva‘ geworden ist, der sich durch die äußeren Eindrücke der Sinne so sehr mit dem Körper und der äußeren Welt identifizierte, daß er seine wahre Natur vergessen hat. Auch wenn er jahrelang alle Methoden äußerer Verehrung anwenden und sie zur Meditation auf der Sinnen- oder Augenebene gebrauchen würde, könnte er sich nicht nach oben erheben. Wenn er es aus eigener Anstrengung vermag – schön und gut. Wenn nicht, dann sollte er sich von einem helfen lassen, dessen inneres Auge geöffnet ist und der kompetent ist, es anderen zu öffnen.

 

 

 


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