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Wie man die Eigenschaften des Meisters entwickelt

 

Wir sollten Gott lieben, aber wie entwickelt man diese Liebe? Wie können wir Liebe zu Gott entwickeln, ohne ihn zu sehen, ohne mit ihm in Verbindung zu kommen, ohne uns seiner Gemeinschaft zu erfreuen? Dafür müssen wir einen menschlichen Pol lieben, in dem sich Gott offenbart, weil Gott in ihm ist. Wie können wir Liebe zu ihm entwickeln? Das ist die Frage. Wir sollten genau die gleichen Eigenschaften oder Wesenszüge entwickeln, wie sie jener menschliche Körper, durch den Gott wirkt, besitzt. Angenommen, er ist ein guter Maler, er malt gern. Dann solltet ihr die Fähigkeit des Malers entwickeln, denn währenddessen werdet ihr immer an den denken, für den ihr das tut. Auf diese Weise werdet ihr beginnen, ständig an ihn zu denken. Wenn ihr ein guter Maler werdet, zieht ihr natürlich seine Aufmerksamkeit auf euch, weil er diese Eigenschaft auch in sich hat. Angenommen, er ist ein guter Sänger. Er liebt Gesang, Dichtung und Verse. Dann solltet ihr das gleiche Talent in euch entwickeln. Ich sage euch, Dichter sind halbe Heilige. Wenn ihr dieses Talent entwickelt, wird er es empfinden und sich zu euch hingezogen fühlen. Während ihr euch bemüht, ein Maler, Sänger oder Dichter zu werden, denkt ihr die ganze Zeit an ihn. Wenn ihr ständig an jemanden denkt, ruft ihr in seinen Gedanken eine Wirkung hervor. Wenn der Schüler an den Meister denkt – an Gott in ihm – wird der Meister an den Schüler denken. Jede Handlung hat ihre Wirkung. Als erstes sollten wir also die Eigenschaften des Meisters entwickeln. Wenn zum Beispiel Arbeitsplätze frei werden und der zuständige Beamte, der selbst eine gute Handschrift hat, schriftliche Bewerbungen verlangt – wer wird dann man ehesten eine Stelle bekommen? Es mögen Hunderte von Bewerbungen für ein paar offene Stellen eingehen. Der Beamte wird alle Bewerbungen durchgehen und nur die mit guter Handschrift berücksichtigen, weil er selbst diese Fähigkeit besitzt.

Wenn ihr also Liebe zu jemandem entwickeln wollt, dann entwickelt einfach seine Eigenschaft oder Wesenzüge. Dabei werdet ihr an genau die gleichen Eigenschaften denken, die in ihm seid. Das hat zweierlei Wirkung. Wenn ihr jemanden in eurem Herzen tragt, werdet ihr auch in seinem Herzen wohnen. Und während ihr seine Eigenschaften oder Wesenszüge entwickelt, denkt ihr gleichzeitig an ihn und das wird ihn anziehen. Das ist eine grundlegende Notwendigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihr bei ihm oder fern von ihm seid. Ihr braucht nur diese Eigenschaft zu entwickeln. Ich habe euch so viele Beispiele gegeben. Eines war von Bulleh Shah, einem Schüler von Inayat Khan. Bulleh Shah gehörte einer hohen mohammedanischen Kaste an, und er fürchtete das Gerede der Leute, wenn sie sähen, daß ein Mann einer hohen Kaste zu einem geht, der einer niederen Kaste angehört. Da sandte Inayat Khan ein paar seiner Schüler zu Bulleh Shah und bat sie, ihm zu sagen, daß er nun ihr Bruder sei. Als sie zu der Straße kamen, in der Bulleh Shah wohnte, riefen sie: „Wo ist Bulleh Shah? Er ist unser Glaubensbruder.“ Und die Leute sagten Bulleh Shah, daß seine Brüder gekommen seien. Bulleh Shah fürchten ihr Gerede, weil er als Angehöriger einer höheren Kaste zu einem Mann niederer Kaste gegangen war, und so sagte er: „Nein, das sind nicht meine Brüder.“ Als die Schüler zurückkehren und Inayat Khan berichten, was geschehen war, sagte er: „In Ordnung, wir werden sein Feld nicht mehr bewässern.“ Nur wenn der Schüler die Aufmerksamkeit des Meisters oder sein Wasser des Lebens erhält, geht es ihm gut. Auch nur ein kleiner Gedanke des Meisters bewässert das Feld des Schülers. Und das wurde ihm entzogen. Er hatte ihn zuvor gehabt und war nun dieses Segens beraubt. Wie konnte sich Bulleh Shah nun noch dem Meister nähern? Wie hatte er die Stirn haben können, zum Meister zu gehen und zu sagen, daß er kein Schüler sei! Bulleh Shah wußte, daß sein Meister sehr gerne Gedichte, Verse und liebevolle Lieder hörte. Nun hatte er zwar keinen Sinn dafür, aber er mußte ihn entwickeln, um die Aufmerksamkeit des Meisters auf sich zu ziehen. So ging er zu einigen Tanzmädchen, deren Beruf diese Kenntnisse erfordert, blieb ein paar Monate bei ihnen und lernte singen. Er diente ihnen Tag und Nacht umsonst, bis er in sich die Fähigkeit zu singen entwickelt hatte. Ungefähr eine Woche später sollten die Tänzerinnen ihre Lieder Inayat Khan vorsingen. Bulleh Sah sagte zu ihnen: „Hört her, ihr hebt doch Frauenkleider, gebt mir welche, ich gehe heute hin und singe vor dem Meister.“ Er zog also die Kleider an und ging hin, um seinem Meister vorzusingen. Er sang aus der Tiefe seines Herzens; und das strahlte natürlich aus, und der Meister sagte: „Oh, das ist Bulleh.“ Und er stand auf und umarmte ihn. Die Leute sehen gewöhnlich alles durch ihre eigene, rauchgeschwärzte Brille. Und sie fingen an zu reden: „Seht nur, wie der Meister gesunken ist – er hat eine Frau umarmt! Jetzt ist die Katze aus dem Sack.“ Inyat Khan sagte: „Bulleh, zieh diese Kleider aus, damit die Leute wissen, wer du bist.“ Bulleh Shah sagte: „Nein, ich bin unwürdig, ich bin nur ein Narr, der dich verlassen hat. Ich habe ein schändliches Verbrechen begangen, weil ich mich nicht als dein Schüler bekannte.“ Warum war er erfolgreich? Weil er sich die Eigenschaften oder Wesenszüge seines Meisters aneignete, der den Gesang liebte. Er hatte singen gelernt, um ihn zu erfreuen.

Das war ein Beispiel, aber es gibt noch andere. Lord Rama war vierzehn Jahre in eine Wildnis verbannt worden. Eine Frau namens Shivri, die dort lebte, erfuhr, daß er kommen würde. Sie sagte sich, daß er barfuß kommen und die Dornen seine Füße zerstechen würden. So begann sie, den Weg von allen Dornen zu säubern. Die Liebe entwickelt sich nicht unbedingt durch Sehen, sondern auch durch Hören. Sie überlegte sich auch, was sie ihm zu essen anbieten könne. In der Wildnis gab es nicht sehr viel, nur Beeren. So begann sie Beeren zu sammeln, kostete jede einzelne und behielt nur die süßen. In dieser Wildnis lebten auch einige große Yogis, aber Lord Rama ging nicht etwa zuerst zu ihnen. Er ging zu Shivri, die den Weg für ihn gesäubert hatte, damit die Dornen seine Füße nicht verletzten, und die die Beeren für ihn sammelte, die sie zuvor angebissen hatte, um festzuhalten, welche süß und welche sauer waren. Liebe kein Gesetz. Nachdem Rama bei Shivri war, besuchte er die Yogis. Wo die Yogis wohnten, war ein Weiher, der von Insekten wimmelte. Die Yogis baten Lord Rama, seine Füße darin zu waschen, um den Teich von den Insekten zu befreien. Lord Rama lehnte ab und sagte: „Nein, ihr seid große Yogis; und es ist besser, wenn ihr eure Füße in dem Weiher wascht – dann wird er sauber.“ Alle Yogis schütteten ihr Waschwasser in den Teich, aber die Insekten blieben. Da sagten die Yogis: „Du bist Lord Rama. Wenn du deine Füße in dem Teich wäschst, dann wird er sicher sauber.“ „Gut“, sagte Lord Rama, „wir wollen es versuchen.“ Er wusch seine Füße in dem Tümpel, aber er wurde dennoch nicht sauber. Lord Rama hieß die Yogis dann, die Füße von Shivri (die sie nicht leiden konnten) zu waschen; und als sie ihre Füße wuschen und das Wasser in den Weiher schütteten, wurde er sauber.

Jene, die Gott lieben, lieben den Meister – Gott in ihm natürlich. Das ist keine Sache des Zurschaustellens. Diese Kraft ist in euch und weiß um all euer Tun, was ihr macht und warum. Sie kennt auch die kleinste Neigung eurer Gedanken. Liebe macht kein Aufhebens. Liebe kennt nur Dienen und Opfern. Das äußerliche Zeichen der Liebe sind freundliche Worte voll Demut. Wenn ihr diese Liebe entwickelt habt, was müßt ihr dann tun? Ihr müßt Geduld und Ausdauer entwickeln und damit fortfahren. Wie eine Motte, die sich selbst in der Flamme einer Kerze verbrennt und keinen Laut von sich gibt. Wer Gott lieben will, sollte sich daher nicht um seinen Ruf und sein Aussehen, seine Ehre, um dies oder jenes kümmern. Er sollte alles, was er in der physischen Welt erreicht hat, hinter sich lassen und es zu seinen Füßen niederlegen. Selbst wenn er sein Leben opferte, würde er nicht darüber sprechen. Das ist eine seht schwierige Frage, würde ich sagen. Wenn ihr Gott oder den Gott im Menschen liebt, so ist das eine Beziehung zwischen euch und Gott in ihm und zu sonst keinem. Ihr müßt sie entwickeln. Dazu braucht ihr Ausdauer. Und es braucht Zeit. Die einzige Aufgabe des Dieners ist es, seine Arbeit zu verrichten. Es ist die Aufgabe des Meisters, sich darum zu kümmern, was er ihm geben muß.

Einmal erhielt Guru Har Govind, der sechste Guru der Sikhs, ein sehr schönes Araberpferd geschenkt. Guru Har Govind sagte, wer ihm aus dem Jap Ji vortrüge und während dieser Zeit an nichts anderes dächte, dem würde sein Herzenswunsch erfüllt. ein Mann trat vor und sagte, daß er vortragen wolle. Er begann damit und als er zum ende kam, dachte er sich: „Ich möchte wissen, was mir der Guru geben wird.“ Er erinnerte sich an das Araberpferd, das man dem Guru geschenkt hatte und meinte, daß er es bekommen müsse. Als er mit dem Vortrag fertig war, ließ der Guru ihm das Pferd geben. Dann wandte er sich an den Mann und sagte: „Du Armer, du wußtest nicht, was ich dir geben wollte. Ich wollte dir meinen eigenen Platz geben.“ Es ist nicht eure Sache, die Dinge zu bewerten und zu verlangen, was ihr gerne möchtet, sondern es ist seine Sache, sich darum zu kümmern, was wirklich zu eurem Besten ist.

Wie könnt ihr Liebe entwickeln? Entwickelt zuerst einfach die Eigenschaften des Meisters. Wenn er ein guter Maler ist, lernt malen. Wenn er ein guter Sänger ist, dann lernt singen. Unser Meister ließ zum Wohle der Allgemeinheit Brunnen graben. So begannen die Menschen, für ihn Brunnen zu graben, und er war erfreut. Er wollte selbstlose Diener, die ihm gegenüber nie ein Wort darüber verloren, was sie für den Meister taten. Er war ein Mensch, der ganz offen seine Meinung sagte. Zu denen, die zu ihm kamen und gestanden: „Meister, ich habe diese oder jene Sünde begangen“ sagte er: „In Ordnung“ und vergab ihnen. Wer aber seine Fehler vor ihm verbarg, der zog den Kürzeren. Wenn wir zum Meister gehen, denken wir immer, daß er nichts weiß. Aber tief im Herzen weiß er, was wir denken. Wie ich euch gestern schon sagte, sieht er wie in einem Glasgefäß, was in uns ist. Auch wenn ihr versucht, es zu verbergen – er sieht es dennoch. Wir sollten daher mit ganz reinem Herzen zum Meister gehen, ihn lieben und verehren. Dann wird er euch natürlich sein eigenes Selbst geben. So können wir die Liebe zum Meister entwickeln – zu Gott in ihm. Ihr solltet versuchen, die Eigenschaften, die er in sich entwickelt hat, in euch zu entfalten. Welche Eigenschaften sind das? Er will Liebe – keine Schau – und unbedingten Gehorsam gegenüber seinen Worten. Wenn er einmal etwas sagt, dann gehorcht ihm. Gehorcht ihm wortwörtlich. Während ihr diese Eigenschaften entwickelt, werdet ihr immerzu liebevoll an den Meister denken – innen und auch außen. Es ist des Meisters Aufgabe, sich um das zu kümmern, was er euch zu geben hat. Er ist nur gekommen, um Leben zu geben. Das ist seine einzige Aufgabe. Er ist Leben, Licht und Liebe. Diese Werte kann er euch nur geben, wenn ihr dafür empfänglich seid und nichts mehr zwischen euch und ihm steht. Die Eigenschaften Gottes spiegeln sich in ihm wider. Wenn ihr sie einfach auf euer eigenes Leben übertragt, wird euch der Meister und Gott in ihm lieben. Wie Christus sagte: „Wer mich liebt, den liebt der Vater, und wen der Vater liebt, dem offenbare ich mich.“ Alle meister haben dasselbe gesagt.

 

 

 


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