38 Wie man die Eigenschaften
des Meisters entwickelt Wir
sollten Gott lieben, aber wie entwickelt man diese Liebe? Wie können wir Liebe
zu Gott entwickeln, ohne ihn zu sehen, ohne mit ihm in Verbindung zu kommen,
ohne uns seiner Gemeinschaft zu erfreuen? Dafür müssen wir einen menschlichen
Pol lieben, in dem sich Gott offenbart, weil Gott in ihm ist. Wie können wir
Liebe zu ihm entwickeln? Das ist die Frage. Wir sollten genau die gleichen
Eigenschaften oder Wesenszüge entwickeln, wie sie jener menschliche Körper,
durch den Gott wirkt, besitzt. Angenommen, er ist ein guter Maler, er malt
gern. Dann solltet ihr die Fähigkeit des Malers entwickeln, denn währenddessen
werdet ihr immer an den denken, für den ihr das tut. Auf diese Weise werdet ihr
beginnen, ständig an ihn zu denken. Wenn ihr ein guter Maler werdet, zieht ihr
natürlich seine Aufmerksamkeit auf euch, weil er diese Eigenschaft auch in sich
hat. Angenommen, er ist ein guter Sänger. Er liebt Gesang, Dichtung und Verse.
Dann solltet ihr das gleiche Talent in euch entwickeln. Ich sage euch, Dichter
sind halbe Heilige. Wenn ihr dieses Talent entwickelt, wird er es empfinden und
sich zu euch hingezogen fühlen. Während ihr euch bemüht, ein Maler, Sänger oder
Dichter zu werden, denkt ihr die ganze Zeit an ihn. Wenn ihr ständig an
jemanden denkt, ruft ihr in seinen Gedanken eine Wirkung hervor. Wenn der
Schüler an den Meister denkt – an Gott in ihm – wird der Meister an den Schüler
denken. Jede Handlung hat ihre Wirkung. Als erstes sollten wir also die Eigenschaften
des Meisters entwickeln. Wenn zum Beispiel Arbeitsplätze frei werden und der
zuständige Beamte, der selbst eine gute Handschrift hat, schriftliche
Bewerbungen verlangt – wer wird dann man ehesten eine Stelle bekommen? Es mögen
Hunderte von Bewerbungen für ein paar offene Stellen eingehen. Der Beamte wird
alle Bewerbungen durchgehen und nur die mit guter Handschrift berücksichtigen,
weil er selbst diese Fähigkeit besitzt. Wenn
ihr also Liebe zu jemandem entwickeln wollt, dann entwickelt einfach seine
Eigenschaft oder Wesenzüge. Dabei werdet ihr an genau die gleichen
Eigenschaften denken, die in ihm seid. Das hat zweierlei Wirkung. Wenn ihr
jemanden in eurem Herzen tragt, werdet ihr auch in seinem Herzen wohnen. Und
während ihr seine Eigenschaften oder Wesenszüge entwickelt, denkt ihr
gleichzeitig an ihn und das wird ihn anziehen. Das ist eine grundlegende
Notwendigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihr bei ihm oder fern von ihm
seid. Ihr braucht nur diese Eigenschaft zu entwickeln. Ich habe euch so viele
Beispiele gegeben. Eines war von Bulleh Shah, einem Schüler von Inayat Khan.
Bulleh Shah gehörte einer hohen mohammedanischen Kaste an, und er fürchtete das
Gerede der Leute, wenn sie sähen, daß ein Mann einer hohen Kaste zu einem geht,
der einer niederen Kaste angehört. Da sandte Inayat Khan ein paar seiner
Schüler zu Bulleh Shah und bat sie, ihm zu sagen, daß er nun ihr Bruder sei.
Als sie zu der Straße kamen, in der Bulleh Shah wohnte, riefen sie: „Wo ist
Bulleh Shah? Er ist unser Glaubensbruder.“ Und die Leute sagten Bulleh Shah,
daß seine Brüder gekommen seien. Bulleh Shah fürchten ihr Gerede, weil er als
Angehöriger einer höheren Kaste zu einem Mann niederer Kaste gegangen war, und
so sagte er: „Nein, das sind nicht meine Brüder.“ Als die Schüler zurückkehren
und Inayat Khan berichten, was geschehen war, sagte er: „In Ordnung, wir werden
sein Feld nicht mehr bewässern.“ Nur wenn der Schüler die Aufmerksamkeit des
Meisters oder sein Wasser des Lebens erhält, geht es ihm gut. Auch nur ein
kleiner Gedanke des Meisters bewässert das Feld des Schülers. Und das wurde ihm
entzogen. Er hatte ihn zuvor gehabt und war nun dieses Segens beraubt. Wie
konnte sich Bulleh Shah nun noch dem Meister nähern? Wie hatte er die Stirn
haben können, zum Meister zu gehen und zu sagen, daß er kein Schüler sei!
Bulleh Shah wußte, daß sein Meister sehr gerne Gedichte, Verse und liebevolle
Lieder hörte. Nun hatte er zwar keinen Sinn dafür, aber er mußte ihn
entwickeln, um die Aufmerksamkeit des Meisters auf sich zu ziehen. So ging er
zu einigen Tanzmädchen, deren Beruf diese Kenntnisse erfordert, blieb ein paar
Monate bei ihnen und lernte singen. Er diente ihnen Tag und Nacht umsonst, bis
er in sich die Fähigkeit zu singen entwickelt hatte. Ungefähr eine Woche später
sollten die Tänzerinnen ihre Lieder Inayat Khan vorsingen. Bulleh Sah sagte zu
ihnen: „Hört her, ihr hebt doch Frauenkleider, gebt mir welche, ich gehe heute
hin und singe vor dem Meister.“ Er zog also die Kleider an und ging hin, um
seinem Meister vorzusingen. Er sang aus der Tiefe seines Herzens; und das
strahlte natürlich aus, und der Meister sagte: „Oh, das ist Bulleh.“ Und er
stand auf und umarmte ihn. Die Leute sehen gewöhnlich alles durch ihre eigene,
rauchgeschwärzte Brille. Und sie fingen an zu reden: „Seht nur, wie der Meister
gesunken ist – er hat eine Frau umarmt! Jetzt ist die Katze aus dem Sack.“
Inyat Khan sagte: „Bulleh, zieh diese Kleider aus, damit die Leute wissen, wer
du bist.“ Bulleh Shah sagte: „Nein, ich bin unwürdig, ich bin nur ein Narr, der
dich verlassen hat. Ich habe ein schändliches Verbrechen begangen, weil ich
mich nicht als dein Schüler bekannte.“ Warum war er erfolgreich? Weil er sich
die Eigenschaften oder Wesenszüge seines Meisters aneignete, der den Gesang
liebte. Er hatte singen gelernt, um ihn zu erfreuen. Das
war ein Beispiel, aber es gibt noch andere. Lord Rama war vierzehn Jahre in
eine Wildnis verbannt worden. Eine Frau namens Shivri, die dort lebte, erfuhr,
daß er kommen würde. Sie sagte sich, daß er barfuß kommen und die Dornen seine
Füße zerstechen würden. So begann sie, den Weg von allen Dornen zu säubern. Die
Liebe entwickelt sich nicht unbedingt durch Sehen, sondern auch durch Hören.
Sie überlegte sich auch, was sie ihm zu essen anbieten könne. In der Wildnis
gab es nicht sehr viel, nur Beeren. So begann sie Beeren zu sammeln, kostete
jede einzelne und behielt nur die süßen. In dieser Wildnis lebten auch einige
große Yogis, aber Lord Rama ging nicht etwa zuerst zu ihnen. Er ging zu Shivri,
die den Weg für ihn gesäubert hatte, damit die Dornen seine Füße nicht
verletzten, und die die Beeren für ihn sammelte, die sie zuvor angebissen
hatte, um festzuhalten, welche süß und welche sauer waren. Liebe kein Gesetz.
Nachdem Rama bei Shivri war, besuchte er die Yogis. Wo die Yogis wohnten, war
ein Weiher, der von Insekten wimmelte. Die Yogis baten Lord Rama, seine Füße
darin zu waschen, um den Teich von den Insekten zu befreien. Lord Rama lehnte
ab und sagte: „Nein, ihr seid große Yogis; und es ist besser, wenn ihr eure
Füße in dem Weiher wascht – dann wird er sauber.“ Alle Yogis schütteten ihr
Waschwasser in den Teich, aber die Insekten blieben. Da sagten die Yogis: „Du
bist Lord Rama. Wenn du deine Füße in dem Teich wäschst, dann wird er sicher
sauber.“ „Gut“, sagte Lord Rama, „wir wollen es versuchen.“ Er wusch seine Füße
in dem Tümpel, aber er wurde dennoch nicht sauber. Lord Rama hieß die Yogis
dann, die Füße von Shivri (die sie nicht leiden konnten) zu waschen; und als
sie ihre Füße wuschen und das Wasser in den Weiher schütteten, wurde er sauber. Jene,
die Gott lieben, lieben den Meister – Gott in ihm natürlich. Das ist keine
Sache des Zurschaustellens. Diese Kraft ist in euch und weiß um all euer Tun,
was ihr macht und warum. Sie kennt auch die kleinste Neigung eurer Gedanken.
Liebe macht kein Aufhebens. Liebe kennt nur Dienen und Opfern. Das äußerliche
Zeichen der Liebe sind freundliche Worte voll Demut. Wenn ihr diese Liebe
entwickelt habt, was müßt ihr dann tun? Ihr müßt Geduld und Ausdauer entwickeln
und damit fortfahren. Wie eine Motte, die sich selbst in der Flamme einer Kerze
verbrennt und keinen Laut von sich gibt. Wer Gott lieben will, sollte sich
daher nicht um seinen Ruf und sein Aussehen, seine Ehre, um dies oder jenes
kümmern. Er sollte alles, was er in der physischen Welt erreicht hat, hinter
sich lassen und es zu seinen Füßen niederlegen. Selbst wenn er sein Leben
opferte, würde er nicht darüber sprechen. Das ist eine seht schwierige Frage,
würde ich sagen. Wenn ihr Gott oder den Gott im Menschen liebt, so ist das eine
Beziehung zwischen euch und Gott in ihm und zu sonst keinem. Ihr müßt sie
entwickeln. Dazu braucht ihr Ausdauer. Und es braucht Zeit. Die einzige Aufgabe
des Dieners ist es, seine Arbeit zu verrichten. Es ist die Aufgabe des
Meisters, sich darum zu kümmern, was er ihm geben muß. Einmal
erhielt Guru Har Govind, der sechste Guru der Sikhs, ein sehr schönes
Araberpferd geschenkt. Guru Har Govind sagte, wer ihm aus dem Jap Ji vortrüge
und während dieser Zeit an nichts anderes dächte, dem würde sein Herzenswunsch
erfüllt. ein Mann trat vor und sagte, daß er vortragen wolle. Er begann damit
und als er zum ende kam, dachte er sich: „Ich möchte wissen, was mir der Guru
geben wird.“ Er erinnerte sich an das Araberpferd, das man dem Guru geschenkt
hatte und meinte, daß er es bekommen müsse. Als er mit dem Vortrag fertig war,
ließ der Guru ihm das Pferd geben. Dann wandte er sich an den Mann und sagte:
„Du Armer, du wußtest nicht, was ich dir geben wollte. Ich wollte dir meinen
eigenen Platz geben.“ Es ist nicht eure Sache, die Dinge zu bewerten und zu
verlangen, was ihr gerne möchtet, sondern es ist seine Sache, sich darum zu
kümmern, was wirklich zu eurem Besten ist. Wie
könnt ihr Liebe entwickeln? Entwickelt zuerst einfach die Eigenschaften des
Meisters. Wenn er ein guter Maler ist, lernt malen. Wenn er ein guter Sänger
ist, dann lernt singen. Unser Meister ließ zum Wohle der Allgemeinheit Brunnen
graben. So begannen die Menschen, für ihn Brunnen zu graben, und er war
erfreut. Er wollte selbstlose Diener, die ihm gegenüber nie ein Wort darüber
verloren, was sie für den Meister taten. Er war ein Mensch, der ganz offen
seine Meinung sagte. Zu denen, die zu ihm kamen und gestanden: „Meister, ich
habe diese oder jene Sünde begangen“ sagte er: „In Ordnung“ und vergab ihnen.
Wer aber seine Fehler vor ihm verbarg, der zog den Kürzeren. Wenn wir zum
Meister gehen, denken wir immer, daß er nichts weiß. Aber tief im Herzen weiß
er, was wir denken. Wie ich euch gestern schon sagte, sieht er wie in einem
Glasgefäß, was in uns ist. Auch wenn ihr versucht, es zu verbergen – er sieht
es dennoch. Wir sollten daher mit ganz reinem Herzen zum Meister gehen, ihn
lieben und verehren. Dann wird er euch natürlich sein eigenes Selbst geben. So
können wir die Liebe zum Meister entwickeln – zu Gott in ihm. Ihr solltet
versuchen, die Eigenschaften, die er in sich entwickelt hat, in euch zu
entfalten. Welche Eigenschaften sind das? Er will Liebe – keine Schau – und
unbedingten Gehorsam gegenüber seinen Worten. Wenn er einmal etwas sagt, dann
gehorcht ihm. Gehorcht ihm wortwörtlich. Während ihr diese Eigenschaften
entwickelt, werdet ihr immerzu liebevoll an den Meister denken – innen und auch
außen. Es ist des Meisters Aufgabe, sich um das zu kümmern, was er euch zu
geben hat. Er ist nur gekommen, um Leben zu geben. Das ist seine einzige
Aufgabe. Er ist Leben, Licht und Liebe. Diese Werte kann er euch nur geben,
wenn ihr dafür empfänglich seid und nichts mehr zwischen euch und ihm steht.
Die Eigenschaften Gottes spiegeln sich in ihm wider. Wenn ihr sie einfach auf
euer eigenes Leben übertragt, wird euch der Meister und Gott in ihm lieben. Wie
Christus sagte: „Wer mich liebt, den liebt der Vater, und wen der Vater liebt,
dem offenbare ich mich.“ Alle meister haben dasselbe gesagt. |